Endlich wieder!

„So früh gab es noch nie Standing Ovations bei einem Grimme Online Award!“ Auch wenn Moderatorin Mona Ameziane sie mit einem kleinen Trick beim Publikum erschlichen hat, ist das als Feststellung absolut korrekt. Und eigentlich hat sich Mona Ameziane selbst ausgetrickst. Hatte sie doch erwartet, dass zwei bis drei Reihen aufstehen, bei der Bitte an die Nominierten, sich von den Stühlen zu erheben. Zur Überraschung der Moderatorin steht aber der halbe Saal auf. Aus gutem Grund: Die Preisverleihung ist zunächst mal die Feier der Nominierten – und sie bekommen gleich zu Beginn einen Riesenapplaus. Gar nicht, weil sie es auf die Nominiertenliste geschafft haben, sondern als Dank für ihre wunderbaren Online-Angebote.

Gruppenfoto aller Preisträger*innen und der Preispat*innen am Ende der Preisverleihung. Foto: Stefan Wernz/Grimme-Institut

Gruppenfoto aller Preisträger*innen und der Preispat*innen am Ende der Preisverleihung. Foto: Stefan Wernz/Grimme-Institut


Das Publikum macht am Ende der Preisverleihung Selfies. Foto: Frank Metzenmacher/Grimme-Institut

Das Publikum macht am Ende der Preisverleihung Selfies. Foto: Frank Metzenmacher/Grimme-Institut

In zweitägiger Diskussion hat die Jury Preisträger aus den Nominierten ausgewählt, bis zu acht können es sein, es können aber auch nur sieben oder sechs sein – und sie müssen sich nicht gleichmäßig auf die Kategorien verteilen. Und: Die Preisträger*innen wissen noch nichts von ihrem Glück. Das verkünden die Preispat*innen des Abends, zunächst die Fair-Fashion-Aktivistin Marie Nasemann, die auch Schauspielerin, Podcasterin, Buchautorin und zweifache Mutter ist. Auf die Frage, wie viele Stunden wohl ihr Tag habe, bekennt sie: „Zwei Kinder – das ist der anstrengendste Job, den ich je hatte!“. Sie und ihr Mann waren ein bisschen geschockt vom Elterndasein, es sei doch sehr anders, als man es auf Instagram sonst sehe. „Wir aber finden es wichtig, ehrlich darüber zu sprechen“, erklärt sie hauptsächlich in Bezug auf den Podcast, „und Leute, die noch keine Kinder haben, davor zu warnen“. Ob die auf diese hinterhergeschobene Bemerkung folgenden Lacher von Menschen im Publikum kommen, die Kinder haben, oder die keine haben, ist nicht auszumachen.

Aufklärung im Safespace

Das Team von "safespace.offiziell" mit Trophäe und Preispatin Marie Nasemann. Foto: Frank Metzenmacher/Grimme-Institut

Das Team von „safespace.offiziell“ mit Trophäe und Preispatin Marie Nasemann. Foto: Frank Metzenmacher/Grimme-Institut

Ihre Laudatio in der Kategorie Wissen und Bildung hält sie auf den Aufklärungs-TikTok-Kanal „safespace.offiziell“ des rbb. Nach dem riesigen Jubel der Macher*innen fragt Nasemann erstmal ins Publikum, wer eigentlich von den eigenen Eltern aufgeklärt wurde. Um den positiven Aspekt hervorzuheben: Die Zahl der hochgehenden Hände ist innerhalb von Sekunden zählbar. Nasemann selbst hat sich quasi selbst aufgeklärt, mithilfe eines Buches im Wohnzimmer der Eltern. Nur: Ihre eigentlichen Fragen wurden darin nicht beantwortet. Tja, hätte es damals schon „safespace“ gegeben – die Hosts beantworten wirklich jede Frage. Inwiefern ihr Kanal ein Safespace für sie selbst sei, möchte Mona Ameziane wissen. „Das Team untereinander ist ein Safespace“, antwortet Host Säli, „und der Austausch mit den Follower*innen.“ Und zum Vertrauensverhältnis zur Community ergänzt Saphira: „Das liegt vor allem daran, dass wir offen und ehrlich von unseren eigenen Erfahrungen sprechen.“ Was die Jury besonders hervorhob an dem Kanal, nämlich die Diversität der Hosts und die Authentizität des Kanals, sieht auch Redakteurin Ariane Böhm als USP: „Wir wollen nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechen. Die Hosts zeigen sich ungeschminkt, auch mit Pickeln, das ist völlig normal.“

