Im Austausch über Literatur
Sieglinde Geisel ist hauptberuflich Journalistin und Autorin. Am leidenschaftlichsten aber ist sie Leserin. Im Jahr 2016 gründete sie gemeinsam mit einem Team aus sechs Köpfen ein Kulturmagazin im Internet. Nur ein Jahr später ist „tell – Magazin für Literatur und Zeitgenossenschaft“ in der Kategorie „Kultur und Unterhaltung“ für den Grimme Online Award nominiert. Im Interview erzählt Sieglinde Geisel, wie die Medienkrise sie dazu bewogen hat, das Magazin zu gründen und welche Möglichkeiten das Internet im Vergleich zu Printmedien bietet.
Warum haben Sie ein Online Magazin gegründet und kein Printmedium?
Das Interessante heute ist, dass es noch nie so einfach war, ein Medium zu gründen. Es war wahrscheinlich aber auch noch nie so schwierig, mit Journalismus Geld zu verdienen. In diesem Zwiespalt stecken wir. Ich schätze die Möglichkeiten sehr, die das Internet bietet. Ich habe mich immer gewundert, wie zögerlich die traditionellen Medien begonnen haben, diese Möglichkeiten zu nutzen. Man wurde keineswegs mit offenen Armen empfangen, wenn man Lust hatte auf Internet und soziale Medien. Das hat mein Berufsstand lange ein bisschen belächelt. Meiner Meinung nach ist das ein Irrtum. Ich schätze die Flexibilität und Schnelligkeit des Internets enorm. Man kann mit vergleichsweise wenig Aufwand viel produzieren, und man kann auch lange Texte veröffentlichen. Der Übersetzer Frank Heibert etwa hat für „tell“ zwei lange Texte zum Roman „Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara geschrieben: eine Stilkritik und eine Übersetzungskritik. Beides ist bei unseren Lesern auf ein lebhaftes Interesse gestoßen. Es gibt ein Bedürfnis nach dieser Art genauer Analyse, doch das ist in kaum einem anderen Medium möglich.Solche Texte kriegen Sie in keiner Zeitung unter. Doch auf „tell“ haben wir diese Freiheit – deshalb bin ich jeden Tag froh, dass ich dieses Magazin gegründet habe.
Und dann ist „tell“ auch ein Forum für das Gespräch über Texte. Im traditionellen Journalismus kann man sich diese Zeit kaum nehmen: Oft werden Texte ohne Rücksprache mit dem Autor gekürzt und redigiert. Gerade bei den langen Texten gibt es bei „tell“ einen intensiven Redaktionsprozess: Oft geht es mehrere Male hin und her, bis alle zufrieden sind. Dabei bekommt man von den Anderen Anregungen, auf die man selbst nie gekommen wäre.
Was war Ihre Absicht, als Sie „tell“ gegründet haben?
Die Medienkrise bekommen alle zu spüren: durch das Gefühl, dass es immer enger wird, dass viele Zeitungen Stellen abbauen und es immer weniger Möglichkeiten gibt – und dass alle darüber jammern, dass es immer schlimmer werde. In einer Krise hat man zwei Möglichkeiten: Man kann sich schützen oder man kann lernen. Bei den großen Medien habe ich wenig Lust gefunden, zu lernen, was auch mit dem steigenden Stresspegel zu tun hat. Ich habe gemerkt, dass ich nur eine Chance habe, wenn ich selber etwas mache.
Was mich außerdem dazu bewogen hat, „tell“ zu gründen, ist ein Unbehagen in der Literaturkritik. Ich vermisse Stilkritik, auch bei der professionellen Kritik in den Feuilletons. Man erfährt oft, was in einem Buch steht, aber wie ein Roman geschrieben ist und warum er etwa „brillant erzählt“ sei, erfährt man meistens nicht. Doch genau darum geht es bei der Literaturkritik. Mit „tell“ möchte ich daher auch die Diskussion um die Stilkritik wieder in Gang bringen. Dafür habe ich auch eigene Formate entwickelt, zum Beispiel den „Page-99-Test“, wo wir eine einzelne Seite unter die Lupe nehmen und stilistisch analysieren. Ich staune jedes Mal, was dabei herauskommt. Beim Page-99-Test hat der Kritiker keinen Lesevorsprung, jeder kann hier mitreden. „Tell“ ist auch ein Medium des Dialogs: Mir geht es um den Austausch mit anderen Lesern.
