„Die Büchersuche hat enormes Potenzial, Menschen für jüdische Geschichte zu begeistern.“
Ein Interview mit dem Leo Baeck Institut über die nominierte Website „Library of Lost Books“
Die „Library of Lost Books“ ist eine Multimedia-Website der Leo Baeck Institute Jerusalem und London sowie der Freunde und Förderer des Instituts. In drei Kapiteln mit Animationen und Audios stellt sie die wechselvolle Geschichte der Bibliothek der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums vor – vom Raub der Bücher durch die Nationalsozialisten bis hin zur Zerstreuung der Überreste der Bibliothek in der Nachkriegszeit. Zeitdokumente, eine Anleitung zur Büchersuche und eine virtuelle Bibliothek ergänzen das Angebot. Das GOA-Blog hat ein Kurzinterview mit dem Leo Baeck Institut über die nominierte Website geführt.
Wie ist die Idee zu Ihrem Angebot entstanden? Gab es einen konkreten Anlass?
Am Leo Baeck Institut arbeiten wir an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Die Frage, wie man einer jungen Generation jüdische Geschichte näherbringen kann, beschäftigt uns also so gut wie jeden Tag. Wie können wir vermitteln, dass wir aus der Geschichte lernen können? Dass uns dieses Lernen darauf vorbereitet, es mit den gegenwärtigen Herausforderungen aufzunehmen? Und dass es Geschichte nicht nur in Sepia-Farben gibt? Die Library of Lost Books ist unsere Antwort. Ein Publikum einzuladen, sich aktiv an der Suche nach Nazi-Raubgut zu beteiligen, ist sowohl in der historischen Bildungsarbeit als auch in der Provenienzforschung vollkommen neues Terrain. Umso stolzer sind wir, zu sehen, wie gut dieser Ansatz funktioniert.
Die Idee zu dem Projekt ist aus der Begeisterung entstanden, die die Büchersuche bereits bei uns im Institut entfacht hat. Kolleginnen haben in der Bibliothek des Leo Baeck Instituts Jerusalem Bücher der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums gefunden und sich gefragt: Wie genau sind die hier hergekommen? Junge Menschen, die uns im Rahmen ihres Freiwilligendienstes in Deutschland und Österreich unterstützt haben, sind zu leidenschaftlichen Buchdetektiven avanciert. Wir haben schnell gemerkt: Die Büchersuche hat enormes Potenzial, Menschen für jüdische Geschichte zu begeistern.
Was war der größte Erfolgsmoment in der Arbeit, was die größte Herausforderung?
Wir freuen uns natürlich riesig, dass unsere Buchdetektive schon so viele Bücher gefunden haben. Die schönsten Erfolgsmomente für uns bleiben aber die individuellen Wege dahin. Vor allem, wenn wir miterleben dürfen, wie sehr die Library of Lost Books ihr Publikum in den Bann zieht.
Ein Beispiel: Unsere Kollegin vom Leo Baeck Institut London hat vor einigen Wochen einen „Search Day“ durchgeführt. Das sind Workshops, für die wir Schülerinnen und Schüler in örtliche Bibliotheken einladen, damit sie sich dort auf Büchersuche begeben können. Am Ende des Tages waren unsere Buchdetektive so sehr in die Suche vertieft, dass sie sich schlicht und einfach weigerten, aufzuhören. Zum einen ist es die Neugier und Freude am Entdecken, die unsere Buchdetektive antreibt. Es ist aber auch die Verantwortung, die sie empfinden, geschehenem Unrecht möglichst etwas entgegenzusetzen. Eine Teilnehmerin des „Search Days“ fragte uns fast schon sorgenvoll: „Aber was ist, wenn wir was übersehen?“
Eine große Herausforderung für uns und das Projekt waren die schrecklichen Angriffe vom 7. Oktober, der darauffolgende Krieg in Gaza und die weltweiten Folgen. Wie soll man unter solchen Bedingungen an seine Arbeit denken? Außerdem haben die Ereignisse dazu geführt, dass Hate Speech und Antisemitismus sprunghaft angestiegen sind – in den Sozialen Medien, auf der Straße, in den Universitäten und sogar in Bibliotheken.
Auch die Library of Lost Books wurde zur Zielscheibe. Das hat unsere Arbeit vollkommen unvorhergesehen erschwert. Uns war aber zu jedem Zeitpunkt klar: Gerade deshalb, gerade jetzt, ist es wichtig, deutsch-jüdische Geschichte zu erforschen und zu erzählen. Wir sind uns der Gefahren bewusst, die Militarismus und antidemokratische Regierungen mit sich bringen können. Wir wissen um das Leid von Geflüchteten. Unsere tägliche Arbeit besteht darin, dieses Wissen lebendig zu halten. Wir tun dies, indem wir Lehren aus der Geschichte des deutschsprachigen Judentums ziehen und dessen liberale Werte bewahren und teilen.
Welche Resonanz gab es auf Ihr Angebot und wie sehen Ihre weiteren Pläne aus?
In den letzten 9 Monaten haben etwa 33.000 Menschen unsere Online-Ausstellung besucht. Auf Instagram folgen uns etwa 14.000 Accounts. Zeitungen, Radio, Blogs und TV in Deutschland, Österreich, Tschechien, UK, USA und Israel haben bereits über die Library of Lost Books berichtet.
Unsere „Search Days“ haben wir bis heute in Deutschland, Tschechien, UK und USA durchgeführt und so insgesamt etwa 300 Schülerinnen und Schüler, bzw. Studierende, für das Projekt begeistern können. Außerdem freuen wir uns sehr über das Interesse der Schulen an unseren Workshops, und an der großen Offenheit und Begeisterung der teilnehmenden Bibliotheken, sich unseren Buchdetektiven zu öffnen. All diese Bemühungen haben dazu geführt, dass bis jetzt etwa 4.500 der vermissten Bücher gefunden werden konnten.
Obwohl wir mit dieser Resonanz schon sehr zufrieden sind, glauben wir, dass das Potenzial des Projekts noch nicht ausgeschöpft ist. Deshalb arbeiten wir gerade daran, die „Search Days“ zu erweitern und zu verstetigen. Wir glauben, dass wir mit diesem Format noch jüngere Schülerinnen und Schüler als bisher ansprechen können. Und es wäre toll, wenn wir Bibliotheken dazu gewinnen könnten, solche Workshops dauerhaft in ihre regulären Outreach-Programme mit aufzunehmen. Zudem sind wir begeistert von der großen Resonanz und den positiven Reaktionen auf unsere Instagram-Kampagne. Die Themen NS-Raubgut und Bibliotheksgeschichte scheinen sich hervorragend für die Sozialen Medien zu eignen. Gerne würden wir auch auf diesem Feld weiterarbeiten, um jungen Menschen die Geschichte und ihre heutige Bedeutung näher zu bringen.
Vielen Dank für das Interview!
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