Die wollen doch nur spielen
Von Bastian Berbner
Seite zehn Jahren in Deutschland: Vice startete in der Nische, setzt auf provokante Aufmachung und ist mit seiner Auslandsberichterstattung längst im Mainstream angekommen.
1994 ist der Kanadier Shane Smith 25 Jahre alt, ein großmäuliger Punk, tätowiert und bärtig, ein Rebell, der noch nicht weiß, dass er zum Revolutionär taugt. Oder, wer weiß, bei seinem Ego, vielleicht weiß er es ganz genau.
Damals gründet er mit zwei Freunden im Rahmen eines Arbeitslosenprojekts das Magazin Voice of Montreal. Ein Punk-Fanzine, jung, wild, ein cooles Produkt für die Nische. Es liegt kostenlos in Galerien, Szenebars, Boutiquen und Plattenläden aus. Es geht darin viel um Sex und Drogen. Was die Jungs eben interessiert. Als sie kurz darauf das „o“ aus dem Namen Voice streichen, scheint das nur folgerichtig. Vice bedeutet auf Englisch „Laster“.
Vice erobert die Welt
Smith ahnt damals nicht, dass zwanzig Jahre später die verunsicherte Medienwelt mit ihren Zukunftsängsten auf Vice schauen wird. Dass sich die Schlachtschiffe der Branche, Fernsehsender und Magazine, aus Angst um ihr Millionenpublikum und ihre Marktmacht bei ihm etwas abschauen wollen. Dass Ruppert Murdoch 2013 für 70 Millionen Dollar fünf Prozent der Anteile kaufen wird. Dass Vice mal 2,5 Milliarden Dollar wert sein und Smith selbst ein auf 400 Millionen Dollar geschätztes Vermögen damit anhäufen wird. Und auch nicht, dass Vice die Welt erobern wird.
Ende der 1990er zieht Vice aus Montreal nach New York. Beim Platzen der Dotcom-Blase rafft es das Magazin fast dahin. Doch danach geht es steil bergauf. Während die Branche in eine Abwärtsspirale gerät, weil sie die Ankunft des Internets verschläft, macht Vice wie selbstverständlich das, was andere fortan nur vorgeben zu tun: die Macher begreifen die Digitalisierung als Chance und nicht als Bedrohung. Heute hat Vice neben dem Printmagazin Dutzende Internetseiten, spezialisiert auf Mode, Musik, Sport. Dazu ganze Fernsehredaktionen. Nirgendwo wächst Vice so sehr wie mit bewegten Bildern.
Eigener Nachrichtenkanal Vice News
Jüngst kam der Internet-Nachrichtenkanal Vice News dazu. Ein Sportkanal ist im Aufbau.
2005 generiert das Printmagazin noch 50 Prozent der Einnahmen. Derzeit sind es noch drei. Vice verdient sein Geld durch Werbung und Sponsoring im Netz. Google, Lufthansa, Intel, Sony, adidas, alle stehen sie Schlange. Auch weil Vice etwas so gut schafft wie niemand sonst: Alle Angebote erreichen ein junges Publikum, die 18 bis 34-Jährigen, die hippen Internationalen, interessiert an Musik, Design, Sport, aber eben auch an Weltpolitik.
Was ist das Erfolgsgeheimnis? Smith sagt: „Während alle anderen mit viel, viel Geld Plattformen im Internet aufgebaut haben, haben sie vergessen sich zu fragen, mit welchen Inhalten sie sie füllen wollen.“ Bei Vice interessiere sie nichts anderes. Die Geschichten sollen so gut, so cool sein, dass die Menschen am nächsten Tag in der Schule, in der Uni, im Büro sagen: Hey, hast du diese Vice-Geschichte gesehen?
Deswegen gehen sie an die Grenze. Oft auch darüber hinaus, sagen Kritiker. Aber natürlich ist ihnen das bei Vice egal. „Jede Geschichte muss weh tun wie ein Schlag ins Gesicht“, sagt Smith. Artikel tragen Überschriften wie: „Ich habe mir Kokain in den Arsch blasen lassen, damit ihr es nicht müsst“ oder „Ich war in einer Blowjob-Bar in Bangkok, Thailand.“
Es gibt Berichte von der Fashion Week Islamabad, aber vor allem aufsehenerregende Videoreportagen. Von der ostukrainischen Front zum Beispiel. Vice fährt mit einer Kamera los, oft nur ein Reporter, und begleitet die kurdischen Peschmerga beim Angriff auf Mosul im Irak, trifft Talibanführer im Pakistan und afrikanische Warlords.
Ein Vice-Film aus Nordkorea machte 2013 weltweit Schlagzeilen. Vice überzeugte den Basketballstar Dennis Rodman, den Diktator Kim Jong Un zu besuchen und sich mit ihm ein Basketballspiel anzuschauen. Und Vice fuhr natürlich mit.