Gezeichnete Dokufiction

Das Team von "Nuclear Games - Die atomare Bedrohung" mit Preispate Simon Beeck. Foto: Frank Metzenmacher/Grimme-Institut

Das Team von „Nuclear Games – Die atomare Bedrohung“ mit Preispate Simon Beeck. Foto: Frank Metzenmacher/Grimme-Institut

Es wechselt zwar der Laudator, aber nicht die Kategorie: Moderator Simon Beeck kommt auf die Bühne und wird von Mona Ameziane unauffällig auf seine hervorragenden Kohlrouladen angesprochen – offenbar hätte sie trotz hochsommerlicher Temperaturen nichts gegen eine Einladung. Seine Mutter würde das Kohlrouladen-Kompliment freuen, erklärt Beeck, dass seine Tätigkeit für „Love Island“ hier erwähnt wird nicht, „das sind ihr zu viele Nackte.“ Seit Beeck aber die Frühsendung von RTL moderiert, ist er vor allem Einschlaf-Experte – und auch er hat eine Frage ans Publikum: „Experten sagen, man soll das Handy die letzten 30 Minuten bevor man ins Bett geht nicht in die Hand nehmen. Wer macht das?“ Es gehen noch weniger Hände hoch, als bei Nasemanns Aufklärungsfrage. Da aber Simon Beeck früh ins Bett muss, verkündet er schnell den nächsten Preisträger in der Kategorie Wissen und Bildung: „Nuclear Games – die atomare Bedrohung„. Auch wenn dieses Angebot in fünf Kapiteln als Graphic Novel die Vergangenheit der Nukleartechnologie nahebringt, hat es doch mehr mit der Gegenwart zu tun, als uns allen lieb ist. „Trauriger Fun Fact“, bringt Simon Beeck es auf den Punkt, „ihr konntet von all dem, was Putin macht, noch nichts ahnen, als ihr euch dem Thema gewidmet habt.“ „Wir überlegen, wie wir es fortführen können“, sagt auch Daniel von Aarburg, einer der Autoren, „es hat durch den Krieg eine neue Aktualität und Bedeutung bekommen.“ Zu der Idee, das Thema als Graphic Novel aufzubereiten, erklärt Patrick Müller: „Wir wollten einen Blick hinter die Kulissen geben – es ist auf eine Art und Weise eine Dokufiction“.

Die Biosphäre scrollen

Freude bei den Preisträgern von "Umwelt in Ostdeutschland" bei der Nennung ihres Angebotes. Foto: Stefan Wernz / Grimme-Institut

Freude bei den Preisträgern von „Umwelt in Ostdeutschland“ bei der Nennung ihres Angebotes. Foto: Stefan Wernz / Grimme-Institut

Nachdem Mona Ameziane gerade noch erklärt hatte, dass es nicht ganz intuitiv ist, wann die Preisträger*innen auf die Bühne kommen sollen, stellt sie fest, dass auch die Verteilung der Laudator*innen nicht ganz intuitiv ist. Aber Simon Beeck macht alles, was sie sagt – auch sich ans Pult schicken lassen, obwohl noch das Nominiertenvideo für die Kategorie Information geschaut werden muss. In dieser Kategorie darf Simon Beeck noch eine Laudatio halten – und dabei eine Reise in die Vergangenheit unternehmen: „In den See können wir nicht gehen, der ist giftig“, hat er früher gehört und er erinnert sich: „Ich hatte eine Kindheit, die nicht so viele Farben hatte – alles war grau.“ Simon Beeck verbrachte seine Kindheit in der DDR – und laudatiert für „Umwelt in Ostdeutschland„, eine Scrolldoku über die Entwicklung der Umweltverschmutzung in Mitteldeutschland. Hier war die Jury besonders von der gekonnten Gestaltung beeindruckt – endlich ergibt von oben nach unten Scrollen mal wirklich Sinn, denn hier bewegt man sich vom Himmel bis tief in die Erde und erfährt so etwas darüber, wie landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften und Kombinate das Ökosystem Mitteldeutschlands belastet haben. „Es war eine schwierige Suche, wir haben tausend Menschen gefragt, ob sie etwas wissen“, beschreibt Autor Michael Schönherr die Recherche in DDR-Altbeständen zu dem Projekt, „die Daten gab es schon seit den 1970er Jahren, sie sind aber meistens im Giftschrank gelandet.“

