Weltpolitik auf kommunaler Ebene
Kaum ein Thema beschäftigt Politik, Medien und Gesellschaft in diesen Tagen mehr, als die Flüchtlingsproblematik. Im Fokus hitziger Debatten stehen oft finanzielle und räumliche Kapazitäten, die es zur Unterbringung Asylsuchender braucht. Die beiden SWR-Autorinnen Sandra Müller und Katharina Thoms erweitern mit ihrer für den Grimme Online Award in der Kategorie Information nominierten Webdoku „Jeder Sechste ein Flüchtling“ diese Diskussion um die Dimension zwischenmenschlicher Beziehungen. Die Langzeitreportage nimmt das Zusammenleben der 5.000 Einwohner Meßstettens und der 1.000 Asylsuchenden in den Blick, die seit 2014 in einer umgebauten Kaserne der schwäbischen Kleinstadt unterkommen. Wie dieses Zusammenleben aussieht, wie es zum Projekt kam und warum es 2016 beendet sein wird, erklärt Sandra Müller – mitverantwortlich für Idee, Konzeption und Umsetzung.
Wie kam es zu dem Projekt „Jeder Sechste ein Flüchtling„? Was ist seine Intention?
Begonnen hat alles am 20. August 2014 in Meßstetten. Katharina Thoms und ich waren als Reporterinnen bei der ersten Bürgerversammlung zur geplanten neuen Flüchtlingsunterkunft auf der Alb. Die Bürger sollten erfahren, wie man die ehemalige Kaserne für bis zu 1.000 Asylsuchende umbauen will. Und wir sind mit großen Sorgen hingefahren. Denn: Rechtsradikale hatten sich angekündigt. Im Vorfeld hatten sie im Internet schon fremdenfeindliche Parolen verbreitet. Die Stimmung am Versammlungsort war also angespannt. Die Polizei hatte die Halle weiträumig abgesperrt und umstellt. Man rechnete mit Tumulten.
Doch dann passierte das genaue Gegenteil: Die gut 600 Meßstetter zeigten sich an diesem Abend aufgeschlossen, hilfsbereit und engagiert. Es sei eine Pflicht, die Flüchtlinge aufzunehmen. Man wolle helfen. Noch in der Halle gab es erste Ideen für Sport-, Kultur- und Spendenprojekte. Fremdenfeindliche Äußerungen waren selten und blieben ohne Zustimmung. Stattdessen endete die Bürgerversammlung mit einer überschwänglichen Aufbruchsstimmung.
Katharina Thoms und mich hat das beeindruckt. Noch an diesem Abend war für uns klar: Das wollen wir weiter begleiten. Wir wollen sehen, ob und wie Meßstetten das durchhält. Denn dass das nicht einfach werden würde – 1.000 Flüchtlinge in einem Ort, der im Kern selber nur 5.000 Einwohner hat – war auch klar.
Deshalb haben wir uns für genau diesen Blickwinkel entschieden: Wir zeigen in unserer Webdoku, wie sich ein so kleiner Ort verändert mit 1.000 Asylsuchenden in der Nachbarschaft. Wir wollen zeigen, welche Schwierigkeiten, aber auch welche Chancen das mit sich bringt.
Wie lässt sich das tägliche Leben in Meßstetten beschreiben? Ist die besondere Situation allgegenwärtig und wie gestaltet sich das Zusammenleben?
Meßstetten hat sich durch die Asylsuchenden schon sehr verändert. Allein dass jetzt täglich hunderte Menschen zu Fuß durch den Ort gehen, macht vieles anders. Denn so banal das klingt: Meßstetten ist eine typisch schwäbische Kleinstadt, wo man sich gemeinhin nicht „auf der Straße rumtreibt“. Einkäufe erledigt man hier mit dem Auto. Viele pendeln sowieso zur Arbeit. Die vielen Menschen auf der Straße und auf öffentlichen Plätzen – Menschen, die man noch dazu nicht kennt – sind für die Meßstetter deshalb erst mal gewöhnungsbedürftig. Und dass sich gerade junge Männer oft in kleineren Gruppen durch den Ort bewegen, verunsichert manche.
Viele Meßstetter haben aber auch keine Berührungsängste. Sie helfen in der Unterkunft, betreiben ein Cafe für die Flüchtlinge, unterrichten Deutsch und spielen Fußball mit den Asylsuchenden. Insgesamt gibt es fast hundert ehrenamtliche Helfer in Meßstetten. Und keine Frage: Im Ort wird viel geredet über die Flüchtlinge und die Unterkunft. Jede Kleinigkeit wird besprochen, erzählt, weiter erzählt. Oft entstehen Gerüchte daraus, die jeglicher Grundlage entbehren.
Doch in der Erstaufnahmestelle hat man reagiert: Seit kurzem gibt es zweimal im Monat Führungen durch die Unterkunft. Die Meßstetter sollen sehen, wie das kleine „Flüchtlingsdorf“ in der ehemaligen Kaserne funktioniert. Sie dürfen Fragen stellen und auch auf Probleme hinweisen. Außerdem arbeitet seit kurzem ein Streetworker im Ort. Er soll zwischen Flüchtlingen und Einheimischen vermitteln. Er soll beide Seiten auf Schwierigkeiten hinweisen, aber auch ermutigen, miteinander in Kontakt zu kommen. Das ist in dieser Form einmalig und wird uns in der nächsten Folge unserer Webdoku beschäftigen.
