Warum Mediengeschichte in Deutschland auch immer Migrationsgeschichte ist
Das Onlinearchiv „Die fünfte Wand – Navina Sundaram“ beinhaltet Filme, Reportagen, Moderationen, Texte, Briefe und Fotos Navina Sundarams, einer indischstämmigen Redakteurin und Filmemacherin, die 40 Jahre für das öffentlich-rechtliche Fernsehen arbeitete. Die Inhalte setzen sich aus den Archiven der ARD als auch ihrem Privatarchiv zusammen. Das Archiv ist außerdem interaktiv gestaltet und ermöglicht den Nutzer*innen eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Inhalten. Das Archiv wurde von Merle Kröger und Mareike Bernien in Zusammenarbeit mit Navina Sundaram konzipiert, das Design mit der Hilfe von Laura Oldenbourg entwickelt.
„Die fünfte Wand“ ist für den Grimme Online Award 2022 in der Kategorie „Kultur und Unterhaltung“ nominiert. Wieso die Themen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens der letzten 40 Jahre auch heute noch aktuell sind, haben uns Merle Kröger und Mareike Bernien in einem Interview erzählt.
Navina Sundaram hat 40 Jahre als Journalistin in Deutschland über die Themen Internationalismus, Dekolonisierung, Klassenfrage, Rassismus, Einwanderung, indische und bundesdeutsche Politik recherchiert und berichtet. Sie haben in engem Austausch mit ihr das Online-Archiv „Die fünfte Wand“ realisiert. Nun ist Navina Sundaram am 25. April nach langer Krankheit verstorben. Ihr Projekt gewinnt damit auf traurige Weise an Aktualität. Was hat Navina Sundarams Arbeit damals schon relevant gemacht und inwiefern bekommt das Online-Archiv „Die fünfte Wand“ nun eine ganz besondere Relevanz?
Merle Kröger: Navina Sundaram war unseres Wissens eine der ersten oder die erste Woman of Colour, die es tatsächlich ins Zentrum der deutschen Medienmacht geschafft hat. Es gab schon immer Programme, die von Ausländer*innen, so hieß es damals, für Ausländer*innen gemacht wurden. Das waren aber zielgruppenorientierte Programme, vor allem im Radio. Sie betonte immer, sie sei nicht die Einzige gewesen, aber sie war die erste, die fest angestellt war und in der politischen Redaktion gearbeitet hat. Genau da wollte sie auch hin.
Navina Sundaram kommt aus einer sehr bekannten indischen Künstler*innenfamilie, die auch sehr politisch interessiert war. Ihr Vater hat an der indischen Verfassung mitgearbeitet, sie hatte also eine gute Ausbildung im künstlerischen wie auch im politischen Sinne. Der Auslandskorrespondent Hans Walter Berg hat damals in Indien gearbeitet und war so etwas wie ihr Mentor. Von ihm hat sie die ersten handwerklichen Schritte gelernt und ist damit 1964 im NDR in Hamburg aufgeschlagen. Dort hat sie ein zweijähriges Training in allen Redaktionen absolviert. In dieser Zeit hat sich der Wunsch verfestigt, politische Redakteurin, Auslandskorrespondentin, Filmemacherin, Reporterin, durchaus auch Kriegsberichterstatterin werden zu wollen. Das war natürlich damals als Frau, nicht deutsche und nicht weiße Person ziemlich anmaßend. Dennoch hat sie es geschafft und das macht sie zu einem ganz besonderen Menschen.
Mareike Bernien: Das Besondere an unserem Archiv heute ist, dass wir eine Person ins Zentrum stellen, die, bevor wir angefangen haben, miteinander zu arbeiten, nicht mal einen Wikipedia-Eintrag hatte. Wir insistieren deshalb mit dem Projekt darauf, dass Mediengeschichte in Deutschland auch immer Migrationsgeschichte war und ist.[1] Navina war die erste festangestellte Migrantin im deutschen Fernsehen. Zum einen gibt es in den Medien viel zu wenig Repräsentanz von Personen mit sogenanntem Migrationshintergrund, vor und besonders auch hinter der Kamera. Zum anderen wird aber auch nicht auf die Geschichten geschaut, die stattgefunden haben: die Biografien, die Werke. Dafür ist Navina Sundaram paradigmatisch. Das heißt, das Archiv versucht einer doppelten Unsichtbarkeit entgegenzuwirken, welche Mediengeschichte immer mitgeprägt hat, und gleichzeitig auch ein Anknüpfungspunkt für eine heutige Generation zu sein, die in den Medien tätig ist und die immer vielfältiger wird.