Gesellschaftliche Entwicklung am Einzelfall erklärt

Gruppenfoto des Teams von "Cui Bono - WTF happened to Ken Jebsen?" mit Preispate Rezo (l.). Foto: Stefan Wernz / Grimme-Institut

Gruppenfoto des Teams von „Cui Bono – WTF happened to Ken Jebsen?“ mit Preispate Rezo (l.). Foto: Stefan Wernz / Grimme-Institut

„Apropos Giftschrank“ könnte die etwas platte Überleitung zum nächsten Preispaten lauten: YouTuber Rezo wird von Mona Ameziane mit den häufigsten Suchvorschlägen bei Google über ihn konfrontiert. Das Geburtsdatum wird von ihm eindeutig auf den 14.8.1992 festgelegt und auf die Frage nach der möglichen Freundin, über die es verschiedene Spekulationen gibt, stellt er fest, dass er inzwischen häufiger mit Männern in Verbindung gebracht wird. Auch oft gesucht wird nach „Rezo ohne blaue Haare“ – so lange ist das gar nicht her, seit 2016 hat er die markante Haarfarbe. Mona Ameziane und er überlegen dann, ob er wohl als Rentner noch blaue Haare haben wird. „Das wär ganz lustig, damit überdeckt man die grauen Haare“, findet Rezo. Aber für lustige Geschichten aus seinem Leben ist er ja nicht da, sondern für die Laudatio auf den nächsten Preisträger – immer noch in der Kategorie Information.

„Ich habe eben eine Story gepostet, dass ich Laudator bin und nicht weiß, was ich tun soll“, setzt er an – und er hätte auch Tipps bekommen, unter anderem: „Ich soll am Anfang ganz laut Penis brüllen, dann wäre die Aufmerksamkeit da.“ Das macht er natürlich nicht, sondern verkündet den Preisträger „Cui Bono – WTF happened to Ken Jebsen?„. Mit Freunden hat sich Rezo eine Zeitlang zum Spaß immer YouTube-Clips von Ken Jebsen geschickt. „Das war funny, aber auch trügerisch, darüber zu lachen.“ Es sei wichtig, sich nicht nur über diese Spinner, die an den Grundpfeilern der Demokratie sägten, lustig zu machen, sondern sich damit auseinanderzusetzen. Angebote wie der Podcast „Cui Bono“ würden helfen, die Methoden und Ziele von Verschwörungsideologen zu verstehen. Sie seien „notwendig, um die Gesellschaft stark zu machen. Deshalb feiere ich den Podcast des Todes“, schließt Rezo seine Laudatio. Host und Autor Khesrau Behroz wird von Moderatorin Mona Ameziane auf der Bühne zunächst damit konfrontiert, dass sie die Aufgabe bekommen hat, mögliche Danksagungen „charmant abzubinden“ – und nicht wüsste, wie sie das machen soll. Wir können bezeugen: Es ist ihr gelungen! Im Gespräch erklärt Behroz dann, dass der ungewöhnliche Titel des Podcasts tatsächlich genau der Ausgangspunkt dafür war: „What the fuck happened to Ken Jebsen“ hätten sie sich gefragt und dann mit der Recherche begonnen. „Es ging nicht nur darum die Geschichte der Person zu erzählen, sondern auch die Geschichte von uns als Gesellschaft“, ergänzt Redakteur Tobias Bauckhage mit Blick auf den Podcast über Ken Jebsen aber auch auf die geplante Fortsetzung über Drachenlord.

