„Dann kann ich mir gleich einen Brockhaus kaufen“
Ein Lexikon ist voll von gesichertem Wissen und ändert sich nicht so schnell – so ist es seit Jahrhunderten. Mit dem Internet ist das anders geworden – die Wikipedia ist ein modernes Nachschlagewerk, das sich in Sekunden von jedem editieren lässt und so auch aktuelle Ereignisse aufnehmen kann. Das ist innerhalb der Wikipedia-Community jedoch nicht unumstritten, Gegner allzu hektischer Artikelarbeit stehen den Verfechtern der Geschwindigkeit gegenüber und debattieren über den besten Umgang mit der Aktualität. Ein Gastbeitrag von Thomas Roessing, der an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz untersucht hat, mit welchen Argumenten wikipedia-intern diskutiert wird.
Artikel über Toiletten in Japan oder über Nahrungstabus in aller Welt findet man wohl kaum im Brockhaus oder der Enzyclopedia Britannica, dafür aber in der Wikipedia. Sie ist ein Projekt zur Entwicklung einer freien Universalenzyklopädie im Internet, die schon 2005 mit einem Grimme Online Award der Kategorie Wissen und Bildung ausgezeichnet wurde. Die Inhalte – nicht nur Artikel, sondern auch Bilder, Audio- und Videodateien und Dokumente – werden nahezu ausschließlich von freiwilligen Autoren beigetragen. Die Online-Community der Hobby-Enzyklopädisten arbeitet dabei erstaunlich erfolgreich. Allein die deutschsprachige Ausgabe hat mit über 1,5 Millionen Artikeln nicht nur wesentlich mehr Einträge als traditionelle, gedruckte Universalenzyklopädien jemals vorzuweisen hatten. Die Artikel sind auch oft viel ausführlicher als die sehr knappen Darstellungen, wie man sie aus herkömmlichen Lexika kennt.
Ein weiterer Vorteil der Online-Enzyklopädie Wikipedia ist die Möglichkeit, ihre Inhalte rasch zu aktualisieren. Diese Schnelligkeit kann jedoch auch zum Problem werden, und zwar dann, wenn schnelle Veränderungen im Widerspruch stehen zum Anspruch der Enzyklopädie, gesichertes Wissen zu bewahren und weiterzugeben. Dementsprechend oft streitet sich die Wikipedia-Community über Artikel zu aktuellen Ereignissen. Diese Community organisiert sich weitgehend selbst. Sie wählt Administratoren, die unter anderem die Möglichkeit haben, Artikel zu löschen oder für Bearbeitungen zu sperren. Administratoren können auch Mitglieder der Community, die sich nicht zu benehmen wissen, temporär oder dauerhaft aus dem Projekt ausschließen. Ebenfalls in Abstimmungen, so genannten Meinungsbildern, entscheiden die Mitglieder der Gemeinschaft über Streitfragen und die Regeln des gemeinsamen Zusammenwirkens. Zwei solcher Meinungsbilder hatten den Umgang mit aktuellen Ereignissen zum Gegenstand. Eines, im Jahr 2005, sollte klären, ob solche aktuellen Artikel in Wikipedia überhaupt zulässig sein sollen. Das zweite, 2009, hatte die Einführung einer Sperrfrist für Artikel über aktuelle Ereignisse zum Gegenstand. Beide Meinungsbilder fielen so aus, dass das Anlegen und Bearbeiten von Artikeln zu aktuellen Ereignissen nach wie vor möglich und erwünscht ist. Die beiden Abstimmungen werden immer wieder zitiert, wenn es nach einem Amoklauf, einem Unglück oder Anschlag, einem mehr oder weniger unerwarteten Politikerrücktritt und ähnlichen Ereignissen erneut zum Streit über die entsprechenden Artikel kommt. Ebenfalls gern zitiert werden in diesen Zusammenhängen die Diskussion zur vorgeschlagenen Löschung des Artikels zum Amoklauf von Ansbach und die Diskussionen um den Artikel zum Unglück bei der Loveparade 2010.
Zuverlässigkeit gegen Geschwindigkeit
Wenn man die genannten Diskussionen systematisch auf die Argumente beider Seiten – Befürworter und Gegner von Artikeln über Aktuelles in Wikipedia – hin untersucht, findet man auf jeder Seite etwa zehn Argumente. Einige erscheinen in den Diskussionen nur vereinzelt, andere werden häufiger genannt. So argumentieren die Gegner, aktuelle Berichterstattung sei nicht Aufgabe einer Enzyklopädie und verweisen auf Unklarheiten: Anfangs sei es oft schwer, die Relevanz des Ereignisses oder die Zuverlässigkeit von Informationen aus den Medien zu beurteilen. Die Befürworter bezeichnen es als Stärke der Wikipedia, schnell aktualisiert, ergänzt und korrigiert werden zu können. „Wiki“ – eigentlich die Bezeichnung für das Softwarekonzept, das der gemeinsamen Arbeit im Internet zugrunde liegt – ist schließlich das hawaiianische Wort für „schnell“. Andere Argumente der Befürworter sind generell die Nachfrage der Leser und die schlechte Außenwirkung, wenn ein Artikel über ein wichtiges Ereignis fehlt. Die Analyse legt nahe, für die Einordnung dieser Untersuchung in den Kontext der Kommunikationswissenschaft auf die Tradition der Gatekeeper-Forschung zurückzugreifen. Die Gatekeeper-Forschung fasst den Kommunikator – zumeist Journalisten – als eine Art Türsteher auf, der entscheidet, welche Meldungen in die Zeitung kommen und welche nicht. Bei der wikipedia-internen Auseinandersetzung um aktuelle Ereignisse findet man anhand der Argumente in den Diskussionen strengere Gatekeeper, die solche Artikel verhindern oder beschränken wollen und großzügigere Torwächter, die derartigen Artikeln positiver gegenüberstehen.
