„Forschungslücke (…) schließen und das Wissen über solche ‚Zwangsräume‘ (…) verankern“
Ein Interview mit Astrid Homann über die nominierte Website „Zwangsräume“
Die Website „Zwangsräume“ des Vereins Aktives Museum erforscht die antisemitische Wohnungspolitik der Nazis in Berlin anhand von 32 Geschichten über Häuser und Wohnungen, in die Jüdinnen und Juden vor der Deportation in die Konzentrationslager einziehen mussten. Interaktive Karten zeigen die Umzugsbewegungen innerhalb Berlins und die Standorte der 791 Häuser. Das Projekt verbindet Citizen Science mit der Gegenwart und den analogen mit dem digitalen Raum. Die innovative digitale Ausstellung basiert auf einer umfassenden Materialsammlung und bietet gut aufbereitete Informationen sowie zahlreiche historische Fotografien. Das GOA-Blog hat mit Astrid Homann (AG Zwangsräume, Aktives Museum) über das Projekt gesprochen.
Wie ist die Idee zu Ihrem Angebot entstanden? Gab es einen konkreten Anlass?
Bei der Verlegung von Stolpersteinen geht es darum, den letzten frei gewählten Wohnort ausfindig zu machen – diesen zu definieren ist oft nicht einfach. Bei dieser Arbeit fielen dem Projektpartner Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin immer wieder viele Wohnortwechsel von jüdischen Verfolgten ins Auge.
Diese Wechsel gehen auch auf das „Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden“ zurück, dass das nationalsozialistische Regime am 30. April 1939 erließ. Das Gesetz nahm jüdischen Mieter:innen praktisch alle Rechte und Sicherheiten. Damit wurde die rechtliche Grundlage für die Segregation und Konzentration von Jüdinnen und Juden in sogenannten „Judenhäusern“ geschaffen. Fast die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Berlins musste in Folge ihre Wohnungen verlassen und umziehen. Die Menschen wurden zur Untermiete in Wohnungen eingewiesen, in denen bereits andere jüdische Mieter:innen lebten. Zumeist waren diese Zwangswohnungen der letzte Wohnort vor ihrer Deportation und Ermordung.
Trotz ihrer Bedeutung für ein umfassendes und systematisches Verständnis der Shoah ist die Geschichte der „Judenhäuser“ wenig bekannt. Um diese Forschungslücke zu schließen und das Wissen über solche „Zwangsräume“ im historischen Gedächtnis der Stadt Berlin und seiner Bewohner:innen zu verankern, haben wir die Geschichte der „Judenhäuser“ in Berlin erforscht und in die Öffentlichkeit gebracht.
Was war der größte Erfolgsmoment in der Arbeit, was die größte Herausforderung?
Durch Archivrecherchen und in mehrmonatiger Zusammenarbeit von Historiker:innen und lokalen Freiwilligen – historisch interessierten Personen und heutigen Bewohner:innen ehemals betroffener Häuser – konnten wir für Berlin eine Mindestzahl von 791 Häusern mit Zwangswohnungen feststellen. Die meisten befanden sich in der Innenstadt. Seit Oktober 2023 ist unsere digitale Ausstellung online. Sie erzählt detaillierte Geschichten von 32 ausgewählten Häusern, die von ganz verschiedenen Autor:innen recherchiert und aufgeschrieben wurden.
Der Launch der Online-Ausstellung wurde von stadtweiten „Interventionen“ begleitet: Großplakate und Litfaßsäulen machten mit historischen Fotos und Zitaten ehemaliger jüdischer Bewohner:innen in der unmittelbaren Nähe betroffener Häuser die Geschichte der Zwangsräume öffentlich. Außerdem gab es einige Veranstaltungen, zum Beispiel eine nächtliche Großprojektion am ehemaligen Standort eines Hauses mit Zwangswohnungen.
An einigen der Häuser wurden bleibende Gedenkkacheln angebracht, die eigens für das Projekt entworfen wurden. Sie erinnern jetzt dauerhaft an die jüdischen Bewohner:innen der dortigen Zwangswohnungen. Über QR-Codes auf den Gedenkkacheln gelangt man direkt zu den jeweiligen Hausgeschichten und Biografien in der Online-Ausstellung.
Dieses hybride Konzept einer digitalen Ausstellung, die analog mit dem Stadtraum verbunden wird, haben wir in einer intensiven Zusammenarbeit mit der Agentur Zoff entwickelt.
Welche Resonanz gab es auf Ihr Angebot und wie sehen Ihre weiteren Pläne aus?
Es gab ein großes Echo in lokalen und überregionalen Medien. Zum Beispiel im heute journal, wo bei einem Bericht über unser Projekt plötzlich das Wording „Zwangsräume“ Einzug fand, dass wir in einem Workshop zur Namensfindung selbst entwickelt hatten. Überhaupt kann man mittlerweile sagen, dass der bisher gängige, aber überkommene und problematische Begriff „Judenhaus“ durch unsere Wortschöpfung ersetzt wurde. Das hat uns sehr gefreut. Zudem erreichen uns viele Nachfragen von Menschen aus der ganzen Welt, die herausfinden wollen, ob ihre Angehörigen während des Nationalsozialismus in einer Zwangswohnung leben mussten.
Wir veröffentlichen noch in diesem Monat eine Begleitpublikation, zu der das große Rechercheteam und weitere Historiker:innen beigetragen haben. Außerdem werden die Hausgeschichten in naher Zukunft auch in der berlinHistory-App zu finden sein. Und: Das Aktive Museum wird mit Sicherheit weitere Citizen Science-Projekte zur nationalsozialistischen Geschichte Berlins auf den Weg bringen.
Vielen Dank für das Interview!
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