„Man kann nicht jedem helfen, aber jeder einem Menschen.“
Seit 2012 wächst das autonome Flüchtlingscamp in Calais stetig und bietet den derzeit circa 4.000 Geflüchteten einen Unterschlupf. Sie versuchen von dort aus, nach Großbritannien zu kommen und riskieren bei der Weiterreise – mit Sprüngen auf Züge oder bei LKW-Überfahrten – tagtäglich ihr Leben. Hammed Khamis ist Autor und Streetworker in Deutschland und reiste im Sommer 2015 für 12 Tage in die französische Stadt, um effektive Hilfe zu leisten. Er erfuhr am eigenen Leib, was es heißt, Flüchtling zu sein, sich durch das Leben zu kämpfen und nicht gebilligt zu werden. Die zahlreichen Erlebnisse und Begegnungen hält er in seinem Blog „In den Dschungel von Calais“ im Online-Magazin seinsart fest. Er schreibt packende und emotionale Tagebucheinträge, die von Bildern und Videos ergänzt werden. Für seine Arbeit ist er in der Kategorie Information für den Grimme Online Award 2016 nominiert.
Wie kamen Sie auf die Idee, sich in den „Dschungel von Calais“ zu begeben?
Hier in Berlin werde ich manchmal gefragt, ob ich in einem Flüchtlingslager übersetzen kann. Da meine Muttersprache arabisch ist, helfe ich dort gerne aus und lerne viele unterschiedliche Menschen kennen. Einer von ihnen war so unglaublich dankbar für meine Übersetzung, dass mich das sehr berührt hat. Mir ist in diesem Moment klar geworden, dass selbst solche kleinen Dinge etwas bewirken können. Daraufhin wollte ich wissen, welche anderen Möglichkeiten es gibt, um zu helfen. Ich wollte noch mehr tun, habe mich in das Thema eingearbeitet und bin auf das Flüchtlingscamp von Calais gestoßen. Dort wollte ich hin. Aber die ersten Redaktionen die ich angefragt habe, wollten einen unbekannten, kleinen Journalisten wie mich nicht unterstützen. Das hat mich einerseits verletzt aber andererseits auch herausgefordert. Ich wollte zum einen meine Neugier auf den „Dschungel“ befriedigen und zum anderen die Möglichkeit haben, irgendetwas für die Menschen dort tun zu können. Glücklicherweise hat der Chefredakteur vom Seinsart Magazin mir vorgeschlagen, einen Blog über meine Reise zu schreiben. Also habe ich meine Kamera eingepackt und bin einfach aufgebrochen, ohne zu wissen wo ich schlafe, wem ich begegne und was mich dort genau erwartet.
Wie war das Feedback, als Sie mit dem Blog begonnen haben?
Nach den ersten Blog-Einträgen, die ich von Calais aus geschrieben habe, kamen auf einmal Leserbriefe. Nicolas Flessa, mein Chefredakteur, der meine Texte redaktionell bearbeitet und die Bildauswahl getroffen hat, hat mir diese dann regelmäßig weitergeschickt. Sie haben mich zum Teil sehr bewegt und ich habe auf einmal gespürt, dass die Menschen meinen Blog lesen und mitverfolgen. Nach einer Weile kamen auch eigene Vorschläge und Initiativen von meinen Lesern. Ein Mädchen hat mir zum Beispiel geschrieben, dass sie sich auch engagieren will, ihre Freunde einpacken wird und nach Calais kommt. In solchen Momenten wusste ich, dass sich das Ganze gelohnt hat und ich etwas richtig mache. Gerade wenn man jeden Tag so viel Leid erlebt und erträgt, gibt einem so eine Rückmeldung wieder unglaublich viel Kraft, um weiterzumachen.
Welche Menschen sind Ihnen auf der Reise begegnet?