„Heute Nacht, wenn die zwei Astronauten auf dem Mond landen, werden Millionen von Fernsehzuschauern sie beobachten, und im Grunde ist es genauso weit weg wie Vietnam, auf der anderen Wohnzimmerseite: die fünfte Wand“. (Navina Sundaram, Brief an die Eltern, 21.07.1969) Dieses Zitat gab der Website ihren Namen, aber was genau ist mit der fünften Wand gemeint?
Merle Kröger: Das Fernsehen wurde früher tatsächlich als Fenster zur Welt bezeichnet. Die fünfte Wand ist ein Begriff, der in den 60er oder 70er Jahren auftauchte und auch wieder verschwand. Als wir den Brief von Navina lasen, empfanden wir das eigentlich als sehr bezeichnend, dass sie diesen Bezug von der Mondlandung, Vietnam und dem deutschen Wohnzimmer legt. Das zeigt auch ihren Blick oder das Potenzial, was sie im Fernsehen gesehen hat, dass sie tatsächlich Dinge bewirken kann und Dinge anders in dieses Wohnzimmer tragen kann als andere. Was ihre Filme auch heute noch so relevant macht ist, dass sie mit einem anderen Blick auf die Welt schaut, als das vielleicht ein weißer Mann aus Hamburg getan hat. Und das spürt man eben auch, wenn man diese Filme heute anschaut. Diese Blicke wurden direkt in die deutschen Wohnzimmer transportiert und man merkt es auch an den Reaktionen, die sie ausgelöst hat. Wenn sie moderiert hat, gab es darauf immer ganz starke Reaktionen, teilweise rassistische, aber auch empowernde für andere Migrant*innen. Sie hat viel positives Feedback erhalten, aber auch Drohungen bis hin zu Morddrohungen. In ihren Filmen spürt man eben auch, dass sie eine ganz besondere Situiertheit hat. Als Migrantin und Journalistin in Deutschland wollte sie zum Beispiel über das Thema Migration sprechen, nicht weil das immer an sie herangetragen wurde, sondern weil sie dieses Thema bearbeiten wollte, weil es sie wirklich beschäftigt hat. Wie geht es Leuten, die ohne deutschen Pass nach Deutschland gekommen sind? Genauso die Fragen nach dem globalen Süden. Die Dekolonisierungsprozesse haben sie interessiert. Sie ist ein Nehru-Kind, ein Kind der Unabhängigkeit, das selbst ganz persönlich davon geprägt ist.
„Innenansichten einer Außenseiterin oder Außenansichten einer Innenseiterin. Dies ist der Untertitel zur „Fünften Wand“. Wie bezieht sich jeweils die Außen- und Innenansicht auf Navina Sundaram? Wie genau kann man die Außen- und Innenansicht verstehen?
Mareike Bernien: Navina hat selber eine Migrationsgeschichte erlebt. 1964 kam sie von Indien nach Deutschland, zuvor arbeitete sie für den NDR im Studio Neu-Delhi, das gerade gegründet worden war. Dort hat sie 1963 für die Reihe „Asiatische Miniaturen“ von Hans Walter Berg die Anmoderation übernommen – zu dem Zeitpunkt konnte sie noch kein Wort Deutsch.
Kurz darauf wurde sie zu einer 2-jährigen Ausbildung nach Hamburg eingeladen und entschied sich, dort auch zu bleiben. Es gibt in ihrer Biografie nicht den einen Ort, von dem aus sie spricht, sondern sie spricht immer gleichzeitig von mehreren Orten aus, mit dem Hintergrund, aus Indien zu kommen und Deutschland ab einem bestimmten Punkt als Wahlheimat erklärt zu haben, und trotzdem nie das Gefühl gehabt zu haben, vollständig zur deutschen Gesellschaft zu gehören. Das thematisiert sie auch in Briefen, in denen sie wiederholt über Rückkehr nachdenkt bis Anfang der 70er Jahre. Das ist eine Art zusammengeflickte Identität, wie sie es auch auf der Website beschreibt, also eine Hybridität, die eine Sprechposition auf verschiedene Gesellschaften ermöglicht, also von einer Innen- und Außenperspektive gleichzeitig aus zu schauen. Das macht ihre Sprechposition so besonders, produziert aber auch gleichzeitig die Frage nach „belonging“, die nicht einfach beantwortet werden kann, indem man sich einem Ort, einer Identität zuordnet, sondern immer ein Hybrid ist. Darin liegt natürlich eine gewisse Zerrissenheit , aber auch gleichzeitig eine Sprechposition, die Menschen, die innerhalb einer deutschen Mehrheitsgesellschaft aufgewachsen, an diesem Ort geblieben sind und sich eindeutig damit identifizieren, auch etwas voraus hat.
