Die Wahrheit über die europäische Asylpolitik

An Europas Grenzen sterben täglich Menschen auf der Flucht. Gleichzeitig werden Millionen Menschen aus der Ukraine mit offenen Armen empfangen. Wie kann das sein? Diese Frage haben sich die Journalistin Sham Jaff und ihr Team gestellt und versuchen diese in ihrem Podcast „Memento Moria- was heute an Europas Außengrenzen passiert“ zu beantworten. Dafür reisen sie nach Lesbos, um sich die Lage vor Ort selbst anzuschauen. Dort brannte 2020 das Camp Moria ab. Schnell wird klar, es geht nicht nur um Moria. Es geht um Menschenrechtsverletzungen, Spionage, Folter und vieles mehr. Der achtteilige Podcast „Memento Moria“ wurde für den Grimme Online Award in der Kategorie „Information“ nominiert.

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Screenshot „Memento Moria“

In Ihrem Podcast klären Sie auf, was heute an den europäischen Außengrenzen passiert. Warum haben Sie sich für den Podcast als Format entschieden und warum denken Sie, dies ist die beste Art, das Geschehene darzustellen?

Sham Jaff: Die Situation an den Grenzen Europas ist schon lange ein Thema. Da haben wir uns gedacht: Wie können wir diese Geschichte vielleicht ein bisschen anders erzählen? Wie können wir einen anderen Zugang zu diesem Thema finden, das so vertreten in den Medien ist. Man sieht alle paar Wochen mal eine Meldung auf dem Handy oder irgendwo wird erwähnt, dass Menschen im Mittelmeer ertrunken sind und ich glaube, viele können gar nicht einkategorisieren, ob das jetzt eine Eskalation der Situation ist oder nicht. Und wie sehen Lösungsmöglichkeiten dieses Problems aus? Das Thema ist sehr komplex und facettenreich. Es wird immer wieder punktuell mal hier besprochen, mal dort besprochen, aber der große Zusammenhang fehlt manchmal und das wollten wir in unserem Podcast sichtbar machen. Wir haben acht Folgen, die jeweils eine Stunde dauern, produziert. Unser Ziel war, dem Thema sehr viel Zeit zu geben und das Thema so zu beleuchten, dass man die Menschen und ihre Stimmen richtig nah hört. Die Schicksale und die Zahlen sind echt, es handelt sich um reale Personen und diese Schicksale sind Teil ihres Lebens. Wir wollten alles sehr menschlich erzählen, so wie es vorher vielleicht noch nicht getan wurde.

Wir haben das Gefühl, der Fakt, dass immer wieder Menschen im Meer verunglücken, ist sehr alltäglich für viele Menschen geworden. Aber es sterben weiterhin Personen. Warum ist das nicht mehr so präsent?

Sham Jaff: Auf jeden Fall! Ich habe sehr oft das Gefühl, dass man fast schon abstumpft. Man sieht diese Bilder von Menschenmassen, die in Plastikbooten im Mittelmeer sitzen. Das ist die erste Assoziation. Ich glaube auch, das ist Teil der menschlichen Psyche, dass man dann irgendwann sagt: Ich kann nichts machen. Es macht einen sehr traurig und lässt einen sehr machtlos fühlen. Deswegen vermeidet man dann vielleicht die Konfrontation, anstatt sich damit zu beschäftigen. Deshalb war eine große Herausforderung: Wie erzählen wir eine sehr oft erzählte Geschichte und wie erzählen wir sie anders.

Die Eindrücke, die man vor Ort enthält, sind schockierend und sehr einprägsam. Wie war die Zeit, die Sie auf Lesbos verbracht haben? Wie hat sie Ihr Leben geprägt?

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Screenshot „Memento Moria“

Sham Jaff: Wenn man nach Lesbos fliegt, sieht man aus der Perspektive von jemandem, der einen deutschen Pass hat, erstmal eine wunderschöne Urlaubsinsel. Das ist ein sehr krasser Kontrast zu dem, was eigentlich vor Ort passiert. Man sieht diese wunderschönen Strände, gleichzeitig sieht man sehr viel Polizeipräsenz, Drohnen und Zäune. Wenn ich auf das Meer geschaut habe, dachte ich mir oft, vielleicht sehe ich heute ein Boot oder die Küstenwache. Das ist eine sehr befremdliche Gegenüberstellung. Vor allem, wenn man dort journalistisch tätig ist und keinen Urlaub machen möchte. Ich glaube, das Prägendste auf dieser ganzen Reise war der Besuch auf den sogenannten “Namenlosen Friedhöfen”. Das sind inoffizielle, nicht ausgeschilderte Friedhöfe für die Menschen, die auf der Flucht nach Europa umgekommen sind. Dieses Ereignis war für mich sehr einschneidend, weil ich einige Wochen zuvor von einem geliebten Menschen Abschied nehmen musste. Für mich war dieser Prozess so wichtig, um diesen Tod zu akzeptieren und richtig Abschied zu nehmen. Dann auf diesen namenlosen Friedhöfen zu sehen, dass so viele Menschen diese Möglichkeit nicht bekommen, war sehr einprägsam. Es ist ein großes Risiko eine Flucht anzutreten. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es sich für den Menschen selbst, aber auch für die Angehörigen anfühlt, wenn man wochen- oder monatelang nichts mehr von seinen Geliebten hört und mit dem Gedanken leben muss, dass diese Person vielleicht gestorben ist.