Es gab da einen schuhlosen eritreischen Jungen namens Mima. Wir haben uns oft am gleichen Platz getroffen, ich habe ihm ein Bier oder etwas zu Essen ausgegeben und wir haben viel geredet. Dieser Junge ist mir sehr ans Herz gewachsen und ich war kurz davor, ihn mit zurück nach Deutschland zu nehmen. Aber Mima war fest davon überzeugt, dass er es über die Gleise, auf einen Zug schafft und in England ein neues Leben beginnen kann. Auf diesen Gleisen haben schon so viele ihr Leben verloren und es werden täglich mehr. Aber für die Menschen dort ist die Hoffnung auf ein gutes Leben größer als die Furcht vor dem Tod. Als ich nach mehreren Monaten noch einmal nach Calais aufbrach, war ich fest entschlossen Mima dort wegzuholen, doch als ich da war, war er fort. Es gab nur zwei Möglichkeiten: den Tod oder England. Die Ungewissheit hat mich fertig gemacht. Ich ging zu unserem Platz und habe auf ihn gewartet, aber er kam nicht. Als ich dann wieder in Deutschland war, hat ein Fernsehsender einen tollen Bericht über das Projekt gemacht. Den Bericht habe ich in eine Facebook-Gruppe von Calais hochgeladen und die zweite Person, die sich daraufhin bei mir gemeldet hat war Mima. Er ist zum Glück wohlauf und lebt jetzt in London.
Inwiefern kann ein Einzelner etwas tun um den Flüchtlingen zu helfen?
Es gibt viele Möglichkeiten zu helfen. Bevor ich ein zweites Mal nach Calais losgezogen bin, haben wir mit einer Freundin zwei Lastwagen organisiert und mithilfe von vielen anderen hilfsbereiten Menschen Spenden gesammelt. Kurz bevor wir loswollten, kam ein junger Mann auf mich zu. Er hatte einen alten, großen Stoffhasen dabei und einen weiten Weg auf sich genommen um mir diesen Hasen zu übergeben. Er hätte zwar kein Geld, sagte er, aber er hätte meinen Blog verfolgt und müsse etwas dazu beitragen: „Meine Tochter hatte sehr viel Freude daran und ich würde mir wünschen, dass du ein Mädchen findest, dem dieser Hase genauso viel Freude bereiten kann!“ Ich gab ihm mein Versprechen und inzwischen macht der Stoffhase ein kleines Flüchtlingsmädchen sehr glücklich. Diese Spende war etwas ganz Besonderes und mir persönlich sehr wichtig, denn sie zeigt, dass jeder etwas zu der Situation beitragen kann – man muss es nur wollen. Wenn du losziehst, hilfst du vielleicht ein paar Hundert Leuten, vielleicht auch ein paar Tausend. Und selbst wenn du einem Einzigen eine Cola ausgibst, so hast du schon viel erreicht. Es hat nichts mit der Cola zu tun, sondern mit dem Moment, einfach als Freund und Gesprächspartner, als Mensch da zu sein. Holz sammeln, die Menschen umarmen, mit ihnen reden – das bewirkt mehr, als man denkt.
Was bedeutet die Nominierung für den Grimme Online Award 2016 für Sie?
Es ist für mich einfach unglaublich. Ich habe damit gerechnet, dass vielleicht ein paar Menschen meinen Blog lesen und mich darauf ansprechen. Wenn jemand zu mir kommt und mir sagt, dass er meine Arbeit schätzt und sich dadurch in seinem Denken etwas verändert hat, ist das für mich Auszeichnung genug. Aber ich hätte niemals damit gerechnet, dass meine Arbeit so weite Kreise zieht und ich auf einmal vom Grimme-Institut nominiert werde. Das ist wie ein Ritterschlag für mich, eine große Wertschätzung, die mir Kraft gibt.
Wie könnte sich ein Gewinn des Grimme Online Awards positiv auf das Projekt „In den Dschungel von Calais“ auswirken?
Ich hoffe einfach, dass sich meine Message durch diese Nominierung weiter verbreitet: Man kann nicht jedem helfen, aber jeder einem Menschen. Mir ist einfach sehr wichtig, dass die Menschen sehen, dass man mit wenig Geld – bei mir waren es 175€ für die gesamte Calais Reise – schon sehr viel tun kann. Und wenn durch diese Nominierung noch einmal mehr auf mein Projekt aufmerksam gemacht wird, ich die Menschen zum Nachmachen bewege Schwächeren zu helfen und meine Arbeit gesehen wird, so ist das schon sehr viel wert.
Autorinnen: Johanna Bernhard (Kurzporträt), Valentina Rekowski (Interview)
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Die Interviews mit den Nominierten und die Videos sind im Rahmen eines Medienpraxis-Seminars an der Universität zu Köln entstanden.
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