Bewusster Verzicht auf professionelle Distanz
Die Geschichten sind eine Mischung aus Klamauk und Nervenkitzel, nicht selten mit relevantem Kern. Im Vordergrund steht ein starkes Reporter-Ich, durch dessen Augen man die Geschichte erlebt. Der Reporter macht sich oft gemein mit seinen Protagonisten, verbringt viele Tage, manchmal Wochen mit ihnen, taucht in ihr Leben ein bis sie irgendwann vergessen, dass eine Kamera dabei ist. „Immersive Journalism“ nennen sie das. Da spielen dann zum Beispiel Vice-Reporter im Libanon Paintball gegen vier Hisbollah-Kämpfer. Sie kommen ihnen dabei so nahe, dass sie am Ende sogar Details über militärische Strategien erfahren.
Vice hat es geschafft, sich von vielen Regeln zu befreien, die den klassischen Journalismus langweilig erscheinen lassen. Kevin Sutcliffe, Nachrichtenchef von Vice Europa, sagt: „Wir pressen Inhalte nicht in zwei oder drei Minuten. Wenn wir sechs Minuten haben, senden wir sechs Minuten. Wenn wir 36 Minuten haben, senden wir 36 Minuten.“ Denn Nachrichtenjournalismus sei „heute wie ein Fußballspiel von Kindergartenkindern. Wenn der Ball hier ist, sind alle hier. Wenn der Ball dort drüben ist, rennen alle dorthin. Aber es gibt so viele Geschichten dort draußen, wir gehen einfach hin und berichten sie.“
Und als Reporter treten nicht die üblichen mittelalten Männer in Anzügen auf, die in Reporterpose vor Ort stehen, ohne wirklich vor Ort zu sein und die auf die mehr oder weniger suggestiven Fragen ihrer Kollegen im Heimatstudio antworten. Sondern junge Typen, mit Rucksack und Bart, die die Sprache der Straße sprechen, die ihre Protagonisten duzen, sich mit ihnen besaufen und dabei die Kamera laufen lassen.
Vice-Mitarbeiter sind durchschnittlich 28 Jahre alt. Sutcliffe sagt: „Ein 23-Jähriger will die Welt durch die Augen von Gleichaltrigen sehen. Der Reporter muss jung sein, der Kameramann muss jung sein, der Cutter muss jung sein.“ Und damit hat es Vice in den Mainstream geschafft.
Vice kooperiert mit HBO, ProSieben – und dem ZDF
Besonders stolz ist man auf die Kooperation mit dem amerikanischen Fernsehsender HBO, der gerade eine dritte Staffel von Vice-Dokumentationen bestellt hat. In Deutschland senden das ZDF, ProSieben und Spiegel-TV Vice-Filme. Den größten Coup landete Vice im vorigen Sommer. Der Reporter Medyan Dairieh berichtete in einer fünfteiligen Videoreportage aus dem Islamischen Staat. Drei Wochen war er embedded bei den Dschihadisten. Die Konkurrenz reagierte mit Neid und Kritik. Neid, weil es bisher niemand geschafft hatte, aus dem Herzen des Terrorstaates zu berichten. Kritik, weil in typischer Vice-Manier die Einordnung fehlte, die Distanzierung. Das müssen die Zuschauer selbst leisten, sagen sie bei Vice.
Wenn man Shane Smith mit journalistischer Ethik kommt, mit der fehlenden Distanz zu Protagonisten, mit Branded Content, Geschichten, die in Zusammenarbeit mit Werbepartnern entstehen, dann zuckt er mit den Schultern. Könnte ihm egaler nicht sein. Smith sagt, er sei kein Journalist. Er wolle nicht mal mit denen assoziiert werden, die sich so nennen, aber ihren Job nicht machen. Die immer sagen, dass die Jungen sich nicht mehr für Politik interessieren. Dass man Filme ganz kurz machen muss, um sie noch zu erreichen. „Wenn das Journalismus sein soll, dann will ich nichts damit zu tun haben“, sagt Smith. „Auf der anderen Seite: Nur weil die versagen, sind wir so erfolgreich.“
Große Jungs mit Spaß bei der Arbeit
Vice erreicht nach eigenen Angaben 130 Millionen Menschen weltweit. 5,5 Millionen YouTube-Abonnenten mit einer durchschnittlichen Verweildauer von 28 Minuten. 1.500 Mitarbeiter in 36 Ländern. Dazu ein paar tausend freie Mitarbeiter. Das Gratismagazin hat aktuelle eine Auflage von 1,2 Millionen Exemplaren. Auch Smith ist als Reporter unterwegs, unter anderem in der Taliban-Hochburg Kandahar. Dann aber, zur Feier von zwei Millionen YouTube-Abonnenten, führt er, Weißwein-Glas in der Hand, Sonnenbrille im Gesicht und ein Schwert vor seinem Genital, ansonsten völlig nackt, durch die New Yorker Redaktion und stellt seine Mitarbeiter vor. Große Jungs, die Spaß bei der Arbeit haben. Man muss Smith wohl ernst nehmen, wenn er auf einem Podium sitzt, über Vice redet und am Ende den Satz sagt: „Wir werden nicht das nächste CNN oder MTV sein, wir werden zehn Mal größer sein“.
Der Text wurde erstveröffentlicht in der Preispublikation zum Grimme-Preis 2015, die Wiederveröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung. Autor Bastian Berbner ist freier Journalist und lebt in Hamburg. Er schreibt, macht Fernsehen und Radio. Seine Reportagen, gern aus dem Ausland, erscheinen vor allem im NDR und der ZEIT.
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!