Gibt es ein festes Team hinter „tell“? Wenn ja, wie hat dieses zusammengefunden?
Ich wollte etwas machen, worauf ich Lust habe – aber ich wollte es nicht alleine machen. Allerdings musste ich feststellen, dass die meisten meiner Freunde mit Multimedia, Facebook und Twitter nichts zu tun haben wollten. Das ist auch ein Generationenproblem. Im Sommer 2015 gab es dann im „Perlentaucher“ eine Debatte über Literaturkritik im Netz, die Wolfram Schütte angeregt hatte. An dieser Debatte beteiligten sich zwei Dutzend Leute und ich dachte: Jetzt ist meine Stunde gekommen, jetzt habe ich die Leute beisammen. Ich schrieb alle an, die sich an der Debatte beteiligt hatten und lud sie, zusammen mit ein paar Literaturbloggern und dem Übersetzer Anselm Bühling, einem alten Freund, im Juli 2015 zu einem ersten Treffen ein. Am Ende blieben fünf, sechs Leute, die mit mir und Anselm Bühling ein Online-Magazin machen wollten. Es ist kein Zufall, dass keine Profis aus dem Literaturbetrieb darunter sind: Viele Profi-Kritiker haben Berührungsängste, sie wollen auf keinen Fall mit so etwas wie einem Blog in Verbindung gebracht werden.
Wir trafen uns dann alle ein bis zwei Wochen und diskutierten, was wir überhaupt machen wollten, wie die Website aussehen soll, mit was für Beiträgen wir sie füllen wollen. Zur Leipziger Buchmesse 2016 gingen wir dann an den Start. Wir sind also einerseits ein festes Team. Gleichzeitig sind wir aber offen für Gastbeiträge und wir bekommen auch immer wieder sehr schöne Sachen angeboten. Das sind oft Vorschläge, die ich nie in Auftrag geben könnte, weil ich die Idee gar nicht habe.
Bei Ihnen sind Diskussionen erwünscht. Fördert das von Ihnen ausgewählte Format eine solche Diskussion?
Das gehört zu den Dingen, die wir ständig weiterentwickeln. Natürlich kann man auf „tell“ einfach Kommentare schreiben. Es ist aber auch möglich, dass sich aus den Kommentaren ein neuer Beitrag entwickelt, der dann im Idealfall eine Debatte auslöst. Die Diskussion findet nicht nur auf „tell“ statt, sondern auch bei Facebook und auf Twitter. Wir nutzen alle Kanäle. Ich würde das natürlich gerne im physischen Leben fortsetzen, denn langfristig müssen sich online und offline ergänzen. Bei der Frankfurter Buchmesse haben Frank Heibert und ich im letzten Herbst beispielsweise einen „Page-99-Test“ live gemacht. Das ist ausbaufähig, wir sind da immer noch am Anfang.
Wie soll es mit Ihrem Projekt weitergehen?
Langfristig soll „tell“ ein Medium werden, das Honorare zahlen kann. Wir bekommen freiwillige Unterstützungsbeiträge von Lesern. Das hilft uns, die laufenden Kosten zu decken. Wir hatten uns entschlossen, zuerst ein überzeugendes Produkt zu entwickeln. Die Finanzierung ist der nächste Schritt. Es gibt dafür verschiedene Möglichkeiten, die alle Zeit und Kraft kosten: Das geht von einer Kampagne auf der neuen Crowdfunding-Plattform „Steady“ über Kooperationen mit anderen Online-Medien bis zur Suche nach Sponsoren. Die Medienwelt befindet sich in einer Umbruchszeit, in der mit verschiedenen Modellen experimentiert wird. Wer weiß, wie diese Welt in zehn Jahren aussieht.
Das Interview wurde geführt von Erika Walter und Manuela da Silva Araújo.
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Die Interviews mit den Nominierten und die Videos sind im Rahmen eines Medienpraxis-Seminars an der Universität zu Köln entstanden.
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