Wir haben schon ein bisschen über die Zeit geredet, die Sie auf Lesbos verbracht haben. Wie haben Sie den Kontakt zu den Bewohner*innen, zum Beispiel des ehemaligen Camps Moria und zu den befragten Expert*innen hergestellt?

Sham Jaff: Den Kontakt zu den ehemaligen Bewohner*innen hatten wir durch Franziska Grillmeier, die den Podcast mitgestaltet hat. Sie beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit der Insel Lesbos. Sie besuchte damals regelmäßig das Camp Moria und hat dort auch Freundschaften geknüpft. Es war sehr wichtig für uns, das Thema von verschiedenen Seiten zu betrachten, weshalb wir verschiedene Expert*innen befragt haben. Wir haben mit einem Politiker gesprochen, der auf EU-Ebene Politik macht und ihn gefragt: Wieso funktioniert die europäische Asylpolitik nicht? Wie ist denn diese europäische Asylpolitik generell zu verstehen? Wieso gelingt mit Geflüchteten aus der Ukraine ein besserer, menschenwürdiger Umgang als mit Geflüchteten aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea? Wie sind die menschenunwürdigen Zustände in Moria zu verantworten? Wir haben mit dem ehemaligen Leiter des Camps Moria gesprochen und mit einem Mitarbeiter des griechischen Migrationsministeriums. Die wichtigsten Gespräche waren aber mit den Menschen, die selbst geflüchtet sind. Menschen, die sogenannte Pushbacks erlebt haben, also völkerrechtlich illegale Rückführungen hinter die europäischen Außengrenzen. Hätten sie diese Geschichten nicht erzählt, hätten wir nur den Außenblick und nicht so viel Material, um so einen anklägerischen Podcast zu machen. Wir haben uns aber nicht nur auf Griechenland konzentriert, sondern unter anderem auch auf die Polen-Belarus-Grenze und andere Außengrenzen.

Wie schafft man es, einen Umgang mit Menschen zu finden, deren Ansichten man überhaupt nicht teilt?

Viola Funk bei der Bekanntgabe der Nominierungen zum Grimme Online Award 2023, Foto: Foto: Arkadiusz Goniwiecha / Grimme-Institut

Viola Funk bei der Bekanntgabe der Nominierungen zum Grimme Online Award 2023, Foto: Foto: Arkadiusz Goniwiecha / Grimme-Institut

Sham Jaff: In meiner Position als Journalistin will man ein umfassendes Bild bekommen und mit diesem Anspruch gehe ich auch an die Gespräche heran. Man bereitet sich gut vor, überlegt, wie man aufzeigen kann, warum welche Person mit welcher Position welche Entscheidung getroffen hat. Für mich war es vor allem wichtig, einen Austausch zwischen mir und den Menschen, die ich befragt habe, herzustellen, egal wie sie politisch aufgestellt sind. Es geht nicht darum, Individuen anzugreifen und sie für alles verantwortlich zu machen und zu sagen, Menschen sterben nur wegen dir. Das wäre viel zu vereinfacht und spiegelt nicht die Realität wider. Die Strukturen der EU sind sehr komplex. Es sollte eher über die institutionellen Verantwortungen der EU gesprochen werden. Aus welcher Position heraus wird diese Entscheidung getroffen und wo wird sie weiterhin noch unterstützt, wo wird sie angefochten? Deswegen fällt es mir persönlich leichter, mit Menschen zu sprechen, mit denen ich selbst nicht einer Meinung bin. Mein Fokus ist es nämlich zu übersetzen, was da passiert für Menschen, die vielleicht noch nicht so lange darauf geguckt haben.

Denken Sie, dass Sie mit Ihrem Podcast in der europäischen Asylpolitik etwas verändern können und wenn ja, inwiefern?

Sham Jaff: Meine persönliche Hoffnung ist, dass mehr Menschen verstehen, was dort passiert. Vielen Menschen ist die Situation auf dem Meer und in den Camps gar nicht bewusst. Wie das Recht auf Asyl teilweise systematisch ausgehebelt wird und auf welche brutale Art und Weise das wirklich geschieht, die Menschen so an den Rand ihrer Existenz drängt, ist vielen noch nicht wirklich bewusst. Ich hoffe, der Podcast bringt den Hörenden diese komplexen Zusammenhänge näher, ohne dabei mit Paragraphen oder irgendwelchen Politik-Floskeln zu langweilen. Er soll den Menschen die Chance bieten, einen besseren Überblick zu bekommen. Ich bin der Meinung, je informierter man über eine Thematik ist, desto eher engagiert man sich auch. Es schärft den Blick dafür, welche Möglichkeiten es gibt zu helfen.

