„(…) ein Stück zur Bewältigung der Katastrophe“

Ein Interview mit Giulia Fanton und Heike Lützenkirchen über die nominierte Website „Die Flutkatastrophe 2021 in Euskirchen“

Die virtuelle Ausstellung „So was haben wir noch nicht erlebt! – Die Flutkatastrophe 2021 in Euskirchen“ entstand aus einem unmittelbar nach der Flutkatastrophe begonnenen Forschungsprojekt des Stadtmuseums Euskirchen und des LVR-Instituts für Landeskunde und Regionalgeschichte. Sie informiert mit umfangreichem Datenmaterial (Fotos, Tondokumenten und Videos) und bewegenden Augenzeugenberichten über dieses historische Ereignis und dokumentiert gleichzeitig die Bewältigung der Katastrophe und die langfristigen Auswirkungen für die Menschen im Flutgebiet. Zur virtuellen Ausstellung haben Giulia Fanton, Wissenschaftliche Referentin im LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte, und die Leiterin des Stadtmuseums Euskirchen, Dr. Heike Lützenkirchen, drei Fragen des GOA-Blogs beantwortet.

Screenshot der Website Die Flutkatastrophe 2021 in Euskirchen

Screenshot der Website „Die Flutkatastrophe 2021 in Euskirchen“

Wie ist die Idee zu Ihrem Angebot entstanden? Gab es einen konkreten Anlass?

Die Idee ist unmittelbar nach der Flutkatastrophe im Juli 2021 entstanden. Im Rheinland war auch die Kreisstadt Euskirchen mit ihren 60.000 Einwohner*innen betroffen. In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli wurden die Innenstadt und die umliegenden Orte vom Hochwasser der Erft, des Veybachs und anderer Flüsse überflutet und der Damm der Steinbachtalsperre drohte zu brechen. Die Flutkatastrophe hat das Leben der Menschen und das Stadtbild maßgeblich verändert. Die Ereignisse in der Flutnacht und in den folgenden Tagen und Wochen prägen bis heute die Region.

In den ersten Wochen nach dem Hochwasser gab es in der Region kein anderes Thema als die Flutkatastrophe. In der Schlange vor der Bäckerei – das einzige Geschäft in der Euskirchener Innenstadt, dass die Flut überstanden hatte – waren die unglaublichsten Geschichten über die Flut zu hören. Die wartenden Menschen tauschten sich – wie sicherlich überall, wo Menschen in dieser Zeit zusammentrafen – über das alles dominierende Thema Flut aus. Es ging um die Schäden und die Aufräumarbeiten, über den Zusammenhalt in dieser schwierigen Zeit, über Ängste sowie die ungewisse Zukunft. Das Teilen von Erlebnissen, Erfahrungen und Erinnerungen, das gemeinsame Trauern, das „sich von der Seele Reden“: Die vielen Gespräche zeigen die Bedeutung von Kommunikation und Austausch in einer sozialen Gemeinschaft.

Die Geschichten rund um die Flut, der Umgang mit diesem Ereignis und seine Auswirkungen auf das Leben der Menschen sind für die Kulturanthropologie, die Alltagskulturforschung und Volkskunde von besonderem Interesse. Da der Landschaftsverband Rheinland mit dem Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte und das Stadtmuseum Euskirchen dieses Forschungsinteresse teilen, ergab sich eine sehr ergiebige und zielführende Kooperation.

Im Mittelpunkt des Projektes „So was haben wir noch nicht erlebt!“ stehen die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die uns ihre Geschichte erzählt haben. Die Berichte sind die wichtigste Quelle und bilden die Grundlage für das Forschungsprojekt, das die Ereignisse der Flutkatastrophe vom 14. Juli 2021 in Euskirchen einerseits für die Nachwelt dokumentiert und anderseits den Umgang mit einer Katastrophe, die Auswirkungen eines solchen Ereignisses sowie die Bewältigung von Krisen untersucht.

Damit die Ergebnisse des Projekts einer größeren Öffentlichkeit zugänglich sind, haben wir uns für das Format der „digitalen Ausstellung“ entschieden. Die Vorteile sind, dass auch Bilder, Filme, Tondokumente oder Karten eingebunden und per Audiokommentar Menschen zu Wort kommen können.

Was war der größte Erfolgsmoment in der Arbeit, was die größte Herausforderung?

Die größte Herausforderung bei diesem Projekt war es, Menschen zu finden, die mit viel Offenheit ihre persönliche Geschichte erzählen. Das ging dann allerdings wider Erwarten sehr schnell. Wir waren überwältigt von dem uns entgegengebrachten Vertrauen und daher ist der Kontakt zu den Gewährspersonen auch unser größter Erfolgsmoment.

Hinzu kam, dass wir unmittelbar nach dem Flutereignis mit dem Projekt starten wollten. Man sieht es jetzt im Nachhinein ganz deutlich, dass eine Untersuchung einige Zeit später nicht in dieser Intensität möglich gewesen wäre. Das hängt mit den Methoden des qualitativen Interviews und der teilnehmenden Beobachtung zusammen. Die Erzählungen aus der damaligen Situation heraus sind unwiederbringlich, da man diese Nähe und diese Art der Erzählungen in zeitlich größerem Abstand nicht mehr in dieser Form hätte erheben können.

Welche Resonanz gab es auf Ihr Angebot und wie sehen Ihre weiteren Pläne aus?

Beim Launch der Ausstellung am 17. Oktober 2023 mit 180 Gästen war die große positive Resonanz und ganz besonders das positive Feedback der Betroffenen ein sehr schöner Moment für uns. Die Aussagen, dass unsere Arbeit ein Stück zur Bewältigung der Katastrophe beiträgt und den Menschen hilft, erfüllen uns mit großer Freude.

Über 15.000 Zugriffe spiegeln das Interesse an dem Thema wider und halten die Flutkatastrophe auch in Erinnerung. Die Betroffenen berichteten uns bereits Monate nach dem Ereignis von einer Art „Flutdemenz“. Das bedeutet, dass die Katastrophe in bestimmten Bereichen zusehends in Vergessenheit gerät, vor allem, wenn es um präventive Maßnahmen, Förderungen oder andere strukturelle Aufgaben geht. Hier hält die digitale Ausstellung das Ereignis präsent. Auch scheint das Thema unserer Forschung für viele wissenschaftliche Fragestellungen interessant zu sein, denn wir werden immer wieder für Vorträge und Publikationen in ganz unterschiedlichen Bereichen (z. B. Museum, Nachhaltigkeit, Kulturanthropologie, Wasserwirtschaft, Klima) angefragt.

Für die Zukunft wäre es wünschenswert, das Projekt fortzusetzen und nach 5-10 Jahren die Zeitzeug*innen nochmals zu interviewen, um die langfristigen Folgen und Veränderungen durch die Flutkatastrophe zu untersuchen.

Vielen Dank für das Interview!

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