Es braucht Vorbilder, damit Träumen möglich wird
Esra Karakaya ist Journalistin und Moderatorin des TikTok-Kanals „KARAKAYA TALKS“. Zusammen mit ihrem Redaktionsteam verhandelt sie Themen, die im deutschen Nachrichtendienst oft unbeachtet bleiben. Die Social-Media-Plattform nutzt sie, um mit ihren kurzen Videos vor allem ein jüngeres Publikum zu erreichen. Komplexe journalistische Themen werden auf unterhaltsame, zugängliche Weise und in einer zielgruppengerechten Sprache vermittelt, unterstützt von einer umfangreichen Quellenübersicht. Im Jahr 2020 erhielt Esra Karakaya bereits einen Grimme Online Award, jetzt ist sie für einen #GOA23-Award nominiert. Diesmal mit ihrem TikTok-Kanal in der Kategorie „Information“.
Was hat dich inspiriert deinen Kanal, KARAKAYA TALKS, zu erstellen? Was war dein Gedanke dahinter?
Esra Karakaya: Der Hintergedanke war, dass ich gerne journalistisch aufgearbeitete Informationen an Zielgruppen gebe, wo ich das Gefühl habe, dass diese solche Informationen sonst oft nicht bekommen. In unserem Fall sind das junge Millennials und Gen Z of Colour oder BIPoCs (Black, Indigenous, People of Color). Wir versuchen nicht mit unserem Format Leute zu erreichen, die ohnehin schon politisch informiert sind und jeden Tag die Zeitung und Nachrichten lesen, sondern eher Leute, die etwas „Nachrichten-verdrossen“ sind. Auf TikTok erreichen wir Menschen zwischen 18 und 24 und vermutlich auch jünger. Auf Instagram sind es eher Millennials, also 25- bis 35-Jährige. Das Ziel ist es, dass diese Zielgruppen wirklich zentriert werden. Dass ich für diese Zielgruppen, die auch mich selbst inkludieren, Inhalte auf eine Art und Weise aufbereite, die zugänglicher und knackiger ist und auch einfach ein bisschen Spaß macht. Das war der Grund, warum ich jetzt mache, was ich mache.
Wo kriegst du die Informationen her, über die du berichtest?
Esra Karakaya: Oft von zwei Ebenen. Entweder aus dem Team, denn wir sind auch Teil der Zielgruppe und wir stoßen selbst auf Instagram oder TikTok auf Themen. Wir stöbern im Internet oder auch im echten Leben. Die zweite Ebene ist durch Netzwerke. Vor ca. zwei Wochen habe ich eine Food-Aktivistin kennengelernt. Sie hat mir gezeigt, wie Sachen, die wir hier in Deutschland als Bio verkaufen, eigentlich von Arbeitenden im Osten, in Balkanländern produziert werden. Damit wir hier Bio-Produkte kaufen können, werden Menschen woanders unterbezahlt, auch wenn das Produkt an sich Bio ist. Und nur durch diese Gespräche mit anderen Leuten stoße ich auf Themen, die wir dann auf jeden Fall umsetzen müssen. Die Themen kommen also aus dem Team und aus einem Netzwerk an Menschen.
Wie entscheidest du dann, was relevant genug ist, um es im Anschluss auch zu veröffentlichen?
Esra Karakaya: Wir stehen für unterrepräsentierten, unabhängigen und community-orientierten Journalismus. Das heißt für uns eigentlich immer, dass wir uns eine Nachricht angucken und dann sagen: „Das hat eine Einzugsschneise, das ist irgendwie interessant für unsere Community“. Das zweite ist, wenn wir das Gefühl haben, dass die Systeme nicht genug beleuchtet werden. Wenn wir das Gefühl haben, dass das entweder gar nicht stattfindet oder wenig in den Mainstream-Medien stattfindet oder vielleicht aus einer anderen Perspektive berichtet werden kann. Und das dritte Kriterium ist: „Sind wir die Richtigen, die darüber sprechen sollten?“. Es gibt auch manchmal Themen, wo wir merken: das ist wichtig, aber das sollten andere Personen machen. Wir gucken uns wirklich verschiedene Faktoren an und das Wichtigste ist: „Kann unsere Community was damit anfangen? Nehmen sie das auf? Haben sie Bock darunter zu kommentieren, es weiterzuleiten und sich das vielleicht auch mehrmals anzugucken?“.
