Lebensgeschichten von Gefangenen des KZ-Flossenbürg

Die Befreiung jüdischer Menschen liegt nun 78 Jahre zurück und es gibt immer weniger Zeitzeug*innen. Was passiert, wenn diese Menschen nicht mehr sind? Wer erzählt ihre Geschichte? Mit dem Projekt „Keeping Memories“ macht die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg es möglich, dass diese Erinnerungen nicht in Vergessenheit geraten. Eine Interaktive Lernplattform in Form einer Mind Map, mit der man mehr über die Leben der verfolgten Frauen, Männer, Menschen aus verschiedenen Ländern und Homosexuellen lernen kann. Die Gedenkstätte Flossenbürg ist für den Grimme Online Award 2023 in der Kategorie „Wissen und Bildung“ nominiert. Johannes Lauer berichtet von den Anfängen, der Entwicklung, Beweggründen und der Zukunft der Plattform.

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Screenshot „Keeping Memories“

Wann und wie ist die Idee für das Projekt entstanden? Gab es einen bestimmten Grund für den Zeitpunkt der Veröffentlichung?

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Johannes Lauer: Wir haben zusammen mit dem Jüdischen Museum in Hohenems in Österreich eine Ausstellung entwickelt, die sich „Ende der Zeitzeugenschaft?“ nennt und im Zuge dieser Ausstellung dachten wir, wir haben so viele Hinterlassenschaften von Überlebenden nationalsozialistischer Verbrechen, die bei uns in den Archiven digital vorliegen. Diese Frage nach dem Ende der Zeitzeug*innen: „Was passiert, wenn wirklich niemand mehr lebt, der von dieser Zeit erzählen kann?“, hat uns bewegt. Nachdem die Ausstellung bei uns ausgelaufen ist, dachten wir, wir müssen was für junge Leute machen. Das war eine relativ intellektuelle Ausstellung, wo auch das Zielpublikum nicht unbedingt Schulklassen waren. Wir hatbn dann über die Kulturstiftung des Bundes, die auch dieses Projekt finanziert hat, einen Förderantrag geschrieben und der Förderzeitraum war genau ein Jahr. Nach dem Bescheid waren es dann noch zehn Monate. Das heißt, wir mussten innerhalb von zehn Monaten dieses Projekt unter Pandemie-Bedingungen starten, durchführen, entwickeln und dann auch veröffentlichen. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung war deshalb in diesem Sinne gesetzt.

Die Mind Map, die Sie erstellt haben, ist inhaltlich sowie auch äußerlich sehr umfangreich. Mit all der Recherche und dem Visualisieren der Daten, wie groß ist Ihr Team?

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Johannes Lauer: Das Team, das diese Plattform entwickelt hat, waren drei Leute in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Julius Scharnetzky, Louis Volkmer und ich. Wir hatten zwei Gruppen, die eine war eine sogenannte Expert*innengruppe, das waren Expert*innen aus dem Bereich Digitales Lernen und Website-Programmierung und für Social Media haben wir eine Expertin, Eva Hasel, die dabei war. Zusätzlich hatten wir dann noch sogenannte Vertreter*innen der Zielgruppe. Das waren sieben Schüler*innen vom Kepler-Gymnasium, plus fünf Studierende aus ganz Deutschland. Wir haben Unis angeschrieben, auch über Kontakte, die wir hatten, und dann haben sich knapp 25 Leute beworben. Die Teilnahme wurde auch über die Kulturstiftung bezahlt, sowohl die Schülerinnen und Schüler als auch die Studierenden wurden bezahlt. Das heißt, wir haben mit dieser Zielgruppe zuerst digital eine Plattform entwickelt. Für alles, was mit dem Befüllen zu tun hat, mit der Recherche und den Biografien hatten wir auch Unterstützung von den Studierenden, aber im Endeffekt lag das bei uns hier im Kernteam von der Gedenkstätte.

Wieso haben Sie sich entschieden, das Projekt interaktiv zu machen? Was erhoffen Sie durch die Gestaltung einer Mind Map bei den jungen Nutzer*innen auszulösen?

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Johannes Lauer: Das wollten gar nicht wir, dass wollten die jungen Leute, also dieser Ansatz des Projekts war genau umgekehrt. Wir haben gefragt: was wollt ihr inhaltlich und wie wollt ihr es haben? Optisch, technisch, grafisch, wie auch immer, das Ergebnis war diese Plattform. Wir haben erst mal gefragt: wie lernt ihr denn überhaupt? Und dann war ganz klar, sie wollen was Biografisches haben, sie wollen Leute kennenlernen. Nicht nur in der Zeit des Nationalsozialismus, sondern auch davor und danach. Wir wollen selbst bestimmen, wir wollen entscheiden, wie tief wir reingehen und zu welchen Themen wir das machen. Die Offenheit dieser Plattform, wo geht es denn überhaupt hin. Und vielleicht nicht dieses Ziel direkt vor Augen zu haben mit einem Endergebnis, sondern sich einfach zurechtzufinden, das ist genau dieser Ansatz, der von der Zielgruppe kam.

