Geld zieht Ärzte an – eine Recherchearbeit
Im Projekt „Geld zieht Ärzte an“ beleuchten Paul Blickle, Karsten Polke-Majewski, Julian Stahnke und Sascha Venohr von ZEIT ONLINE die Verteilung von Arztpraxen in Deutschland. Die These, dass es in Deutschland dort viele Mediziner gibt, wo viele Privatpatienten wohnen, wird mit statistischen Datenerhebungen, Untersuchungen und Expertenwissen untermauert. Das Projekt behandelt neben der Frage, ob Ärzte dem Geld folgen, auch die Entfernung, die Patienten bis zum nächsten Arzt überwinden müssen, sucht nach weiteren Entscheidungsfaktoren für deren Niederlassung und stellt dar, was arztleere Regionen tun können, um ihre Situation zu verbessern.
Für den Grimme Online Award ist das Projekt in der Kategorie Information nominiert. Im folgenden Interview mit Karsten Polke-Majewski wird erläutert, wie das Projekt zu Stande kam, wie es umgesetzt wurde und welche Probleme gelöst werden mussten.
Wie kamen Sie auf die Idee für das ZEIT-ONLINE-Projekt „Geld zieht Ärzte an“?
Das Projekt ist eine Fortsetzung einer Recherche, die wir 2014 gemacht haben. Damals beschäftigten wir uns mit den vier deutschen Millionenstädten Berlin, Hamburg, München und Köln. Wir wollten wissen, wie sich die Arztpraxen über die verschiedenen Städte verteilen. Dazu haben wir die Adressdaten aller Praxen in diesen Städten gesammelt, sie auf Stadtpläne geworfen und darüber die Bevölkerungsverteilung und die Kaufkraft gelegt. Es hat sich gezeigt, dass sich die Mehrheit der Ärzte dort niederlässt, wo die Kaufkraft hoch ist, und nicht da, wo besonders viele, oft arme Menschen wohnen. Nachdem wir diese Muster in den Daten nachweisen und interaktiv darstellen konnten, haben wir dazu weitere Reportagen und Berichte geschrieben, die erklären, warum sich Ärzte so entscheiden. Nun wollten wir wissen, ob sich diese Recherche auf das ganze Land übertragen lässt und welche Muster sich dann ergeben. Keine ganz leichte Aufgabe.
Wie haben Sie die Idee im Team entwickelt und umgesetzt?
Zunächst stellte sich die Frage, wie wir an die benötigten Daten kommen können. Dabei haben wir mit Wissenschaftlern von der Universität Bielefeld und der LMU in München zusammengearbeitet. Die Wissenschaftler aus Bielefeld haben geholfen, die Adressdaten der Arztpraxen einzusammeln. Dazu war ein aufwendiges Scraping verschiedener Praxis-Verzeichnisse nötig. Anschließend mussten diese Daten bereinigt werden. Beispielsweise unterscheiden sich die genauen Arztbezeichnungen: hier heißt es Internist, dort Arzt für Innere Medizin. Praktisch ist das die gleiche Fachrichtung, die Maschine muss aber erst lernen, das auch so zu erkennen.
Die nächste Frage war: Wie findet man heraus, wie viele Privatpatienten an einem Ort leben? Das ist noch weitaus komplizierter, denn es gibt dazu keine öffentlichen Daten. Aber es gibt Daten über die Anzahl der gesetzlich Versicherten. Doch selbst wenn man ihren Anteil an der Bevölkerung kennt, kann man davon noch nicht automatisch auf die Zahl der Privatversicherten rückschließen. Denn es gibt viele Menschen, die ganz anders krankenversichert sind – Bundeswehrsoldaten beispielsweise. Oder Arbeitnehmer in Grenzregionen, die etwa in Dänemark oder der Schweiz arbeiten und auch dort versichert sind, aber in Deutschland leben. Das Team um Leonie Sundmacher von der LMU München hat jedoch eine Formel entwickelt, mit der sich die Anzahl der privat Versicherten berechnen lässt.
Der nächste große Schritt war dann, all diese Daten zusammenzuführen und sie so darzustellen, dass die Leser sie verstehen können. Dazu haben wir erstmals eine Kombination aus Karten und Grafiken genutzt, die interaktiv miteinander verbunden sind. So ergeben sich für die Leser verschiedene Wege, in das Thema einzusteigen.
Wie war die Resonanz auf „Geld zieht Ärzte an“? Gab es Ärzte, die sich falsch dargestellt gefühlt haben?
Die Resonanz war groß. Natürlich gibt es Ärzte, die sich falsch verstanden fühlen, weil sie denken, wir würden ihnen vorwerfen, sie seien gierig. Das ist aber nicht der Punkt. Vielmehr zeigt unser Projekt anschaulich, was passiert, wenn ein Gesundheitssystem Ärzte zu Unternehmern macht, die natürlich gewinnorientiert denken. Viele Ärzte, die sich meldeten, sagten, dass genau das ihr Problem sei. Zugleich zeigt sich, dass auch Ärzte Arbeit und Privatleben besser in Einklang bringen wollen. Einige Landärzte sagten uns: „Ich habe eine Praxis, ich verdiene gut, muss aber auch 60 bis 70 Stunden dafür arbeiten. Jetzt finde ich keinen Nachfolger, weil das niemand mehr macht“.
Gibt es einen echten Ärztemangel? Oder stimmt einfach die Verteilung nicht?
Das können wir so allgemein nicht sagen. Uns ging es darum zu zeigen, wie Patienten versorgt werden. In manchen ländlichen Gebieten gibt es ganz offensichtlich zu wenig Ärzte, aber auch städtische Regionen sind teilweise schlecht versorgt. Was wir zeigen können, ist, dass es eben nicht von einem Faktor alleine abhängt, dass aber die Kaufkraft einer Region und die Zahl der vermögenden potenziellen Patienten einen hohen Einfluss darauf haben, ob sich ein Arzt dort niederlässt. Und wir können zeigen, wie schwer es ist, neue Ärzte zu gewinnen, selbst wenn man ihnen Prämien zahlt, die Kosten für Praxisräume übernimmt oder kostenlose Kita-Plätze stellt.
Werden Sie „Geld zieht Ärzte an“ weiterführen?
Das Thema begleitet uns weiter. Die Recherche ist aufwendig und die Schwierigkeit bei Gesundheitsthemen ist, dass es zwar große Datenbestände gibt, mit denen wir arbeiten könnten, diese aber oft verschlossen sind. Keine große Institution im Gesundheitswesen hat ein Interesse daran, ihr Wissen in größerem Umfang mit Journalisten zu teilen.
Was bedeutet die Grimme Online Award 2016-Nominierung für Sie?
Der Grimme Online Award ist vielleicht der wichtigste Onlinepreis, den man in Deutschland gewinnen kann. Das möchten wir schon ganz gern. Unser Thema ist sperrig, aber wichtig. Der politische Diskurs im Gesundheitswesen krankt oft daran, dass alle denken, sie wüssten, wie sich die Situation darstellt. In Wirklichkeit werden aber häufig nur schlecht belegte Meinungen verbreitet. Wir wollen dazu beitragen, die Fakten transparent und nachvollziehbar offenzulegen. Auf dieser Grundlage kann man dann diskutieren.
Autoren: Anatoli Becker, Norya Jesse, Michael Meier, Christina Pagés
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Die Interviews mit den Nominierten und die Videos sind im Rahmen eines Medienpraxis-Seminars an der Universität zu Köln entstanden.
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