Annäherungen im Endlichen: Der Netzblick auf die Nominierungen für den 55. Grimme-Preis
Tangenten nähern sich bekanntlich im Unendlichen an. Fernsehen und Internet scheinen es eiliger zu haben, blickt man aus der Netzperspektive auf die Nominierungen für den 55. Grimme-Preis. (Ehemalige) Netzgrößen zeigen sich hier in Fernsehformaten, verbreiten sich in Sozialmedien, neue Erzählformen etablieren sich und/oder das Fernsehen blickt seinerseits auf das Netz. Motto: Medienkonvergenz jetzt!?
Fernsehtauglich und einer Nominierung würdig findet die „Kinder & Jugend“ Jury des Grimme-Preises etwa das „Bohemian Browser Ballett“ (Steinberger Silberstein für SWR/funk), das im vergangenen Jahr bereits mit seinem Facebook-Kanal für den Grimme Online Award nominiert war: Mal karikiert es Investigativmagazine bei der Aufdeckung der großen Brötchenverschwörung, mal dreht es gängige Klischees durch den Wolf, wenn Deutsche als „Netzflüchtlinge“ ihre Heimat verlassen (wollen), weil die Netzabdeckung immer noch mangelhaft ist – und überhaupt wurden die Neuankömmlinge mit falschen Versprechungen hierhin gelockt, auch sie wollen daher immer öfter zurück: „Pah, 5G, alles leere Versprechungen!“ Inhaltlich ist das immer unterhaltsam, häufig ziemlich schräg, dabei vielfach medienkritisch, kommt aber mit großer Leichtigkeit daher und produziert regelmäßig Bewegtbild (und mehr) zu Themen, die für Jugendliche und junge Erwachsene relevant sind (oder vielleicht sein sollten).
Hubertus Koch kann sich in diesem Jahr nicht nur über eine Nominierung für sein YouTube-Format „Einigkeit & Rap & Freiheit: Das ist RAP“ (Sendefähig für RB/ebenfalls für funk) freuen, wo er sich mit Deutschrap, dem Heimatbegriff und der gesellschaftlichen Verantwortung des Einzelnen beschäftigt, sondern gleich noch über eine weitere Spezialnominierung – für „seine herausragende Autorenleistung, seinen eigenwilligen Stil und das gekonnte Verknüpfen von politischer Berichterstattung mit popkulturellen Inhalten“, so die Kommission „Kinder & Jugend“. Auch er hat diese Leichtigkeit, die im Netz scheinbar einfacher entsteht, als im Linear-TV. Und überhaupt: Wo ist hier noch Platz für derartige „Musikformate“, die gekonnt Popkultur und Politik verknüpfen?
Ganz anders die fiktionale Webserie „Wishlist“ (Outside the Club für RB/MDR Sputnik/funk), die sich um eine buchstäblich „herausfordernde“ App dreht und immer wieder die Frage stellt: Wo ist Deine Grenze? 2017 hat die erste Staffel bereits einen Grimme-Preis gewonnen, die zweite Staffel der Webserie erhält in diesem Jahr erneut die Chance. Wir sind gespannt, ob die Fortsetzung in der Version“2.0″ eine Fortsetzung im Preis erfährt, quasi die Serie zur Serie!
Stichwort Serie: Die fünfte funk-Produktion bei den Nominierungen ist „Druck“ (Bantry Bay für ZDF/funk, auf YouTube verfügbar). Die deutsche Adaption der erfolgreichen norwegischen Jugendserie „Skam“ ist ebenfalls nominiert in der Kategorie „Kinder & Jugend“. Besonders interessant ist hier das Online-Konzept: Die Story rund um die Mädels-Crew von Hanna, Mia, Kiki, Sam und Amira wird plattformübergreifend auch bei Instagram und WhatsApp vorangetrieben.
Zum ersten Mal in diesem Jahr dabei und medial immer wieder eine Überschrift wert: Produktionen des derzeit noch kostenpflichten YouTube Premium Kanals (was sich zukünftig aber noch ändern könnte, berichtete etwa DWDL.de). Hier versucht die YouTube-Tochter mit eigenproduzierten Inhalten zu überzeugen – und das scheint gelungen. So wurde – ebenfalls in der Kategorie „Kinder & Jugend“ – das Interviewformat des Grimme-Online-Award-Publikumspreisträgers LeFloid (2014) ausgewählt: „LeFloid VS. The World“ (Studio71 für YouTube), für das der ehemalige „Anchorman des Web“ buchstäblich um die Welt reist – raus aus dem Studio, weg von der übliche Webvideo-Optik. Zudem nominierte die Kommission in der Kategorie „Unterhaltung“ die Produktion „Neuland“ (BRAINPOOL für YouTube). Hier feiert Ex-Y-TITTY Phil Laude in einem fiktionalen Format seine Rückkehr auf den Screen als Talkmaster – im Konkurrenzkampf mit „The Hoff“.
