„Wir wollen die erreichen, die etwas verändern können!“
CORRECTIV.Lokal ist ein bundesweites Recherche-Netzwerk, bestehend aus mehr als 1.200 Lokaljournalistinnen und Lokaljournalisten und weiteren Interessierten. Durch gemeinsame Recherchen bieten sich den Mitgliedern und den Medien, die sie repräsentieren, neue Möglichkeiten, einem breiten Spektrum gesellschaftsrelevanter Themen lokal und national Aufmerksamkeit zu verschaffen. Zum Ziel gesetzt hat sich CORRECTIV.Lokal, systematisch Missstände ans Licht zu bringen, Veränderungen anzustoßen, Medienkompetenz und eine demokratische und offene Zivilgesellschaft zu fördern.
Nominiert ist CORRECTIV.Lokal für den Grimme Online Award 2022 in der Kategorie „Spezial“. Im Interview spricht Pia Siber über die Wichtigkeit eines starken Lokaljournalismus und die Entstehung des Netzwerks CORRECTIV.Lokal.
Durch CORRECTIV.Lokal sind aufwendige Datenrecherchen und investigative Themenschwerpunkte möglich, für die in Lokalredaktionen unter anderem die zeitlichen Ressourcen fehlen. Wie funktioniert CORRECTIV.Lokal und was ist der Unterschied zu herkömmlichen Informationsmedien?
Pia Siber: Wir sind ein Netzwerk. Praktisch teilen wir über einen E-Mail-Newsletter Informationen und via Slack tauschen wir uns aus. Im Hintergrund steht eine Liste mit allen Namen, Redaktionen und Positionen, so dass wir einen Überblick haben, wer Teil des Netzwerks ist. Die Themen werden entweder von uns vorgeschlagen, oder Lokaljournalist*innen kommen mit Themen auf uns zu, die wir dann gemeinsam besprechen. Um uns einen Eindruck zu verschaffen, ob ein Thema deutschlandweit relevant sein könnte, recherchieren wir das dann an. Oft halten wir auch noch einmal Rücksprache mit lokalen Journalist*innen, beispielsweise telefonisch, inwiefern ein Thema relevant sein könnte. Anschließend schauen wir, wo wir Daten herkriegen. Für einige Themen gibt es bereits bestehende Datensätze, die wir anfragen können, etwa beim Statistischen Bundesamt oder anderen Behörden. Dort bekommen wir dann Rohdaten, die wir auswerten können. Teilweise ist es auch so, dass wir die Daten selbst erheben. Bei der Recherche über Schwangerschaftsabbrüche haben wir eine Online-Umfrage für Betroffene durchgeführt und parallel mit dem Netzwerk zusammen öffentliche Kliniken mit gynäkologischer Station angefragt, ob sie Abbrüche durchführen, und die Daten gesammelt. Die Art der Erhebung ist immer eine andere, da kommt es auch stark darauf an, ob es schon irgendwo Daten gibt.
Die gesammelten Daten werten wir dann aus und geben die „Recherche-Rezepte“ zurück an das Netzwerk. Wir übernehmen also die Vorrecherche, die Hintergrundrecherche und besonders die Datenerhebung und -auswertung. Die Mitglieder des Netzwerks verwenden diese Daten dann im Lokalen für ihre Beiträge, indem sie je nach Thema vor Ort Betroffene suchen, Kreise oder Kommunalparteien mit Zahlen und Ergebnissen konfrontieren und so weiter.
Es funktioniert so, dass alle für sich selbst publizieren, wir aber einen gemeinsamen Veröffentlichungstermin haben, so dass wir ein Thema gemeinsam deutschlandweit nach vorne bringen können. Das ist auch der Unterschied zu anderen Medien. Wir veröffentlichen auf nationaler Ebene bei CORRECTIV, CORRECTIV.Lokal ist in dem Sinne keine eigene Publikation. Wir wissen, es geht um den Austausch, das Netzwerk, und um die Kooperation. Und wir sind uns sicher, dass durch Kooperation und Kollaborationen im Lokaljournalismus viel mehr bewirkt werden kann, als wenn alle allein und im Kleinen ihr eigenes Thema behandeln. Das sehen wir auch immer wieder. Die Themen bekommen dadurch noch einmal eine andere Schlagkraft.
Welche Hindernisse, denen der Lokaljournalismus sich stellen muss, werden durch den kollaborativen Journalismus im CORRECTIV.Lokal umgangen?