Und um noch mal konkret auf die Frage zurück zu kommen: Ja, die besondere Situation ist in Meßstetten allgegenwärtig. Und ja: Alles normal, aber kein echtes Zusammenleben. Und das kann es vielleicht auch gar nie geben in Meßstetten. Schließlich ist die Einrichtung dort eine Erstaufnahmestelle. Das heißt: Die Flüchtlinge sind immer nur wenige Wochen da, ehe sie weiterverlegt werden. Das ist und bleibt in jedem Fall eine Herausforderung.
Sie dokumentieren das Zusammenleben noch bis 2016. Bringen Sie uns bitte kurz Ihre tägliche Arbeit etwas näher.
Wir arbeiten nicht täglich an der Doku. Katharina Thoms und ich sind „nebenbei“ auch immer noch als Onlinerinnen, Moderatorinnen, Redakteurinnen und Reporterinnen für andere Themen beim SWR im Einsatz. Dennoch vergeht kaum ein Tag, an dem wir nicht mit der Webdoku befasst sind: Weil wir die nächsten Termine ausmachen müssen. Weil wir Fotos, Videos, Audios sortieren und kleinere Recherchen erledigen müssen. Weil es Technisches zu klären gibt. Vor Ort sind wir im Schnitt alle zwei Wochen. Dann meistens für ganze Tage. Denn für das, was wir einfangen möchten, braucht man Zeit. Will heißen: Stimmungen erspüren und Stimmungswandel einfangen, das geht nicht bei einer Verabredung mit ein paar schnellen Fragen. Und das geht nicht mit x-beliebigen Gesprächspartnern. Der Kontakt läuft deshalb schon bevorzugt über unsere vier Hauptpersonen. Sie helfen uns, in Meßstetten am Puls zu bleiben. Sie wissen, was im Ort läuft und geredet wird und reden auch offen darüber. Telefonate mit ihnen sind wichtig. Auch lange.
Alle drei Monate wird es dann intensiv. Die jeweils letzten 14 Tage vor der nächsten Publikation haben wir nur noch Augen und Ohren für die Webdoku. Denn nur dann kann man sich auf die besondere Intensität und das ruhige Tempo dieser Form eingrooven. Die meiste Zeit verwenden wir dabei auf die Auswahl der richtigen Bild-Ton-Video-Momente. Schließlich ist die Webdoku eine Art minimalistisches Destillat einer umfangreichen Materialsammlung, das nur wirkt, wenn in aller Kürze und Tiefe das Entscheidende zum Ausdruck kommt. Nicht selten bauen wir eine einzelne Seite deshalb drei, vier, fünf mal. So lange bis der Rhythmus stimmt. Eine intensive, aber tolle Arbeit also – von der Recherche bis zum Veröffentlichen.
Was bedeutet die Nominierung für den Grimme Online Award für Sie?
Eine Riesen-Ehre! Denn: Unsere Doku unter den 25 besten des Jahres? Ein Wahnsinn. Wir haben schon mehrfach darauf angestoßen. Und die Glückwünsche der Kolleginnen und Kollegen reißen nicht ab. Schon jetzt nach der Nominierung. Einfach toll.
Zugegeben: Wir fühlen uns auch bestätigt. Wir haben von Anfang an gesagt: „Für dieses Thema wäre eine Webdoku genau die richtige Form.“ Einfach weil man damit in einer Ruhe und Tiefe erzählen kann, die für so ein Thema nötig ist. Und wir haben von Anfang an gesagt: „Wir wollen mit ruhigen Fotos und starken Tönen arbeiten. Weniger mit Bewegtbild. Wir wollen kein interaktives Fernsehen machen.“ Der SWR hat diese Idee mit Begeisterung und großer Bereitschaft angenommen. Und man hat uns einfach machen lassen. Jetzt zeigt die Nominierung: zu Recht. Das freut uns sehr.
Wie könnte sich ein Gewinn des Grimme Online Award positiv für das Projekt „Jeder Sechste ein Flüchtling“ auswirken?
Schon die Nominierung hat uns wahnsinnig viel zusätzliche Aufmerksamkeit beschert. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie das wird, sollten wir wirklich einen der Preise bekommen. Der Grimme Online Award ist und bleibt eben eine Art Internet-Oscar, der vor allem unter den Medienkollegen und -kolleginnen allerhöchstes Ansehen genießt. Wir hoffen, dass das so bleibt.
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Das sind sehr gut recherchierte und „eingefangene“ Eindrücke aus Meßstetten, eine wahnsinnig gute Arbeit, die beide Kolleginnen da machen! Bewundernswert auch das Engagement und den Einsatz, den beide mit großem Eifer und Spaß an der Arbeit erbringen, großes Lob!!!!