Ultralativ: Die Stimme der Vernunft im YouTube-Wahnsinn
Paul Schulte und Fynn Kröger veröffentlichen auf ihrem YouTube-Kanal „Ultralativ“ Videoessays über „YouTube, das Internet und den ganzen absurden Rest“. In den zurückhaltend animierten Videos beschäftigen sie sich unter anderem mit dem EU-Urheberrecht, der Vorbildfunktion von Influencern oder den Machtverhältnissen auf YouTube. Zusätzlich informieren die beiden Studenten in der „Wochenschau“ über aktuelle Ereignisse aus dem YouTuber-Universum und liefern so eine fundierte und trotzdem leicht konsumierbare Medienkritik.
„Ultralativ“ ist für den Grimme Online Award 2019 in der Kategorie Wissen und Bildung nominiert. Im Interview sprechen die beiden Gründer Fynn Kröger und Paul Schulte über den Entstehungsprozess ihrer Videos und darüber, was sie an der aktuellen YouTube-Landschaft stört.
Der Name „Ultralativ“ klingt nach einem hohen Anspruch. Wie kam es zu dem Namen?
Fynn Kröger: Uns ist auch irgendwann aufgefallen, dass der Name ein bisschen über allem stehend wirkt. In der Vergangenheit gab es eine Handvoll Interpretationen, die alle ganz intelligent und cool sind – aber eine bestimmte Absicht haben wir mit der Namensgebung nicht verfolgt. Als wir alles in die Wege geleitet hatten, waren wir unkreativ. Zu dem Zeitpunkt fanden wir den Poetry-Slammer Jan Philipp Zymny cool und haben immer ein Piece von ihm rezitiert. Dort wird der Ultralativ als grammatikalische Besonderheit bezeichnet. Wir haben uns dann einfach irgendwann entschieden, den Kanal so zu nennen.
Wie verteilt ihr die Rollen bei euren Videos?
Paul Schulte: Im Prinzip hört man denjenigen, der das Skript geschrieben hat. Es gibt einzelne Skripte, die wir gemeinsam schreiben, dort hört man uns auch mal beide. Für den visuellen Part ist Fynn zuständig, er macht die Animationen für die Videos. In den letzten Monaten hat man hauptsächlich Fynn gehört, weil ich eine kreative Schaffenspause eingelegt habe.
Ihr sprecht viele verschiedene Themen an. Wie findet ihr eure Themen?
Fynn Kröger: Der Hauptantrieb ist immer noch Frustration, wie schon bei der Kanalerstellung. Da wir YouTube privat nutzen, stoßen wir halt mehr oder weniger zwingend auf Themen. Diese können einen entweder frustrieren, begeistern oder interessieren. Niemand erklärt wirklich, wieso Teile von YouTube so schädlich oder hinterlistig sind – zum Beispiel, wenn sich ein YouTuber homophob äußert oder seine Zuschauer manipuliert. Außerdem haben wir entdeckt, dass wir ein ganz großes Interesse für Themen haben, die vielleicht nicht auf den ersten Blick auf der Hand liegen. So zum Beispiel Framing, Priming oder wie das Internet als Wirtschaftssystem funktioniert.
Paul Schulte: Es funktioniert wie bei einer klassischen Hausarbeit. Das Thema kann aus vielen verschiedenen Richtungen auf einen zukommen. Bei mir kam es auch schon über meinen Studiengang, dass ich Theorien oder Konzepte kennengelernt habe, die ganz gut auf bestimmte Sachen anwendbar sind.
Fynn Kröger: Wir studieren relativ verschiedene Studiengänge, daher haben wir verschiedene Perspektiven auf dasselbe Thema. Das hat in vielen Fällen dafür gesorgt, dass wir im deutschen Raum eine einmalige Sicht auf ein Thema gezeigt haben. Wir haben weniger das Interesse, ein aktuelles Thema, welches von allen Seiten gleich besprochen wird, auch noch auf dieselbe Weise zu besprechen. Wenn wir über ein Thema sprechen, dann aus der eigenen Perspektive oder aus der Sicht der Sozial- oder Medienwissenschaft. Manchmal sind wir die ersten, die ein Thema aufschlagen. Das Thema der Social Bots und wie diese auf psychologischer Ebene funktionieren, habe ich aus meinem Studium transferiert. So etwas gab es in dieser Form noch nicht.
Ihr beschäftigt euch viel mit der YouTube-Landschaft. Gibt es im Moment etwas, was euch stört?
Fynn Kröger: Da es gerade wieder aktuell ist: das Thema „Drachenlord“. Das Thema ist einfach absolut katastrophal. Wir haben uns bewusst entschieden, nichts dazu zu machen. Leider gibt es in der deutschen YouTube-Landschaft einige große Gestalten, die es nicht so sehen. Die füttern das Problem nur mit mehr Aufmerksamkeit; auf diese Leute aus der deutschen Internet-Community, die für dieses Thema erhöhte Aufmerksamkeit erzeugen, kann man nicht stolz sein. Was vielleicht ein wenig lustiger ist, weil man es ein wenig humorvoller angehen kann, sind Verschwörungstheorien.