Pia Siber: Das ist eine Zeit- und Ressourcen-Frage. Natürlich gibt es tolle investigative und Daten-Teams im Lokalen, die großartige Arbeit machen. Aber einige, gerade Lokalredaktionen, sind häufig allein auf weiter Flur und hätten große Lust, intensive Recherche zu machen. Teilweise haben sie aber nicht das Wissen oder die Zeit, das auch umzusetzen. Um große Datensätze zu erheben, muss man auch manchmal Behörden hinterhermailen und telefonieren. Das beansprucht viel Geduld und Zeit, die oft im tagesaktuellen redaktionellen Alltag fehlt. Diese Aufgabe übernehmen wir dann. Zum anderen ist es der Austausch. Vielleicht weiß jeder, der in einem Team arbeitet, wie hilfreich Austausch sein kann. Wenn man eine Frage hat oder an einem Thema ansetzen möchte, das aber selbst noch nie gemacht hat oder in eine Sackgasse kommt und es nicht weitergeht, dann können die Netzwerk-Mitglieder tausende Kolleginnen und Kollegen erreichen und fragen: Hat das schon mal jemand gemacht und wie seid ihr damit umgegangen? Das geht auch innerhalb von Redaktionen, aber der Wissensschatz ist größer, umso mehr Leute mit dabei sind.
Mehr als 1.200 Mitglieder sind Teil von CORRECTIV.Lokal. Das sind nicht ausschließlich Journalist*innen. Welche Expertisen der Mitwirkenden sind besonders bereichernd für CORRECTIV.Lokal?
Pia Siber: Der größte Teil sind tatsächlich Lokaljournalist*innen. Wir haben aber auch ein paar Experten mit im Netzwerk, beispielsweise einen Satellitendaten-Experten. Das ist super interessant, wenn man Satellitenbilder erheben oder nutzen möchte. Er hat uns auch schon einmal einen Workshop gegeben. Auch Journalisten, die nicht im Lokalen arbeiten, aber eine große fachliche Expertise haben, sind Teil des Netzwerks. Wenn jemand zum Beispiel über sexualisierte Gewalt berichten möchte, kann man sich bei Mitgliedern, die bereits häufiger über das Thema berichtet haben, Ratschläge einholen, etwa wie man mit bestimmten Situationen umgehen kann. Besonders hilfreich ist es, wenn die Leute verstehen, wie Journalismus und Lokaljournalismus funktionieren und dann eine Zusatz-Expertise mitbringen. „FragDenStaat“ zum Beispiel haben einen anderen Ansatz, aber uns können sie bei Fragen zu rechtlichen Einordnungen weiterhelfen. Das ist enorm hilfreich, da wir Expert*innen haben, bei denen wir entsprechende Informationen einholen können.
Gab es einen konkreten Auslöser oder Anlass, der dazu geführt hat, CORRECTIV um CORRECTIV.Lokal zu erweitern? Wie kam es zu der Idee?
Pia Siber: CORRECTIV probiert gerne Dinge aus. Weil wir sehen, dass der Lokaljournalismus aktuell vor vielen Schwierigkeiten steht, dachten wir, das wäre vielleicht ein Thema, das wir angehen könnten. Wenn der Lokaljournalismus immer schwächer wird und es immer weniger Lokalredaktionen gibt, die geringere Auflagen haben und weniger Leute erreichen, schädigt das wirklich das gesellschaftliche Miteinander – auch wenn die Entwicklung bei uns noch nicht so weit fortgeschritten ist wie in den USA. Es war nichts Neues für uns, mit internationalen Netzwerken zusammen zu arbeiten, aber uns ist aufgefallen, dass es so etwas in der Art im Lokaljournalismus noch gar nicht gibt.
Natürlich gibt es auch mal Kooperationen, aber im Großen und Ganzen ist das immer noch eher ein “Ich mache das für meine Redaktion, ich will das exklusiv haben” und “Ich will die einzige Redaktion sein, die das veröffentlicht”.
Wir versuchen, dem etwas entgegen zu setzen, weil wir der Meinung sind, dass Lokalredaktionen gar nicht so stark in Konkurrenz stehen, sondern durch die Zusammenarbeit sogar die Relevanz eines Themas steigern können. Und das funktioniert offensichtlich auch.
Unsere Mitglieder sagen uns immer wieder, wieviel sie aus dieser kooperativen Arbeitsweise mitnehmen können, obwohl sie es sich anfangs oft nicht vorstellen konnten. Dass sie bestimmte Themen nur deshalb bei der Chefredaktion durchbekommen haben, weil sie dadurch überzeugen konnten, dass am gleichen Tag deutschlandweit zwanzig bis dreißig weitere Redaktionen mitveröffentlichen.
Wir haben mit Sicherheit noch nicht zu Ende gelernt und können diese Idee definitiv noch weiterentwickeln. Aber es geht auf jeden Fall in eine gute Richtung.
Wie beurteilt ihr die Relevanz eines gesellschaftlichen Themas?
Pia Siber: Das ist natürlich eine schwierige Frage. Für uns ist es wichtig, zu sehen, dass ein Thema nicht nur für Menschen an einem bestimmten Ort relevant ist, sondern dass es möglichst viele Menschen in Deutschland betrifft.