Eine Spezialnominierung in der Kategorie „Information & Kultur“ erhielt das Team von „Docupy“ für das Gesamtkonzept der Sendereihe „Die Story: Ungleichland – Reichtum, Chancen, Macht“ – vor allem für das zukunftsweisende Online-Konzept (btf für WDR), welches sie im vergangenen Jahr noch in den Wettbewerb des Grimme Online Award spülte. Hier bilden erstmals Doku- und Online-Autoren aus WDR und btf eine eigene Redaktion zu einem Thema: „Ungleichland“ (und jetzt „Heimat“, wie beim letzten „Social Community Day“ deutlich wurde). Durch die Veröffentlichung einzelner Sequenzen als Webvideo wurde auf YouTube zunächst eine interessierte Community aufgebaut, noch bevor die Filme ausgestrahlt wurden – online first. In der Reihe „Money Talks” etwa kommen unterschiedliche Menschen über die Themen Vermögen und Einkommen miteinander ins Gespräch. So unterhält sich beispielsweise Schauspieler Lars Eidinger mit Komparsin Nele Glier über die ungleiche Bezahlung am Set – und erreichte damit über 1,1 Millionen Menschen. Danach nutzten die User initiativ das Hashtag #Ungleichland, um ihre eigenen Gehälter öffentlich zu machen. Diese Informationen wiederum flossen in die Fernseh-Dokumentationen ein.
Jahr für Jahr scheint Jan Böhmermann den Nerv der Nominierungskommission zu treffen, der ja auch beim Grimme Online Award schon für Furore gesorgt hat. Nach den Datenskandalen bei Facebook und anderen ist die Neuauflage seiner „PRISM is a Dancer Show“ (btf für ZDFneo) möglicherweise die richtige Antwort auf die Fragen der Zeit – und der Nominierungskommission eine Nominierung in der Kategorie „Unterhaltung“ wert. Unter dem Hashtag #LassDichÜberwachen veröffentlichen Jan Böhmermann und sein Team anderthalb Stunden lang „Geheimnisse“ seines Publikums – verstreute Posts, vermutliche längst vergessene Zeugnisse des eigenen Lebens im Netz. In der Folge mutiert das Publikum zu regelrechten Teilnehmern, jeder und jede eine/n KandidatIn. Die Reaktionen unter den Anwesenden zeigen: Das ist nicht immer ganz gewollt, es wird gelacht, kommt aber auch nicht unerwartet, ist das Prinzip der Show doch bekannt und wird mit Sachpreisen beim Publikum versucht, etwas erträglicher zu machen. Egal wie: Medienpädagogik war vermutlich noch nie so unterhaltsam!
Eher kriminelle Netzkultur(en) bildet dagegen der Cyber-Thriller „Hackerville“ (UFA Fiction/mobra films für TNT Serie) über rumänische Computer-Kids ab, der in Kooperation mit dem Pay-TV-Sender HBO Europe entstand. Und, in der Netzwelt schon viel diskutiert: „Im Schatten der Netzwelt – The Cleaners“ (gebrueder beetz filmproduktion/Grifa Filmes/I Wonder Pictures für WDR/NDR/RBB) taucht ein in die Welt der Content-Moderation. In Manila löschen zehntausende Menschen im Auftrag der großen nordamerikanischen Konzerne belastende Fotos und Videos aus den sozialen Netzwerken – nach Kriterien und Vorgaben, die weitgehend intransparent sind. „The Cleaners“ zeigt, was das mit den Menschen macht, also den Moderatorinnen und Moderatoren. Ausgeleuchtet werden die Bereiche, die einen manchmal zweifeln lassen an der Onlinesphäre – die „nicht so gute“ Seite des Netzes, die keinen Preis verdient hat.
Nochmal in Zahlen: Mehr als 850 Einreichungen hat es gegeben, 70 Produktionen oder Leistungen bestimmter Persönlichkeiten sind jetzt für den Grimme-Preis 2019 nominiert worden. Am 26. Februar werden die Preisträger bekannt gegeben, am 5. April ist die Preisverleihung.
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