Bisher werden sechs Personen namentlich genannt: Richard Grune, Galina Stutschinskaja, Samuel Brückner, Helga Pollak-Kinsky, Ljubiša Letić und Oscar Albert. Wie kam es genau zu diesen sechs Menschen?

Johannes Lauer: Wir sind natürlich ein bisschen von dem Quellenbestand ausgegangen, zu dem wir Material vorliegen haben, um nicht wirklich bei null bei der Recherche anzufangen. Aber uns war bei dieser Plattform wichtig, ist es auch noch, und das wird man bei den nächsten zwei Biografien, die kommen, auch noch merken, dass wir eine Bandbreite an Opfergruppen abbilden wollten. Dass wir homosexuelle Häftlinge, beziehungsweise Verfolgte nach Paragraph 175 drin haben, dass wir auch Frauen dabei haben und nicht nur rein männlich dominiert sind. Dass wir diese ganze europäische Bandbreite der Verfolgung und diese verschiedenen Opfergruppen klarmachen. Als nächste Biografie kommen Sinti und Roma dazu. Das heißt, all diese Bandbreite der Verfolgung wollen wir auch aufmachen. Das und der Quellenbestand haben dazu geführt, dass wir diese, aktuell sechs Personen drin haben.

Gab es irgendwelche Herausforderungen oder Probleme bei der Beschaffung der Quellen? Kam alles aus ihrem Archiv oder haben Sie selbst auch noch mal nach Überlebenden oder Angehörigen gesucht?

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Screenshot „Keeping Memories“

Johannes Lauer: Der Großteil kam von uns aus dem Archiv. Wir haben bei den Personen, wenn wir bei unserer Recherche erfahren haben, dass es da noch Lücken gibt, nochmal nachgebohrt an Stellen. Beim Tagebuch von Helga Pollak-Kinsky war es zum Beispiel so, dass wir noch mal tiefer gegraben haben, um auch dieses Originaltagebuch noch mal zu bekommen, was wir noch nicht hatten. Aber auch diese Zielsetzung ist aus der Idee herausgewachsen: was machen wir mit dem, was wir haben? Gerade unsere Videosammlung ist nicht so klein. Alle Zeitzeug*innen-Interviews waren bei uns schon in der Sammlung.

Ihr Projekt hat eigene Social-Media-Kanäle auf TikTok und Instagram. Wieso haben Sie sich dazu entschieden, das Projekt dort vorzustellen? Gerade TikTok ist ja bekannt als „Tanz-App“, warum also genau die zwei Plattformen?

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Johannes Lauer: Das war auch ein Wunsch der Zielgruppe, dem wir uns nicht entziehen konnten, gerade im Fall von TikTok. Einen Instagram-Kanal hatten wir schon vorher und haben den auch schon bespielt. Aber die Idee, auch Inhalte in den sozialen Medien zu teilen, kam ganz klar von der Zielgruppe. Wir waren in der TikTok Short Cooperation Initiative, das war eine Initiative, die von der Hebrew University in Jerusalem ausging. Zusammen mit TikTok haben sich Gedenkstätten zusammengeschlossen, um den Umgang mit dem neuen sozialen Medium TikTok zu lernen und zu gucken, ob wir das für uns als Gedenkstätte nutzen wollen. Gleichzeitig war es auch ein Test mit den Zuschauer*innen: wie funktionieren historische Inhalte auf der Plattform. Das war auch der Wunsch der Zielgruppe, dass wir eben nicht diese Cuts alle paar Sekunden machen, sondern eigentlich eher untypische Videos auf TikTok. Längere Interviews, Sequenzen, die auch teilweise zwei Minuten gehen, wo man Personen zuhört, das Ganze natürlich auch grafisch und visuell aufbereitet.

Wir haben gesehen, dass die Videos auf TikTok tausende bis zehntausende und einige sogar hunderttausende Aufrufe haben. Gab es schon Rückmeldungen oder Kommentare?