Merle Kröger: Wenn man heute diese Beiträge anschaut, sind einige ihrer Zeit kilometerweit voraus. Wenn wir uns anschauen, wie sie 1980 in einem Beitrag einen kolonialen Film im Filmclub des NDR kommentiert, dann drängt sich die Frage auf, wieso wir eigentlich erst heute von Dekolonisierung sprechen. Wenn man ihren Film über die Unabhängigkeit von Bangladesch anschaut oder einen Beitrag für Panorama über die Situation von Asylsuchenden 1982 ist es erschreckend zu sehen, wie vieles davon immer noch aktuell und relevant ist. Aber es ist auch wahnsinnig vorausschauend, wie sie Dinge erspürt und diese dann auch sehr komplex dargestellt hat. Die Vereinfachungen, die man oft bis heute im deutschen Fernsehen findet, zum Beispiel, dass es die Migranten auf der einen Seite und auf der anderen die Deutschen gibt. Damit hat sie sich nie zufriedengegeben. Sie hat immer versucht, die Dinge ein bisschen komplizierter zu machen und das den Leuten auch zuzumuten. Und das gefällt mir sehr gut in der Rückschau.
In einem ihrer Zitate sagt sie, dass sie immer einen Standpunkt gehabt hat, und sich auch nicht gescheut hat, den zu zeigen. Sie hat dafür auch Schelte kassiert, aber sie ist so aufgewachsen, das ist ihre journalistische Ethik.
Das Archiv macht die Inhalte aus 40 Jahren journalistischer Arbeit von Navina Sundaram zugänglich. Wenn man sich das Archiv anschaut, bemerkt man sofort die Vielzahl an Filmen, Reportagen, Moderationen, Texten, Briefen und Fotos. Wie sind Sie bei der Zusammenstellung der Materialien vorgegangen und auf welche Schwierigkeiten sind Sie gestoßen?
Merle Kröger: Die erste große Schwierigkeit ist die Zugänglichkeit der öffentlich-rechtlichen Fernseharchive, die zwar öffentlich-rechtlich heißen, aber bisher nicht öffentlich-rechtlich zugänglich sind. Dafür gibt es verschiedene Gründe, vom Urheberrecht bis hin zur Anfälligkeit des Materials. Früher wurde immer gesagt, das Material ist so anfällig, man kann es nicht kopieren, dass es zu teuer sei. Jetzt sind diese öffentlich-rechtlichen Archive zum großen Teil digitalisiert und könnten genutzt werden. Wenn man vom Urheberrecht absieht und sagt, das ist ja auch Zeitgeschichte, das ist ein kulturelles Erbe, das sollte auch der Öffentlichkeit zugänglich sein, dann ist dieses Projekt sicherlich ein Pilot.
Wir haben versucht, anhand einer Biografie diese Tür ein Stück weiter zu öffnen und herauszufinden, was passiert, wenn wir uns so ein Werk vornehmen und versuchen, es öffentlich zu machen. Kann das unter Umständen der erste Fuß in der Tür sein und weitere Projekte zur Folge haben? Es war also sehr schwierig an diese Sachen ranzukommen. Wir haben mit dem NDR über Jahre verhandelt. Aber, und das muss man auch sagen, es gibt eine immer größere Offenheit für solche Projekte. Die Sender wissen, dass das lineare Fernsehen der Vergangenheit angehört und Leute eher auf Mediatheken-Angebote, die durchaus auch historisch sein können, zugreifen. Und ich glaube, in diesem ganzen Kontext wird so ein Projekt natürlich auch interessanter und da waren wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort und mit der richtigen Hartnäckigkeit unterwegs.
Mareike Bernien: Wir hatten einen Korpus von ungefähr 66 Filmen, die uns der NDR lizenzfrei zur Verfügung gestellt hat. Trotzdem fielen Digitalisierungskosten an, und es lag eine Menge Arbeit vor uns bezüglich der Rechteklärung. Das heißt nicht die Rechte, die der NDR selbst an dem Material besitzt, sondern Fremdrechte, wie beispielsweise Materialien, die Navina Sundaram wiederum in ihren Beiträgen verwendet hat, die von Dritten stammen. Wir haben also über Jahre hinweg sehr penibel versucht, jedem einzelnen Fremdmaterial auf die Spur zu kommen. Und dann sind wir in Verhandlungen mit den Rechteinhabern getreten, was ein sehr langwieriger Prozess war. Das wäre auch ohne ein kulantes Entgegenkommen nicht möglich gewesen. Das ist leider etwas, das die Fernsehsender scheuen zu tun. Und wir haben das mit einem sehr kleinen Team selbst gemacht.
