15:14 bei der Stuttgarter Kripo nach 1945. Ein Nachklang von Geschichte
Wie ist es, wenn ehemalige KZ-Gefangene und ehemalige Gestapo-Beamte aufeinandertreffen und Tag für Tag, Tür an Tür zusammenarbeiten müssen? Kann das gut gehen? In dem interaktiven Hörspiel “15:14 – 15 ehemalige Verfolgte und 14 ehemalige Verfolger bei der Stuttgarter Kripo nach 1945“, einem gemeinsamen Projekt des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg und der Agentur KLANGERFINDER, wird genau das thematisiert – basierend auf historischen Quellen. Die Zuhörer machen sich in dem Hörspiel auf Spurensuche nach der Wahrheit darüber, wie sich die Zusammenarbeit zwischen den ehemaligen Verfolgten und den ehemaligen Verfolgern im Stuttgarter Hotel Silber nach 1945 gestaltet hat.
“15:14 bei der Stuttgarter Kripo nach 1945” ist für den Grimme Online Award 2022 in der Kategorie Wissen und Bildung nominiert. Im Interview berichten Prof. Dr. Paula Lutum-Lenger vom Haus der Geschichte und Prof. Florian Käppler von der Agentur KLANGERFINDER über die Hintergründe und die Konzeption des interaktiven Hörspiels.
Mit Ihrem Projekt rufen Sie in Erinnerung, dass nach 1945 im Stuttgarter „Hotel Silber“, dem ehemaligen Sitz der Geheimen Staatspolizei, ehemalige KZ-Gefangene und ehemalige Gestapo-Beamte als Mitarbeiter der neu zu gründenden Stuttgarter Kriminalpolizei aufeinandertrafen. Eine Dauerausstellung zur Geschichte des Hotels Silber gibt es ja schon. Wie ist die Idee zu Ihrem gemeinsamen Projekt 15:14 entstanden?
Prof. Dr. Paula Lutum-Lenger:
Sie haben das Stichwort schon genannt. Auslöser war die Dauerausstellung, die sich chronologisch mit der Geschichte des historischen Ortes Hotel Silber beschäftigt, das tatsächlich einmal ein Hotel war. Deshalb der Name, der sich bis heute erhalten hat. Aber dieses Hotel ging pleite, woraufhin das Gebäude an den Staat verkauft wurde. In dieses Gebäude zog 1928 die Polizei ein mit einer Abteilung Politische Polizei. 1928 sind wir noch in der Zeit der Demokratie und 1933, nach der Machtübertragung an die Nazis, zieht die übrige Polizei aus und die Politische Polizei bleibt dort und verdreifacht sich. Nach 1945 zieht die Gestapo wieder aus und eine Polizeieinheit zieht wieder dazu. Eine Dauerausstellung am historischen Ort bildet diesen Prozess „Wie komme ich aus der Demokratie in die Diktatur und aus der Diktatur in die Demokratie?“ ab. Die Büros der Gestapo-Beamten waren früher Hotelzimmer und wurden später zu Büros. In diesen Büroräumen ist eine Dauerausstellung und dort gibt es auch einen Teil eines Raumes, der sich mit dieser Geschichte beschäftigt, wie die Verfolger und Verfolgten nach 1945 Tür an Tür zusammenarbeiteten. Was da für Friktionen entstehen, wie die miteinander umgehen – das ist ein Kapitel, dass bei den Besuchern und Besucherinnen dieses Ortes immer auf sehr großes Interesse gestoßen ist. Die Leute sagen immer: “In einem Raum, Tür an Tür? Wie ging denn das? Konnte das gut gehen?” Und es ging natürlich nicht in allen Fällen gut. Wir haben gemerkt, dass dies ein Thema ist, mit dem man sich auch etwas ausführlicher beschäftigen kann. Dann begann die Suche nach den Quellen und so kam es zum Hörstück. Der Ausgangspunkt war, durch diese Dauerausstellung und das rege Interesse für diesen einen Aspekt eine Tiefenbohrung zu machen. Zunächst war der Gedanke, diesen einen Aspekt in Form einer Ausstellung zu bringen. Nachdem wir die Quellen gesichtet haben, sind wir auf die Idee gekommen, ein Hörstück zu machen.
Sie haben sich für die Umsetzung des Projekts für die Form des interaktiven Hörspiels entschieden. Was waren die Gründe dafür?