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Screenshot „Keeping Memories“

Johannes Lauer: Die Reaktionen sind, ich sag mal auf akademischer Ebene oft: warum seid ihr da, was macht ihr da überhaupt? dieses Vorurteil von Tanz-App, das ist aber eher die Altersrange ab 40, die auch noch nie auf dieser Plattform war. Und seitens der Jugendlichen haben wir sehr viele positive Reaktionen bekommen, auch wirklich wenig das Thema Hate Speech. Wir mussten vielleicht ein oder zwei Kommentare löschen, aber das war‘s. Stattdessen war es so, dass viele Leute die Chance hatten uns auf Augenhöhe eine Nachricht zu schreiben, um nochmal nachzufragen und das war ein totaler Augenöffner. Wenn es eine historische Frage gibt; die schreiben uns niemals eine E-Mail oder rufen hier an und fragen nach, aber so einen kleinen Kommentar zu hinterlassen geht schnell. Das ist ein Riesenvorteil auf dieser Plattform und das muss man natürlich ernst nehmen.

Sie haben auf der Website auch eine Handreichung für Lehrer*innen mit einem Arbeitsauftrag für Schüler*innen. Woher kam die Idee und gab es schon Rückmeldungen von Lehrer*innen?

Johannes Lauer: Die gab es und die sind sehr hoch, weil sie sich oft nicht auf der Plattform zurechtfinden. Das ist genau dieser Altersunterschied zwischen „wir wollen das so haben und wir kommen nicht damit zurecht“. Dass ist genau dieses Spannungsfeld, das wir festgestellt haben. Wenn diese Plattformen im Unterricht eingesetzt werden soll, haben die meisten Lehrerinnen und Lehrer nicht die Zeit, sich die Plattformen in Gänze anzuschauen und daraus Arbeitsaufträge zu entwickeln. Deshalb haben wir jeden Tag zwei Lehrkräfte hier vor Ort, die normalerweise Führungen machen. Die haben dann auch konzeptionell mitgearbeitet und diese Handreichung erarbeitet, die wir jetzt auch noch mal überarbeiten mit den zwei neuen Biografien, mit neuen Verfolgungshintergründen. Aber für den Einsatz im Unterricht haben wir einfach gemerkt, dass man da noch eine Hilfestellung braucht für die Lehrkräfte.

Gab es bei der Umsetzung des Projekts für Sie persönlich oder aus ihrem Team eine Person oder eine Geschichte, die vielleicht besonders in Erinnerung geblieben ist bei der Recherche?

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Screenshot „Keeping Memories“

Johannes Lauer: Fangen wir beim Projekt selbst an. Wir haben uns das erste Mal bei dem Abschluss-Workshop live gesehen, dann sitzen wir hier und was macht der wahrscheinlich jüngste Schüler? Zieht seinen Laptop raus, zeigt selbst, was er programmiert hat, wo erstmal alle Münder aufgegangen sind. Das kann nicht sein, dass er dem Designer erklärt, wie er es haben will. Totaler Wahnsinn! 11. Klasse! Wir waren wirklich richtig begeistert, mit welchem Herz diese jungen Leute bei der Sache waren, und es war einfach schön zu sehen, dass sie das nicht nur für das Geld oder für die Teilnahmebescheinigung gemacht haben, sondern dieses Interesse von sich aus kam. Bei den Biografien habe ich sehr lange an der von Galina Stutschinskaja gesessen, wo mir noch mal anhand ihres Beispiels klar wurde, dass die Verfolgung 1945 nicht zu Ende war. Dieses Misstrauen, was sie von staatlicher Seite ihr Leben lang erfahren hat, fernab von jeder „1945 – der Krieg ist zu Ende, Happy-End-Story“, sondern eine andere Art der Verfolgung auf eine bedrückende Art und Weise. Das geht einem dann doch auch in der Recherche noch mal nah.

Sind noch mehr oder ähnliche Projekte in Planung oder liegt der Fokus erstmal nur auf diesem Projekt?

Johannes Lauer: Also wir sind perspektivisch nie fertig mit dieser Homepage. Wir machen noch eine Art Themenpfad. Der eine nennt sich „vor der Verfolgung“ oder „Verfolgungsgründe“, dann „Alltag im Konzentrationslager“ und „nach der Befreiung“: was mit den Leuten passiert ist. Man kann sich dann anhand dieser Themen durchklicken. Das heißt, wir sind hier erstmal gut beschäftigt. Wir haben noch in einer anderen Abteilung ein Projekt, das nennt sich Research Stories, da geht es um diesen Prozess der Quellenrecherche.

Das Interview führten Malaika Khan und Carina Meyer. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang „Mehrsprachige Kommunikation” an der TH Köln.

Porträt Johannes Lauer

Porträt Johannes Lauer

Zusätzlich ist ein kurzes Videointerview zum Projekt entstanden, realisiert von Studierenden des BA Intermedia an der Universität zu Köln:

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