Macht ihr euch durch eure Themenwahl manchmal auch angreifbar?
Esra Karakaya: Ja, aber ich glaube, das ist eine sehr natürliche Gegebenheit, die jede Person hat, wenn sie im Social-Media-Bereich arbeitet. Ich glaube, dem kann man nicht wirklich entgehen. Aber auch das ist Teil des Jobs. Wir gehen nicht davon aus, dass wir die Wahrheit haben. Wir behaupten nicht, dass wir DIE richtige Perspektive haben oder DIE eine Antwort auf alles. Wir sagen ganz klar, es gibt verschiedene Perspektiven in der deutschen Medienlandschaft. Da ist nur ein ganz kleiner Teil von Perspektiven sichtbar und wir sind wie eine Zugabe dazu. Wenn das jemandem nicht gefällt, ist das auch in Ordnung. Jede Person darf eine eigene Meinung haben. Das ist für mich eigentlich etwas sehr Demokratisches.
Steckt bei deinen TikToks ein Drehset dahinter oder werden die privat im Zimmer zu Hause abgedreht?
Esra Karakaya: Ich mache es im privaten Zimmer zu Hause. Also da, wo ich gerade bin. Ich bin ganz oft geschäftlich unterwegs und da ist das sehr praktisch. Ich denke, man muss sich auch einfach eingestehen, dass Journalismus nicht überproduziert werden muss. Es darf auch sehr roh und authentisch rausgehauen werden.
Das bedeutet, du hast keine festen Drehtage, sondern wenn der Content passt und dir danach ist, dann drehst du?
Esra Karakaya: Nein, das kann ich mir leider nicht leisten. Ich habe schon Drehtage. Wir sind abhängig von den Social-Media-Plattformen und sie lieben es, wenn wir konsequent dranbleiben. Sie lieben es, wenn wir regelmäßig da sind.
Produzierst du deine Videos am selben Tag, an dem das Video hochgeladen wird?
Esra Karakaya: Nicht nur, ich würde sagen zu 50 % ist es an demselben Tag produziert. Zu 25 % am Tag vorher und die anderen 25 % sind dann die wirklich lange vorher produzierten Videos, das heißt so ca. einen Monat vorher.
Du machst Reels, TikToks und Instagram-Stories. Alles Formate, die sind ja eigentlich nicht wirklich lang sind. Wie lang dauert es insgesamt ein Video zu veröffentlichen, von Themenfindung über Recherche und Produktion bis hin zum Hochladen?
Esra Karakaya: Meine Videos dauern, mit allen Menschen involviert, ungefähr acht bis zehn Stunden, bis zu dem Punkt, an dem es hochgeladen wird. In der Zeit enthalten sind Themenfindungen, Recherche, die Produktion selbst, das Social-Media-Captioning, das Key-Wording, das Hochladen und dann kommt auch noch mal das Community-Management dazu. Ich würde sagen, pro Video sind wir bei 10-11 Stunden.
Uns ist auch diese gewisse Lässigkeit in deinen Videos aufgefallen, wodurch du den Zuschauer*innen das Gefühl gibst, sie reden mit einer Freundin. Ist das etwas, was dir in deiner Jugend gefehlt hat, wenn es um Nachrichten ging?
Esra Karakaya: Auf jeden Fall! Und nicht nur, dass es lässig ist, das ist es auf jeden Fall auch. Zusätzlich geht es auch um die Wörter und die Sprache, die benutzt werden. Kennt ihr das, wenn man irgendwas guckt und sich denkt: „Wir sprechen dieselbe Sprache, aber ich verstehe nichts?“. Ich glaube, das ist es, woran ich mich immer gerieben habe. Ich versuche in meinen Videos auch zu signalisieren, wenn eine Person etwas nicht versteht, liegt es meistens nicht daran, dass die Person ein Problem hat, sondern daran, wie es gesagt wurde. Vielleicht ist es zum Beispiel nicht passend genug beschrieben worden. Ich will nicht, dass unsere Zielgruppe das Gefühl bekommt, Nachrichten sind etwas für andere, das ist nur für diejenigen, die studiert haben. Nein! Ich möchte eigentlich signalisieren: „Wir sind alle wichtig, wir haben alle das Recht auf eine Meinung“. Also ja, es hat mir gefehlt und es macht mir sehr viel Spaß, das in meinen Videos komplett rauszulassen.