Prof. Dr. Paula Lutum-Lenger:
Die Gründe waren die Quellen und das Material, die zur Verfügung standen. Material zu diesen Fragen: Wie arbeiten Verfolger und Verfolgte? Besser gesagt: 15 Verfolger mit 14 Verfolgten? Wie arbeiten sie Tür an Tür zusammen? Die erste große und wichtigste Quelle sind die Bewerbungsschreiben. Im Rundfunk gab es Aufrufe: Die Polizei sucht Personal und man kann sich bewerben. Es haben sich frühere Polizeibeamte beworben, die gesagt haben: “Wir wissen, wie Polizei geht, wir waren Polizeibeamte, auch wenn es während des Dritten Reiches war.” Und es haben sich ehemalige Verfolgte beworben. Es gibt Schreiben der Militärregierung, denn nach 1945 war Stuttgart von der amerikanischen Militärregierung besetzt. Die Militärregierung wurde in diesen Demokratisierungsprozess einbezogen und hat sich dazu geäußert, wer angestellt wird oder welche Bewerbung vielleicht aussortiert wird, wen man nicht haben will. Zu dieser Zeit fassen tatsächlich auch schon die ersten demokratischen Strukturen, nämlich Betriebsräte und Personalräte Fuß. Der Gemeinderat befasst sich auch damit, wer an diesem Ort beschäftigt wird. Also ein großer Haufen Papier. Nicht sehr anschaulich. Was macht man damit? Da muss man diejenigen fragen, die mehr davon verstehen und die helfen können, solche Dinge umzusetzen. Wir haben uns dann relativ schnell überlegt, dass wir das über Töne machen wollen. Seit vielen Jahren ist uns Herr Käppler bekannt, wir haben einige spannende Projekte zusammen durchgeführt. Für dieses Projekt wollten wir mit den besten Experten arbeiten und so sind wir auf Herrn Käppler gekommen. So haben wir unsere Aufgabe und den großen Haufen Papier, den wir recherchiert hatten, vorgestellt und gefragt: Was könnte man denn daraus machen?
Prof. Florian Käppler:
Das erste Gespräch hatten wir bei einer Veranstaltung im Zentrum für Kunst und Medien, ZKM, in Karlsruhe. Frau Lutum hatte gesagt, sie habe ein ganz spannendes Thema und gefragt, ob man sich ein völlig neues Ausstellungsformat einfallen lassen könne. Am nächsten Tag kam die E-Mail und mir ging es genauso, wie Frau Lutum berichtet hat. Man glaubt es nicht, wenn man liest, dass das so stattgefunden hat. Wir haben gesagt, wir müssen uns unbedingt etwas einfallen lassen. Selbstverständlich kommen wir aus dem Klang. Wir haben tatsächlich zuerst, mit Frau Lutum zusammen, eine physische Ausstellung im Hotel Silber geplant. Dann kam die Pandemie. Aber warum hören? Aus unserer Sicht als Klangerfinder ging es tatsächlich um Akten. Wie will man Akten ausstellen? Der Inhalt ist spannend, aber das Medium Akten ist ein schwieriges Vermittlungsthema. Wenn Klang etwas kann, dann einen emotionalen Zugang zu Themen schaffen. Wir leben in der Zeit der visuellen Reizüberflutung. Das war ein wichtiger Punkt: Wirklich mal wieder genau hinhören, aktiv hinhören. Und dass dann die Bilder im Kopf entstehen, wenn man hinhören muss. Man muss sich überlegen: A) Wäre es wahnsinnig aufwendig, dann auch wirklich die Bilder entstehen zu lassen? Und B): Wo ist die Grenze zwischen historischer Tatsache und Fiktion? Das war ein wichtiger Punkt bei dieser Kooperation, dass man nah an der Quelle bleibt, aber die Quellen nicht vorliest oder abdruckt. Wir haben immer wieder gerungen, inwieweit man es spannend machen kann. In Szenen, in Situationen gießen, die authentisch und glaubwürdig sind, ohne etwas am Inhalt zu verändern. Das war die Herausforderung. Der Klang ist mein Metier. Wie wirkt eigentlich Klang und was ist der Unterschied zur visuellen Wahrnehmung? Das ist ein aktiver Prozess. Man muss sich die Vorstellung im Kopf selber bilden. Wir haben ein ganz großes Potenzial darin gesehen, die Leute zu aktivieren und zu sagen: Stellt euch die Situation vor! Das ist einem Recherchevorgang gleichzusetzen. Dadurch haben wir neues Format auf eine Art Audio Scrolling entwickelt. Das für mich Spannendste waren die Abstimmungen zwischen Frau Lutum, den Historikerinnen und Historikern und unseren Kreativen. Denn die Dialoge, die Buchautoren und unsere Sounddesigner*innen drängten uns immer wieder zu klären: Wie kriegt man das für junge Zielgruppen interessant gestaltet oder wie macht man Barrieren niedrig, sodass sich Menschen mit so einem Thema auseinandersetzen, ohne dass es zur Fiktion wird?