Aber Navina Sundaram hat auch selbst akribisch archiviert. Sie hat zum Beispiel Manuskripte, Korrespondenzen oder Briefe aufgehoben. So konnten wir um die Filme herum Materialien gruppieren und den Kontext der Entstehung sichtbar machen. Da tauchen Leser*innen-Briefe, Reaktionen und Ankündigungen auf Beiträge auf. Das Archiv ist so auch ein Produktionsarchiv, es stellt eine Vielfalt an Materialien bereit, die zeigen, wie damals produziert worden ist.
Es gibt im Workspace die Möglichkeit der Interaktion, zum Beispiel Fragen zu stellen oder Recherchepfade zu erläutern. Wie haben Sie sich die Aktivität im Workspace vorgestellt und in welchem Rahmen soll er die Nutzer*innen dabei unterstützen, aus den Inhalten zu lernen?
Merle Kröger: Uns liegt es momentan sehr am Herzen diesen Workspace weiter auszugestalten und zum Beispiel auch Querverbindungen zwischen dem Workspace und dem Archiv zu ermöglichen. Der Workspace ist ein Angebot, in Interaktion mit dem Archiv zu treten. Ich habe gerade eine Hausarbeit von der Universität Mainz zu einem dieser Archivalien vorliegen, also zu einer Sendung, die ich mit Einverständnis des Autoren gerne hochladen möchte, weil ich sie sehr interessant finde. Es gab diese Sendung „Internationaler Frühschoppen“ und dazu gibt es einen Kommentar. Wir haben auch Leute eingeladen, schon vorab Kommentare auf einzelne Filme zu geben und diese auch ins Archiv eingestellt. Der Workspace ist eigentlich eine Verlängerung dieses Angebotes.
Der Workspace soll also ein wachsendes Angebot an User*innen sein, aber auch an Multiplikator*innen, wie beispielsweise Lehrer*innen oder Leute, die in Kulturinstitutionen arbeiten. Dieses Archiv ist ein lebendes Archiv. Wir sagen immer, ein Living-Archive – es soll mit den Menschen wachsen, die es nutzen. Je mehr Leute sich daran beteiligen, desto schöner und größer und lebendiger und vielfältiger wird das Archiv. Und das hat sich Navina Sundaram auch immer so gewünscht. Das hat sie auch sehr gefreut, als sie das Archiv gesehen hat, dass es eben nicht sie als Außenseiterin darstellt, sondern es die Möglichkeit gibt, dass sie im Archiv immer mehr Mitstreiter*innen findet.
In Ihrem Archiv bezeichnen Sie Mediengeschichte als „Geflecht verschiedenster, auch widersprüchlicher, historischer Erzählungen“. Welche Reaktionen hoffen Sie, bei den Leser*innen auszulösen und welche Rückmeldungen erreichen Sie?
Merle Kröger: Mit vielem, was wir tun, nicht nur mit diesem Archiv, sondern auch, was wir, als Dokumentarfilmer*innen, Künstler*innen oder künstlerische Forscher*innen tun, stellen wir Fragen an die sogenannten Herrschaftsnarrative. Wir versuchen, in Frage zu stellen, was immer als „Okay, so war das halt“ angesehen wurde, und darzustellen, dass es immer verschiedene Sichtweisen gibt. Wir möchten zeigen, wie wichtig es ist, genau zu sein, wenn man sich die Geschichte anschaut, wenn man sich Quellen anschaut. Man muss mit dem arbeiten, was Geschichte einem liefert, und auch an die Ränder gucken.
Wir hatten immer so ein Bild für das Archiv: Das öffentlich-rechtliche Rundfunkarchiv hat natürlich sehr hell erleuchtete Gänge. Da sitzen sehr bekannte Menschen und ihre Werke drin. Und dann hat es die anderen Gänge, die nicht so hell erleuchtet sind, wo vielleicht viel interessanteres Material liegt. Wenn wir uns mit diesem Archiv beschäftigen, dann sollten wir unbedingt auch in die weniger erleuchtenden Gänge gucken, weil uns das unter Umständen Perspektiven auf die Geschichte ermöglicht, die wir sonst gar nicht haben könnten.