Schreckliche Geschichte – trotzdem Suchtpotential

Die Preisträger*innen von "Slahi - 14 Jahre Guantanamo" mit Preispate Jonas Nay (l.) und Moderatorin Mona Ameziane (r.). Foto: Stefan Wernz / Grimme-Institut

Die Preisträger*innen von „Slahi – 14 Jahre Guantanamo“ mit Preispate Jonas Nay (l.) und Moderatorin Mona Ameziane (r.). Foto: Stefan Wernz / Grimme-Institut

Nach einem weiteren Song der Band des Abends, „Pudeldame„, kommt Sänger Jonas Nay zu Mona Ameziane in die Sitzecke – und sie sprechen ganz folgerichtig über … Handball. Denn Jonas Nay ist nicht nur Sänger und Schauspieler, sondern spielt zusätzlich schon ganz lange Handball im gleichen Verein. Auf die Frage allerdings, was die drei Sachen gemeinsam haben, fällt ihm auch nicht viel ein, außer: „Mir wird immer unterstellt, ich würde schauspielern, wenn ich hinfalle.“ Handball sei aber ein guter Ausgleich zum künstlerischen Schaffen, „es ist wie Rangeln mit Regeln“. Eine kleine Sonderstellung hat Jonas Nay aber doch: Wenn er nach dem Spiel drehen müsse, würden seine Mannschaftskollegen der gegnerischen Mannschaft vorher sagen „haut dem irgendwohin, wo man es nicht sieht.“

Jonas Nay laudatiert aber gar nicht für ein sportliches Angebot, sondern weiterhin in der Kategorie Information für den Podcast „Slahi – 14 Jahre Guantánamo“ und bekennt: „Alter Schwede, ihr habt mich komplett fertig gemacht!“ Die Geschichte des mauretanischen Einwanderers Mohamedou Slahi, der in Deutschland Ingenieur wird und später von den USA unter Terrorverdacht inhaftiert wird, habe er durchgehört, als er mit Bandkollegen zu einem Auftritt unterwegs war. „Es hat mich berührt und aufgewühlt und wütend gemacht und ungläubig“, berichtet Nay und er habe sich gefragt: „Was soll denn jetzt noch kommen? Ich wurde jede Episode überrascht. Bis zur letzten Minute hatte ich keinen Schimmer, wo die Reise hingeht.“ Und er schließt: „Ihr habt mir ein großes Geschenk gemacht und macht allen anderen auch ein großes Geschenk.“

Johanna Leuschen vom NDR, die nach dem Preis für „Cui Bono“ ein zweites Mal auf die Bühne kommt, meint, dass Stories in jedem Medium ziehen, wenn sie packend erzählt seien, aber im Podcast könne man in die Tiefe gehen und – wie bei Slahi – eine Geschichte über sechs Stunden und zwölf Folgen erzählen. Doch wie nahe kommt man seinem Protagonisten dabei? Das kann auch Autor Bastian Berbner nicht ganz eindeutig beantworten, denn Mohamedou Slahi sei eine „hochkomplexe Persönlichkeit, eine hochintelligente Persönlichkeit. Man konnte spüren, dass er genau weiß, was er tut.“ Aber mit mehreren Besuchen bei ihm und langen Gesprächen mit und über Slahi, würde Berbner hoffen, ihm sehr nahe gekommen zu sein. Die Uneindeutigkeit, die auch im Podcast bleibt, kommentiert Berbner mit den Worten: „Ist das nicht das geile? So ist halt die Realität. Ich kann es nicht zubinden und eine Schleife dran machen und euch sagen, was ihr zu denken habt, weil ich es selber nicht weiß. Wir versuchen uns so gut wie möglich zu nähern und wir haben genug Luft gelassen für alle Hörerinnen und Hörer, sich selber eine Meinung zu bilden.“

Der Neid des Preispaten

Preispate Georg Restle übergibt die Trophäe an Pia Siber von "Correctiv.Lokal". Foto: Stefan Wernz / Grimme-Institut

Preispate Georg Restle übergibt die Trophäe an Pia Siber von „Correctiv.Lokal“. Foto: Stefan Wernz / Grimme-Institut