Sofern die Dialoge oder Aussagen im Hörspiel fiktiv sind: Wer hat entschieden, was die Personen im Hörspiel sagen? Haben Sie sich da miteinander abgestimmt?
Prof. Dr. Paula Lutum-Lenger:
Sämtliche fiktive Dialoge und Beiträge in dem Hörstück basieren auf den originalen Dokumenten und auf tatsächlichen Ereignissen. Wenn es möglich war, haben wir wörtliche Zitate der Akteure übernommen und danach geschaut, dass wir beide Sichtweisen haben: Was sagt der Verfolger? Was sagt der Verfolgte? Wie reagiert der Verfolgte, wenn der Täter im Raum steht? Das war ein Täter. Der hat Menschen ermordet. In Frankreich? Ja. Jetzt die anderen Quellen dazu hören. Kann die Aussage bestätigt werden? Wird sie widerlegt? Dies ist in eine dramatische Dramaturgie zu bringen. Es gab einen Drehbuchautor, der diese Quellen erst einmal in eine Reihenfolge gebracht hat, woraufhin wir noch mal an den Fakten gearbeitet und gesagt haben: “Das muss anders. Das kann man dem nicht zuschreiben. Das gehört dahin.” Wenn man sich durch diese harten Fakten durchgearbeitet hat, kommt ein Feintuning in der Dramaturgie. Nimmt man den Satz noch raus oder nicht? Häufig wird es dadurch, dass man es kürzer macht, spannender, schneller, actionreicher. Das haben wir in einem ziemlich aufwendigen gemeinschaftlichen Prozess mit all den Beteiligten gemeistert. Wir hatten wirklich manchmal zehn Kacheln auf dem Bildschirm, es war ja alles in Corona-Zeiten, und haben um einzelne Positionen gerungen. Dann kam die Grafik dazu und auch die Frage: Wie kann ich das anhören? In welcher Reihenfolge? Wie ordnet man das an? Hört man erst mal alle Verfolgten? Hört man alle Verfolger hintereinander oder muss sich das immer verschränken? Oder kann man das den Zuhörern und Zuhörerinnen überlassen?
Zu Corona-Zeiten hat man ja auch generell beschränkten Zugang zu Archiven und Bibliotheken. Die Dialoge und Beiträge sowie die historischen Kontexte in dem Hörspiel beruhen auf Quellen und tatsächlichen Ereignissen. Inwieweit konnten Sie auf bereits vorhandenes Material zurückgreifen? Und inwiefern war für das Projekt zusätzliche Recherche erforderlich? Wurde Ihnen auch aus der Bevölkerung neues Material zugetragen?
Prof. Dr. Paula Lutum-Lenger:
Nein, wir hatten im Vorfeld der Entstehung der Dauerausstellung sehr viele Quellen gesammelt. Für eine Ausstellung sammelt man viel mehr Quellen als am Ende des Tages benötigt wird. Ausstellung ist Reduktion, Abstraktion und Konstruktion. Da gab es schon viel Material. Dann haben uns die Archive, auch in diesen Zeiten, tatsächliche Aktenbestände, von denen wir wussten, dass es sie gibt, in Form von Kopien oder Digitalisaten zukommen lassen. Wir hatten eine ganze Reihe von Ego-Dokumenten in unserer Sammlung und kannten die Personen, weil sie zum Teil auch in der Dauerausstellung in anderen Zusammenhängen bereits vorkamen. Wir kannten ihre Ego-Dokumente aber nicht in der Detailliertheit, doch durch die Bewerbungsunterlagen wussten wir, dass diese existieren und konnten dann darauf zurückgreifen.
Prof. Florian Käppler:
Ich habe es so empfunden, dass wir alle gemeinsam dieses Dialogbuch geschrieben haben. Es war sehr aufwendig, ich habe es vorher nicht in diesem Umfang gekannt, aber das macht es so wertvoll. Ich glaube, wir haben alle unheimlich viel gelernt, weil wir fast über jeden Buchstaben diskutiert haben. Aus der Dramaturgie heraus könnten wir diese Szene in ein Wohnzimmer verlegen, ohne zu wissen, ob dieses Gespräch in einem Wohnzimmer stattgefunden hat. Aber wir wussten, dass die Person genauso gedacht hat und das war auch dokumentiert. Unser Vorgehen war iterativ, also immer wieder neu und sozusagen aus der Dramaturgie entstehend. Man wusste, dass das spannend erzählt werden kann. Umgesetzt haben wir dies, nachdem uns die Historikerinnen gesagt haben, dass dies so gesagt werden kann und die Komponisten uns versichert haben, dass sie die Idee so umsetzen können.