Es gibt immer wieder Phasen, in denen das Thema wieder mehr mediale Aufmerksamkeit bekommt, aber viel ändert sich an den Grenzgebieten nicht. Was braucht es, dass sich die Lage verbessert?

Sham Jaff: Für mich war es sehr wichtig, im Podcast die europäischen Werte auch kritisch zu betrachten. Was wir in der Schule lernen, sind europäische Werte und eine selbst auferlegte Schutzverantwortung. Aber wenn wir das ganz nüchtern betrachten, dann ist Europa ein politisches Projekt, das Entscheidungen treffen kann und damit auch Menschenleben beeinflusst. Es gibt positive, aber auch negative Entscheidungen. Deswegen brauchen wir eine nuancierte Betrachtung der Realität von Europa. Es gibt die Annahme, wir sind hier die Guten und dort sind diejenigen, die wir retten sollen. Wir sehen uns in dieser hohen Position, Empathie zu verteilen, eine Art Willkommenskultur und zu entscheiden, wer denn willkommen ist. Aber worauf beruhen unsere Entscheidungen, wer willkommen ist und wer nicht? Wenn die Problembeschreibung bei vielen Menschen die gleiche ist und wir die Probleme begreifen, können wir vielleicht schneller Lösungen finden.

Was möchten Sie mit dem Projekt bewirken? Was ist Ihre Intention mit dem Podcast?

Viola Funk und Dinah Rothenburg bei der Bekanntgabe der Nominierungen zum Grimme Online Award 2023, Foto: Foto: Arkadiusz Goniwiecha / Grimme-Institut

Viola Funk und Dinah Rothenburg bei der Bekanntgabe der Nominierungen zum Grimme Online Award 2023, Foto: Foto: Arkadiusz Goniwiecha / Grimme-Institut

Sham Jaff: Ich denke, mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ist uns allen sehr deutlich geworden, dass die politische Handhabung an den verschiedenen Grenzen Europas mit Migration sehr unterschiedlich ist. Wir haben uns im Podcast vor allem auf die Insel Lesbos konzentriert, die zuletzt 2020 wegen des Brands große mediale Aufmerksamkeit erlangte. Deswegen wollten wir genau dorthin und schauen, wieso keiner mehr dahin sieht. Und heute wissen wir: der Trend auf Lesbos geht in Richtung stärkere Bewachung und Isolierung. Wir haben uns gefragt, wie es sein kann, dass Geflüchtete bei sogenannten Pushbacks völkerrechtswidrig zurückgedrängt werden. Warum gelingt ein besserer Umgang mit Geflüchteten aus anderen Ländern? Auch eine provokante Frage wie: Sind die schlechten Zustände in Lagern wie Moria, vielleicht auch eine politische Strategie, um Menschen von der Flucht nach Europa abzuschrecken? Das sind alles Fragen, die uns geleitet haben und die wir versuchen, im Podcast zu beantworten.

Wie lange haben Sie insgesamt am Podcast gearbeitet und wie viele Personen waren an der Recherche und an der Ausarbeitung des Podcasts beteiligt?

Sham Jaff: Es hat sehr lange gedauert. Ungefähr ein Jahr Arbeit hat der Podcast beansprucht, und so lange haben wir uns auch inhaltlich mit diesem Thema beschäftigt. Wir wollten die Komplexität der Thematik aufzeigen und nicht nur einseitig berichten. Es waren auf jeden Fall dutzende Menschen an diesem Projekt beteiligt. Wir haben die recherchierten Informationen immer mehrfach überprüft. Wir haben uns um einen Ton bemüht, der die Hörer*innen nicht emotional überwältigt, sodass man nicht schon nach einer Folge emotional überfordert ist. Dazu gehört natürlich viel strategische Planung.

Beim Thema Asylpolitik ist es unmöglich ein Rechercheende zu finden. Planen Sie eine Fortsetzung des Podcast?

Sham Jaff: Eine Fortsetzung wünschen wir uns alle. Es ist ein wichtiges Thema, das zu wenig Beachtung bekommt. Es wird weiterhin aktuell bleiben, in den nächsten Jahren, in den nächsten Jahrzehnten. Immer mehr Menschen werden ihre Länder verlassen müssen, sei es aufgrund von Krieg oder sogar Klima. Ich würde mir persönlich eine Fortsetzung wünschen, aber das liegt nicht in meiner Hand.

Das Interview führten Johanna Zoe Schmidt und Célia Seddor. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang „Mehrsprachige Kommunikation” an der TH Köln.

Porträt Sham Jaff

Porträt Sham Jaff

Zusätzlich ist ein kurzes Videointerview zum Projekt entstanden, realisiert von Studierenden des BA Intermedia an der Universität zu Köln:

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