Nach drei Preisträgern in der Kategorie Information wird jetzt aber wirklich gewechselt: Mit dem neuen Preispaten, Monitor-Redaktionschef Georg Restle, geht es in die Kategorie Spezial – mit den wenigsten Nominierten in der Konkurrenz. Theoretisch kann es aber bei drei Nominierten hier auch drei Preisträger geben. Zunächst aber sprechen Mona Ameziane und Georg Restle auch über den Ukrainekrieg und die Berichterstattung darüber. Dabei macht er vor allem auf die Journalistinnen und Journalisten vor Ort aufmerksam, die „da einen ganz tollen Job machen und einen sehr gefährlichen Job machen“. Dennoch gibt es gerade eine starke Nachrichtenmüdigkeit. Diese hätte viel damit zu tun, dass zwar viel, aber wenig Neues berichtet werde, so Restle, aber Formate wie Monitor seien erfolgreich, denn es gibt“ ein hohes Bedürfnis, Hintergrund über so einen Krieg, Zusammenhänge über so einen Krieg, Investigation über so einen Krieg, also klassischen Journalismus, präsentiert zu bekommen. Das macht mich optimistisch, dass diese Gesellschaft viel weiter ist, als die Programmmacherinnen und Programmmacher manchmal glauben.“

Ganz investigativ leitet Georg Restle die Preisvergabe ein, als er den goldenen Umschlag öffnet: „Ich tu was, was ich nicht tun sollte – ich fake hier. Ich tu so, als wüsste ich jetzt erst, wer es denn bekommt, dabei habe ich ja schon was aufgeschrieben und mitgebracht.“ Da aber die Preisträger*innen nicht wissen, wer den Grimme Online Award erhält, ist die Freude bei „Correctiv.Lokal“ sehr groß, als Restle sagt, dass er eine Laudatio für dieses Projekt sofort zugesagt hat: „Weil das so ein wichtiger Preis für so ein wichtiges Projekt ist, weil ich aus meiner täglichen Beschäftigung als Journalist weiß, dass vor Ort eine riesige Lücke entstanden ist in den letzten Jahren, über das Lokalzeitungssterben – und dass es da dieses Projekt gibt, das dagegen hält und sagt, wir vernetzen uns jetzt als Lokaljournalist*innen, wir bilden ein Netzwerk und zeigen, dass es wichtig ist, dass es investigative Recherchen nicht nur für die Großen gibt.“ Und er bekennt unter großem Applaus: „Ich bin neidisch, dass ihr das gemacht habt, weil ich der Auffassung bin, das sei eigentlich Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks so etwas zu machen. Und ihr zeigt uns da, was öffentlich-rechtlicher Rundfunk eigentlich tun sollte.“

Bei Pia Siber von „Correctiv.Lokal“ klingt im Gespräch ganz einfach, was sie tun – zum Beispiel Rechercherezepte erstellen: „Jeder hat schon mal ein Kochrezept in der Hand gehalten. Für die Recherche machen wir das gleiche – wir suchen alle Zutaten zusammen und erklären, wie man sie benutzen kann, um weiter zu recherchieren.“ Was ein Thema ist, das sie angehen, kann so abstrakt nicht gesagt werden. Oft würden sie nach Daten suchen, was aber im Lokalen nicht immer so einfach sei, oder in das Netzwerk hineinfragen, ob ein bestimmtes Thema für sie relevant ist. „Wenn da genügend zurückkommt, dann machen wir das!“

Inspiration aus Bildern

Die Preisträger*innen von "Im Dunkeln - ein Leuchten" auf der Bühne mit Moderatorin Mona Ameziane, links Preispatin Natalie Amiri. Foto: Stefan Wernz / Grimme-Institut

Die Preisträger*innen von „Im Dunkeln – ein Leuchten“ auf der Bühne mit Moderatorin Mona Ameziane, links Preispatin Natalie Amiri. Foto: Stefan Wernz / Grimme-Institut