Nehmen wir zum Beispiel die “Wem gehört …“-Fragen: Wohnungsmarkt, Immobilienmarkt – das betrifft eigentlich jede Person in Deutschland. Wohnraumkosten sind überall ein aktuelles Problem. Das war dann aus unserer Sicht ein relevantes Thema. Eine genaue Grenze – nach dem Motto: ab drei Millionen Menschen ist es ein Thema und darunter nicht – gibt es da nicht. Dadurch, dass wir gemeinnützig arbeiten, haben wir zum Glück die Freiheit, auch mal Themen zu machen, die vielleicht noch nicht so im Diskurs sind, von denen wir aber glauben, dass sie es sein müssten, weil sie eine gewisse Dringlichkeit haben.
Es ist immer ein Abwägen, aber solche Entscheidungen trifft nie eine Person alleine, das passiert im Team und in Rücksprache mit den Lokalredaktionen, die natürlich ein noch viel besseres Gefühl dafür haben, was im Lokalen wirklich gerade im Gespräch und Thema ist.
Macht ihr euch neben dem Netzwerk auch Gedanken um die Diversität innerhalb des Redaktionsteams, um damit auch gewährleisten zu können, dass ein breites Spektrum an Lebensrealitäten und daraus resultierenden Sichtweisen abgedeckt wird?
Ich würde sagen ja, aber es ist immer die Frage: Machen wir es genug? Ich glaube, diese Frage stellt sich jede Redaktion, die sich grob mit dem Thema beschäftigt. Der Frauen- und Männeranteil ist, glaube ich, ganz gut ausgeglichen bei uns. Es arbeiten sogar mehr Frauen bei uns und es gibt auch eine non-binäre Person, dadurch sind wir, was die Geschlechterfrage angeht, ganz gut aufgestellt. Bei CORRECTIV bringen außerdem auch Exil-Journalist*innen andere Perspektiven zu uns ins Team. Und trotzdem ist unser Team größtenteils weiß. Deshalb: Ja, ich glaube, wir können uns auf jeden Fall noch mehr Gedanken machen. Auch was Diversität in Richtung leichter Sprache und Barrierefreiheit angeht. Wir probieren es, aber wir sind bestimmt noch nicht am Ende des Weges angekommen.
Gibt es eine spezielle Recherche, bei der CORRECTIV.Lokal sein volles Potential ausspielen konnte, oder die du besonders empfehlen könntest?
Pia Siber: Was ich wirklich herausstellen würde, ist die Recherche über Schwangerschaftsabbruch, weil wir da noch einmal neue Methoden ausprobiert haben. Das war das erste Mal, dass wir mit dem Netzwerk aktiv recherchiert haben. Dadurch, dass wir alle diese Anfragen gestellt, alles zusammengetragen haben und ganz eng im Kontakt waren. Das war schon spannend. Sonst hatten wir immer eher ein Thema, zu dem wir die Datenrecherche gemacht haben, gefolgt von viel Kontakt zu Lokalredaktionen im Zeitraum von Rezept bis Veröffentlichung. Im Gegensatz dazu haben wir bei dieser Recherche über einen langen Zeitraum wirklich gemeinsam gearbeitet und das war großartig.
Dann haben wir noch eine letzte Frage: Ihr habt als euch als Ziel gesetzt, gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen. Was wünscht ihr euch für die Zukunft von CORRECTIV.Lokal? Und welche Entwicklung würdet ihr in der Gesellschaft gerne bewirken?
Pia Siber: Was wir uns natürlich wünschen, ist, dass wir wichtige Themen ins Gespräch bringen, dass der Diskurs darüber eröffnet wird und dass Entscheider*innen involviert werden. Weil dann der öffentliche Druck steigt, und diese Personen sich deshalb mit bestimmten Themen auseinandersetzen müssen. Wir hatten das zuletzt bei den Nebeneinkünften von Kommunalpolitiker*innen. Das war auch eine Recherche von uns und das ist jetzt vielleicht erst mal ein trockenes Thema, aber wir hoffen, die richtigen Leute damit zu erreichen. Damit sich wirklich etwas verändert. Weil die meisten Spenden in die Kommunen gehen, an Parteien und an Politiker*innen, gibt es einfach keine gute Transparenz. Diese Prozesse sind sehr undurchsichtig und das ist ein Problem, weil da natürlich ganz viel passieren kann, was die Leute, für die diese Politik gemacht wird, gar nicht mitbekommen. Die direkte Auswirkung einer Recherche ist natürlich schwer messbar. So eine Veränderung kann lange dauern. Aber das wäre unser Wunsch.
Und für CORRECTIV.Lokal generell würde ich mir wünschen, dass wir im Lokaljournalismus diese Zusammenarbeit und dieses Kollaborative etablieren. Dass sich das verfestigt, dass auch alle Kolleg*innen davon überzeugt sind und Lust haben, gemeinsam zu arbeiten. Weil wir einfach sehen, dass das etwas bringt und ich potenziell auch ein großer Fan von Zusammenarbeit und Austausch und wenig Ellenbogengesellschaft bin.
Das Interview führten Lucca Chiara Linke und Lisa-Marie Schulte. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang “Mehrsprachige Kommunikation” an der TH Köln.
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