Mareike Bernien: In letzter Zeit, insbesondere nach dem Tod von Navina Sundaram, haben uns Mails erreicht, in denen Leute schreiben, dass sie erst durch die Todesnachricht auf ihren Namen gestoßen, jetzt ins Archiv gegangen und eigentlich traurig sind, dass sie von dieser Person nicht vorher schon gewusst haben. Es gibt viele Menschen, die Navina Sundaram durch das Archiv entdecken, die aber auch tatsächlich durch sie und ihren spezifischen Blick, den sie auf die Welt geworfen hat, Fernsehgeschichte noch mal neu entdecken. In den Filmreihen, die wir gemacht haben, gab es anregende Diskussionen. Es gibt wirklich unterschiedlichste Altersgruppen, die Lust haben, mit dem Archiv zu arbeiten, sei es in Schulen, in Universitäten. Und da sind wir auch gerade dabei, uns immer weiter zu vernetzen.
Merle Kröger: Archivpraxis ist gerade ein ganz wichtiges Stichwort für viele forschende junge Menschen, die sagen, Archive sollten zugänglich sein, aber wenn sie zugänglich sind, was machen wir dann damit? Was ist das eigentlich für Wissen? Wer hat das fabriziert? Welche Herrschaftsmechanismen bilden sich darin ab? Archivpraxis hat nichts damit zu tun, tote Dinge hin- und herzuschieben oder ans Licht zu holen, sondern wirklich die eigene persönliche Biografie mit Dingen aus der Vergangenheit in Beziehung zu setzen. Mit diesem Archiv haben wir versucht, ein Angebot dazu zu machen, und zwar ein offenes Angebot und durchaus auch ein Angebot mit Lücken. Deswegen ist auch das Design so schön, finde ich, weil es auch die Lücken thematisiert. Es ist nicht eine Mediathek, die sagt, wir haben alles, was ihr wollt. Sondern es ist ein Regal voller Dinge, in dem auch Sachen fehlen und das sagt, hier ist eine Lücke, aber das könnt ihr euch anschauen und dann könnt ihr von da aus weitergehen und Verbindungen herstellen.
Sie sind durch das Erstellen des Archivs auf viele unterschiedliche Inhalte gestoßen. Haben Sie einen Eintrag oder ein Ereignis, welches Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Merle Kröger: Was für mich immer mit diesem Archiv in Verbindung bleiben wird, sind die Tage, die Mareike, Navina und ich gemeinsam verbracht haben. Navina Sundaram war anfangs sehr skeptisch, weil sie dieses Internet nicht verstand. Warum macht ihr nicht einfach einen Dokumentarfilm über mich? Und wir haben gesagt: Wir möchten, dass die Gesamtheit deines Werkes und die Positionen, die du vertreten hast, einen ganz eigenen Kosmos ergibt im Netz. Und das ist auch das Tolle an diesem Medium. Die vielen Nachmittage, die wir dann damit verbracht haben, darüber zu sprechen und in ihrer Wohnung in Hamburg die Filme nochmal anzugucken, gemeinsam darüber zu reden, zwischendurch Pausen zu machen, weil die Luft nicht gereicht hat. Das ist für mich dieser Blick ins Wohnzimmer, wo die Bilder von Amrita Sher-Gil hängen – für mich der bleibendste Eindruck. Ihre Skepsis einerseits und dann aber auch, nachdem wir ihr das Archiv gezeigt hatten, ihr Erstaunen darüber. Die Nähe, die wir dadurch geteilt haben. Das war etwas sehr Besonderes. Das ist auch das Schöne an so biografischer Arbeit, finde ich, dass wir mit so einer Person plötzlich in Kontakt gekommen sind und dadurch noch mal eine ganz enge Verbindung über die Generationen hinweg entstanden ist.
Mareike Bernien: Ich habe immer ein Bild im Kopf, welches ich auf meinem Handy habe, auf dem Navina Sundaram uns ihren gesamten Ordner übergibt und das erste Mal mit uns vor die Tür tritt, weil sie sich die letzten Jahre nur in der Wohnung aufgehalten hat und nicht mehr rausgehen konnte. Das war der einzige Moment, wo wir sie draußen gesehen haben und sie winkt ihren Dokumenten hinterher und verabschiedet sich von den Materialien, die jetzt frei zirkulieren.
Das Interview führten Julia Enders und Constanze Lipp. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang “Mehrsprachige Kommunikation” an der TH Köln.
[1] Wir beziehen uns dabei auf die Einleitung des Buchs „V/erkennungsdienste, das Kino und die Perspektive der Migration“ von Nanna Heidenreich, die den Zusammenhang von Migrationsgeschichte und Mediengeschichte hier herausarbeitet und einfordert. Vgl. hierzu Heidenreich 2015, S. 12 ff
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