Schade für die beiden anderen Nominierten in der Kategorie Spezial: Es gibt hier tatsächlich nur einen Preis – und es geht weiter mit der letzten Jurykategorie des Abends: Kultur und Unterhaltung. Laudatorin ist die Journalistin, Weltspiegel-Moderatorin und langjährige Auslandskorrespondentin Natalie Amiri. Ganz Literaturkritikerin spricht Mona Ameziane mit ihr über ihr jüngstes Buch, für das sie 100 Tage nach der Machtübernahme der Taliban nach Afghanistan gereist ist – entgegen aller Warnungen. Ihre Eltern ließ sie sogar in dem Glauben, sie sei auf einer Digital-Detox-Reise in Italien. „Ich hatte große Bedenken“, sagt Amiri, obwohl sie schon in so vielen – auch unsicheren – Gegenden war, aber „über all dem stand der unbedingte Wille, in das Land zu reisen, das wir 20 Jahre begleitet haben. Der Bevölkerung versprochen haben, dass wir an ihrer Seite stehen.“ Unglaublich anrührend spricht Amiri über ihre Erfahrungen vor Ort und das, was die Menschen ihr erzählt haben. Doch nicht nur als Buchautorin und Fernsehjournalistin ist Natalie Amiri aktiv, sie nutzt auch intensiv die Sozialen Medien, wo man auch die nachrichtenmüden Menschen erreichen könne, was wichtig sei, denn „je weniger Wissen wir haben von der Welt, desto mehr verirren wir uns Verschwörungstheorien“ und das sei eine große Gefahr für die Gesellschaft. Auch aus ihren Erfahrungen als Korrespondentin im Iran schlussfolgert Amiri, online sei „ein riesengroßes, mächtiges Instrument und ein Geschenk für die Zivilgesellschaft.“

Auch wenn alle im Saal Natalie Amiri gerne länger zugehört hätten, müssen doch noch Preise verliehen werden. Als erstes an „Im Dunkeln – ein Leuchten“ von der Staatsgalerie Stuttgart. Das Erforschen der Zeichnungen des jüdischen Emigranten Fred Uhlman mit der digitalen Taschenlampe sei anstrengend, aber durch diese Beteiligung wurde sie reingesaugt. „Wenn man dann das große Ganze erfasst, wenn man das begreift und in Fred Uhlmans Leben eintaucht, wird auf diese Art der Umsetzung alles noch bedrückender und intensiver und gleichzeitig auch wundervoll, weil es so menschlich und emotional wird und man unglaublich berührt ist.“

„Es waren die Bilder selbst, die inspiriert haben. Sie waren so düster auf den ersten Blick und je mehr man sich damit beschäftigt hat, desto mehr hat man dieses Leuchten gesehen“, sagt Ilona Hoppe, die die Idee zu dem Projekt hatte. Und die Umsetzung? „Der Prozess dahin ist das Anspruchsvolle“, sagt Robert Baldauf, „die eigentliche technische Umsetzung ist bei dem Format nicht die große Herausforderung gewesen, sondern der Weg von den Werken des Künstlers über das UX Prototyping bis hin zur finalen Lösung.“

Fluchterfahrung ganz nah

Überraschung bei Sitara Thalia Ambroiso über den Preis in der Kategorie Kultur und Unterhaltung für "Kandvala". Foto: Stefan Wernz / Grimme-Institut

Überraschung bei Sitara Thalia Ambroiso über den Preis in der Kategorie Kultur und Unterhaltung für „Kandvala“. Foto: Stefan Wernz / Grimme-Institut