Die Argumente für und gegen Enzyklopädie-Artikel über aktuelle Ereignisse lassen sich in vier Gruppen zusammenfassen: enzyklopädie-theoretische Argumente, pragmatische Argumente, Wikipedia-zentrierte Argumente und Verweise auf das Schwesterprojekt Wikinews. Zu den enzyklopädie-theoretischen Contra-Argumenten gehört das der unklaren Relevanz. So fragt ein Diskussionsteilnehmer: „Jagt dieser Artikel 2 Wochen später noch jemanden hinter dem Ofen hervor?“. Das verwandte Pro-Argument verweist auf die häufig unmittelbar gegebene Relevanz bei medial beachteten Ereignissen: „Überregionale Berichterstattung deutet auf Relevanz hin“. Ein pragmatisches Contra-Argument ist die häufig genannte Unzuverlässigkeit der Informationen: „Zeitnah über ein Ereignis wie den ‚Tsunami 2004‘ zu schreiben ist kaum möglich, die Ereignisse überschlagen sich, die Nachrichten widersprechen sich“ heißt es in einer Grundsatzdiskussion. Ein pragmatisches Pro-Argument ist, dass Recherchemöglichkeiten mit der Zeit verblassen und es deshalb besser sei, einen Artikel zu einem aktuellen Geschehen möglichst bald anzulegen. Wikipedia-zentrierte Argumente umfassen die häufig genannte Stärke von Wikipedia, die in der Aktualität und Schnelligkeit liege: „Dann kann ich mir gleich einen Brockhaus kaufen“ schreibt ein Gegner der Einschränkungen für aktuelle Artikel. Auf das Schwesterprojekt Wikinews, wie Wikipedia von der Wikimedia Foundation betrieben, verweisen Gegner und Befürworter aktueller Artikel in Wikipedia: Erstere meinen, für aktuelle Ereignisse sei Wikinews gedacht und zuständig. Letztere verweisen auf den geringen Bekanntheitsgrad und die kleine Community des Schwesterprojekts („interessiert eh keinen“).
Gibt es einen Artikel – und was steht drin?
Bei der Analyse der Argumente in der Diskussion zum Artikel über das Unglück bei der Loveparade zeigt sich, dass die bisher entwickelten Analysekategorien in diesem Fall nicht ausreichen. Die Diskussion verschob sich recht schnell weg von der Frage, ob es einen Artikel zu diesem Thema geben, soll hin zu der Frage, welche Informationen dieser Artikel enthalten solle. Legt man das Gatekeeper-Konzept der Analyse der Diskussionen um die Existenz von Artikeln zugrunde, so zeigt sich hier etwas, das man als Second-Level-Gatekeeping bezeichnen könnte: Für welche Informationen sollte das Tor zur Wikipedia geschlossen bleiben, welche sollten im Artikel dargestellt sein? Beispiele für umstrittene Inhalte sind in diesem Fall (Medien-)Spekulationen über die Unglücksursache oder die Todesumstände der Opfer, die Bezeichnung der Loveparade als „kommerziell“ oder die ausführliche Kritik des Loveparade-Urgesteins „Dr. Motte“. Zur weiteren Analyse dieser Diskussionen unter enzyklopädisch aktiven Laien-Journalisten bieten sich weitere Ansätze aus der Journalismusforschung an, beispielsweise Instrumentelle Aktualisierung (Hans Mathias Kepplinger) und das Konzept der opportunen Zeugen (Lutz Hagen). Beide Ansätze untersuchen, wie und warum Journalisten bestimmte Inhalte und bestimmte Personen für ihre Artikel auswählen – oder eben nicht.
Trotz der Meinungsverschiedenheiten in der Community (oder vielleicht gerade wegen der kritischen Diskussionen?) ist Wikipedia gelegentlich recht erfolgreich, wenn es darum geht, mediale Berichte in enzyklopädisch wertvolle Beiträge zu verwandeln. Ein Beispiel dafür ist der englischsprachige Artikel über die Bombenanschläge von London 2005. Er wurde in den Wochen nach dem Ereignis von vielen Seiten gelobt, und man sagt, der Erfolg der Wikipedia-Community beim schnellen Schreiben dieses hochwertigen Artikels habe die CIA angeregt, ein eigenes, internes Geheimdienst-Wiki einzurichten.
Dieser Artikel fasst die Ergebnisse des Vortrags „Enzyklopädie-Amateure als Amateur-Journalisten. Wikipedia als Gateway für aktuelle Ereignisse“ von Thomas Roessing im Rahmen der Jahrestagung der DGPuK-Fachgruppe „Journalistik und Journalismusforschung“ in München zusammen.
Weitere Informationen zur Tagung „Von analog nach digital – Journalismus und Technik“
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