Paul Schulte: Das ist ein Thema, mit dem wir uns seit Ewigkeiten beschäftigen wollen und zu dem wir zurzeit überlegen, wie wir es am besten angehen.
Ihr habt jetzt einige Themen angesprochen, die euch nicht gefallen. Gibt es denn auch positive Entwicklungen?
Paul Schulte: Ich habe das Gefühl, dass sich tatsächlich durch funk, aber auch durch andere Kanäle, einige positive Sachen entwickelt haben. Unter anderem, dass es neue populäre Inhalte auf YouTube gibt, die in die Richtung Fiktion, Gesellschaft und Politik gehen. Das hat mir persönlich ganz stark auf YouTube gefehlt. Die Diskussion über die Urheberrechtsreform hat auch dazu geführt, dass andere YouTuber ein größeres politisches Bewusstsein entwickelt haben. Sie haben gemerkt, dass sie über dieses Thema reden können, ohne von ihren Zuschauern dafür gehasst zu werden.
Fynn Kröger: Wenn wir die heutige YouTube-Zuschauerschaft vergleichen mit derjenigen damals, als wir angefangen haben – da war die Community damals quasi extrem „stumpf“. Sie haben viele Dinge nicht hinterfragt. Es hat in den letzten Jahren eine gewisse Form von Selbstreflexion stattgefunden.
Paul Schulte: Einige Teile des YouTube-Publikums sind auch einfach deutlich älter geworden und haben deshalb angefangen, mehr zu reflektieren. Dabei muss man sagen, dass wir einige bescheuerte Sachen auf YouTube auch gar nicht mehr mitkriegen. YouTube hat den Algorithmus so sehr abgewandelt, dass man wirklich in seiner eigenen Blase drinsteckt. Das war vor einiger Zeit noch ganz anders.
Ihr sprecht auch viel über konkrete Personen. Wie reagieren diese?
Fynn Kröger: Am Anfang haben wir unsere Videos stärker über konkrete Fälle gemacht. Da waren wir noch nicht so groß, wie wir es jetzt sind. Wenn wir zum Beispiel ein Vorschaubild kritisiert haben, weil es viel zu überzeichnet war, da wurde ein Vorschaubild schon mal geändert, ohne dass es auf uns zurückzuführen war. Die größte Reaktion auf eines unserer Videos war von KsFreak, der sich vor zwei Jahren in einem Instagram-Livestream über uns aufgeregt hat. Er hat ganz wirre Sachen gesagt, die ihm bis heute vorgehalten werden. Mittlerweile hat er sich dafür entschuldigt. Vielleicht sehen manche die Videos, aber stellen sich der Kritik nicht oder äußern sich nicht. Das ist schwer nachzuvollziehen.
Paul Schulte: Wir hatten auch einmal den Fall mit Lukas Rieger, der sich zu einem Video auf Snapchat geäußert hat. Danach kam ein gewisser Gegenwind von seiner Community, die unsere Kommentare geflutet haben.
Fynn Kröger: Eine weitere eher lustigere Sache ist, wo wir über eine Praktik des Marketings auf YouTube gesprochen haben. Dort tut man so, als würde man Videos von kleinen Kindern hochladen, die peinliche Dinge tun. Also quasi kleine virale Hits mit ganz amateurhaften Vorschaubildern und Titeln. Aber letztendlich ist es ein Typ, der das Videospiel Overwatch spielt und sich über Fail-Videos lustig macht. Derjenige, den wir da hauptsächlich im Blick hatten, hat dann ein Video hochgeladen, wo er unser Logo ausdruckt und in seinem Garten anzündet oder Dart-Pfeile darauf wirft. Wenn jemand so darauf reagiert, dann spricht das für sich.
Seid ihr denn zufrieden mit den Reaktionen, die zurückkommen?
Fynn Kröger: Das kommt ein wenig auf das Thema an. Bei den gefaketen Amateurvideos, da wissen die Leute ganz genau, was sie tun. Das ist für sie offensichtlich okay, die wachen nicht auf und denken: „Das ist ja eigentlich eine ziemlich dumme Idee. Ich lasse das mal lieber.“ Dementsprechend widmen sich diese Videos eher den Zuschauern, die dann eben die Schlüsse ziehen sollen. Es gibt aber auch Videos, die sich an die YouTube-Community richten. Dabei handelt es sich aber eher um allgemeine Themen. Gerade ist ein Video in Arbeit, wie man als YouTuber beziehungsweise Influencer mit der eigenen Community umgeht und wie leicht man in einen Bestätigungszyklus hineingeraten kann. Bei solchen Videos ist unser Augenmerk eher darauf gerichtet, dass die YouTuber, die uns zuschauen, eben auch selbst darüber nachdenken und sich darüber äußern.
Um das Video anzuzeigen, ist ein Verbindungsaufbau zu YouTube erforderlich. Durch YouTube werden bei diesem Vorgang auch Cookies gesetzt. Details entnehmen Sie bitte der YouTube-Datenschutzerklärung.
Das Interview führte Fabian Steyer.
Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen und Seminaren im Bachelor-Studiengang Online-Redaktion an der TH Köln.
Liebe für die beiden.