Nach diesem außergewöhnlichen Projekt bleibt die Frage: Hat die Jury die acht möglichen Preise alle vergeben? Ja, hat sie. Natalie Amiri geht wieder ans Pult und verkündet den letzten Jury-Preisträger des Abends: „Kandvala“ und würdigt: „Ich konnte die Multimedia-Reportage nicht ausschalten, weil die Menschen nach ziemlich kurzer Zeit ein Gesicht bekommen haben.“ Die Bauruine „Kandvala„, die Flüchtenden als Unterkunft dient, sei „ein Ort, an dem man keinen einzigen Tag bleiben möchte“, und Sitara Thalia Ambrosio und Iván Furlan Cano seien fünf Tage vor Ort gewesen, bevor sie überhaupt angefangen hätten zu produzieren. Besonders hebt die Preispatin auch hervor, dass die beiden ohne Auftrag und selbstfinanziert dort waren. Und schließt: „Ich danke euch wirklich sehr für diese wunderbare Reportage.“ Im Gespräch mit den Macher*innen hebt Mona Ameziane gleich zu Beginn eine Sache hervor: Das Alter. Sitara Thalia Ambrosio und Iván Furlan Cano waren im gleichen Alter wie die Flüchtenden, als sie vor Ort waren. „Ich habe meinen 19. Geburtstag in Kandvala verbracht“, sagt Sitara Thalia Ambrosio, und zu ihrer Motivation: „Ich habe schnell festgestellt, dass ich mit dem Thema Migration arbeiten möchte. Weil ich sehen möchte, wie es den Menschen geht, weil ich die Zusammenhänge verstehen will und für andere verständlich machen. Und natürlich auch, weil wir mit der journalistischen Berichterstattung sonst ab und zu auch unzufrieden sind und uns denken eigentlich verdienen es diese Menschen, es ausführlicher zu erzählen.“

Unaufgeregte Wissensvermittlung

Gebärdensprachdolmetscher Thorsten Rose. Foto: Frank Metzenmacher / Grimme-Institut

Gebärdensprachdolmetscher Thorsten Rose. Foto: Frank Metzenmacher / Grimme-Institut

Nach einem weiteren Song der Band Pudeldame, möchte Mona Ameziane erst mal eins wissen: Wie ist die Gebärde für „Pudeldame“? Geduldig wiederholt Gebärdensprachdolmetscher Thorsten Rose immer wieder das Wort – aber ob Mona Ameziane es nun beherrscht? Als nächstes muss er auf jeden Fall das Wort „Publikumspreis“ gebärden, denn darum geht es jetzt. Der nun wirklich letzte Preis des Abends – und alle Nominierten sind wieder im Rennen. Auf die Bühne kommt wieder Rezo und verkündet die drei Erstplatzierten: „Das unsichtbare Kind“ von Correctiv, „Correctiv.Lokal“ und mit den meisten Stimmen „Scobel„.

„Ich war die letzten Jahre immer damit konfrontiert, dass es einen Widerspruch gäbe zwischen YouTube und Unaufgeregtheit“, leitet Rezo seine Laudatio ein, „Scobel zeigt total, dass das anders geht und dass es sehr gut geht. In den Videos ist es trotzdem so, dass die Themen einen packen, dass man nicht abschalten möchte, auch wenn nicht ständig Zooms und Jumpcuts sind, sondern dass es super spannend ist.“ „Scobel“ käme nicht aus dem Elfenbeinturm, sondern sei bei aller Wissensvermittlung sehr bodenständig.

Gert Scobel selbst kann aber gar nicht dabei sein, denn ihn hat ausgerechnet jetzt Corona erwischt. Aber er wurde sofort von seinem Team angerufen und ist per Videotelefonat auf der Bühne dabei. „Beim zweiten Mal ist Corona nicht mehr so schlimm“, sagt er über seinen Zustand – der ist aber immerhin offenbar so schlimm, dass er statt Hemd ein T-Shirt trägt. „Wir haben mehr Freiheiten, wir können so lang machen, wie wir wollen, wir können mehrmals die Woche senden oder gar nicht, wir können aktuell reagieren“, erklärt Redakteurin Stephanie Keppler den Unterschied zur Sendung im Fernsehen. Und dann sieht Mona Ameziane sogar noch einen Vorteil, darin, dass Gert Scobel nur zugeschaltet dabei sein kann: Sie hat das Bücherregal bei ihm zu Hause entdeckt und scheint ein bisschen abgelenkt.

Nach dieser Preisvergabe gibt es nicht nur die Fotos der Preisträger*innen auf der Bühne, sondern noch ein von Mona Ameziane initiiertes Selfie der im Saal Anwesenden – und dann entlässt das Publikum zur After Show Party des wie immer zu langen, aber dennoch kurzweiligen Grimme Online Award 2022.