Meinst du, wenn du diese Art von Videos in deiner Jugend gehabt hättest, dass du dich anders entwickelt hättest oder es in irgendeiner Form zu deiner Entwicklung beigetragen hätte?
Esra Karakaya: Ja, auf zwei verschiedenen Ebenen: Ich glaube, ich hätte mich viel früher politisiert. Hätte ich mit 15 oder 16 Jahren eine Person gehabt, die mir Themen auf eine Art und Weise erklärt, die ich verstehen kann, hätte ich das Gefühl bekommen, dass ich mich dazu positionieren darf. Und das zweite ist, dass Träume auf dem basieren, was wir sehen. Wenn ich als 13-Jährige vielleicht eine Moderatorin mit Kopftuch gesehen hätte, dann hätte ich vielleicht damals schon angefangen. Es braucht Vorbilder, damit Träumen möglich wird. Deshalb glaube ich schon, dass es für mich einen Unterschied gemacht hätte.
Jetzt haben wir gerade über deine Vergangenheit geredet. Wo siehst du dich denn in 10 Jahren?
Esra Karakaya: Am liebsten wäre mir, dass KARAKAYA TALKS in einer Form skaliert, dass wir uns nachhaltig finanzieren können. Ich will, dass die Personen bei uns so viel Geld verdienen, dass sie sagen können: „Ich mache was für die Gesellschaft und werde dafür richtig gut bezahlt“. Mir gefällt die Haltung, dieses: „Ich mach was für die Gesellschaft, deshalb muss ich weniger bezahlt werden“, nicht. Ich will, dass unser Impact skaliert, aber unser Team relativ klein bleibt. Irgendwann wird der Moment kommen, in dem ich mich von KARAKAYA TALKS trennen muss. Es trägt zwar meinen Namen, aber es muss eigentlich von den nächsten Leuten weitergeführt werden. Das ist ja eigentlich ein Gesellschaftsgut. Für mich selbst habe ich dann andere Träume. Die Medienwelt macht mir sehr viel Spaß. Wenn ich in den öffentlich-rechtlichen Strukturen arbeiten sollte, dann nur als Intendanz, denn da wird man gut bezahlt. Alles andere kann ich nicht sein. Ich werde immer irgendwie neue Sachen gründen.
Hast du auch mal schlechtes Feedback erhalten? Beispielsweise privat, weil du TikTok-Videos postest oder eine Person des öffentlichen Lebens bist?
Esra Karakaya: Ja, ich habe schon mal schlechtes Feedback bekommen, aber das waren eher Meinungsverschiedenheiten. Ich hole mir natürlich Feedback und schlechtes Feedback ist für mich nicht schlechtes Feedback, sondern immer eine Information. Schlecht hört sich immer so schwer und negativ an. Aber an sich ist Feedback, neutral gesehen, eine Information, bei der ich dann entscheide: will ich sie annehmen oder nicht.
Was für eine Veränderung wünschst du dir, wenn es um nachrichtendienstliche Kooperationen auf EU-Ebene geht?
Esra Karakaya: Symbolisch will ich gerne, dass in der deutschen Medienwelt anerkannt wird, dass wir nicht objektiv berichtet haben in den letzten Jahrzehnten, sondern dass wir eine ganz klare Positionierung haben, nämlich ein eurozentrischer Winkel. Es gibt einen eurozentrischen Blickwinkel, der auch die Medienhäuser prägt. Es ist wichtig anzuerkennen, dass es ein Spektrum an Wahrheiten gibt und dass wir all diese Perspektiven auch wirklich brauchen. Das zweite, was ich verändern möchte, ist, dass Menschen in Machtpositionen, vor allem in den öffentlich-rechtlichen, klare Konsequenzen erfahren, wenn sie nicht die ganze deutsche Bevölkerung adäquat vor und hinter der Kamera involvieren und repräsentieren. Ich würde auch gerne Mechanismen sehen, bei denen Personen, die einer vulnerablen Gruppe angehören und im System sehr angreifbar sind, auf irgendeine Weise geschützt werden. Aber das Wichtigste für mich ist, dass es erstmal konkrete, klare Konsequenzen gibt für diejenigen, die sich ausruhen und sagen, das kommt mit der Zeit.
Das Interview führten Avnee Khans und Evelyn Herrmann Vegas. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang „Mehrsprachige Kommunikation“ an der TH Köln.
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