Anfangs hieß das Projekt 14:13, doch es kamen neue Erkenntnisse dazu und man musste sich wieder zusammenschalten. Wie geht man mit einem neuen Aspekt um? Es war toll, dass wir da auch so mit im Boot sein durften wie im Entstehungsprozess und an den Fakten. Dass man selber auf Spurensuche ist auf beiden Seiten. Da fragt man sich: Wo liegt die Wahrheit? So ein aktuelles Thema führt uns zu dem Punkt: Wie begeistert man Menschen? Was ist was? Wie war es? Wie ist es? Vertrauen in die Polizei, Ausgrenzung und Verfolgung – all diese Dinge sind tagesaktuell. Wir haben versucht, uns dadurch in der Ästhetik sehr viele Freiheiten zu nehmen. Wir haben uns angelehnt an eine True-Crime-Ästhetik: Man steigt leicht ein, man hat immer ein musikalisches Thema, das uns in der Spannung hält. Ein ganz hochkarätiges Ensemble von Schauspieler und Schauspielerinnen ist überhaupt toll. Da muss man auch vielleicht mal sagen: Dass Frau Lutum und das Haus der Geschichte so etwas ermöglicht haben, dass sie den Weg so gegangen sind, so etwas gab es in dieser Form für so ein Thema meines Wissens noch nicht. Deswegen bin ich wirklich froh, dass wir das so machen konnten. Wir haben auch Studierende bei uns im Team gehabt. Junge Menschen, die sagen: Eigentlich ist es ein bisschen lange her, interessiert mich das? Und es war immer eine Frage der Zeit, wenn man mehr darüber weiß, desto unglaublicher wird es. Und desto mehr wird einem bewusst, dass ganz viele Überlegungen, die wir angestellt haben, und Konflikte und Spannungsfelder schon auch mit uns sehr viel zu tun haben. Heute noch.
Der grafische Hintergrund der Projektseite besteht aus einer Art Mosaik auf dunklem Grund, zusammengesetzt aus unzähligen kleinen Fotos, die aber nicht erkennbar sind. Diese Fotos bilden quasi kleine Lichtpunkte im Dunkeln. Warum haben Sie sich für dieses Hintergrunddesign entschieden? Trifft das Design hier auch eine inhaltliche Aussage?
Prof. Florian Käppler:
Weil wir visuelle Designerinnen im Team hatten, ist natürlich der Wunsch immer groß, auch großartiges visuelles Design zu machen. Wichtig war uns ziemlich früh, dass es sich sehr zurücknimmt. Man hätte natürlich viel mehr mit Motion Graphics, mit Bewegung arbeiten können und mit sehr komplexen visuellen Designs. Ein wichtiger Punkt ist, dass wir sagten: Man hört eigentlich hin, man kann auch irgendwann mal die Augen schließen, man verpasst vielleicht nicht allzu viel, man sieht eigentlich die Fotos. Die Grafik, die Sie meinen, das sind das Material, die Passbilder, die Akten, die man noch hatte. Das zunächst undurchschaubare Konvolut an historischen Akten, das soll es darstellen.
Prof. Dr. Paula Lutum-Lenger:
Fragmentarisch sind die Überreste, die man als verschiedene Teile zu etwas Neuem, zu einer neuen Erzählung, zu einer anderen Narration zusammensetzt. Ganz unterschiedliche Dinge aus Bewerbungsunterlagen, ein Passfoto, ein Schreiben der Militärregierung. Das bildet das Design des Hintergrunds für mich sehr schön ab. Wenn man auf einen einzelnen kleinen Pixel zoomt, dann könnte sich dahinter ein Passfoto auftun oder es könnte sich ein Schreiben der Militärregierung auftun. Dass dieses Fragmentarische in der Geschichte, die Überlieferung, zu einer neuen Erzählung zusammengesetzt wird, finde ich sehr schön.
Das Projekt 15:14 thematisiert ein tatsächliches historisches Ereignis. Wie ist die Rückmeldung zu dem Projekt ausgefallen?
Prof. Florian Käppler:
Ich kann mich erinnern, dass wir seitens der Künstler ein wirklich ungeheuer intensives Feedback hatten. Wir haben an einer Art Folgeprojekt gearbeitet, dass auch die 15 Nachklänge beinhaltete, und da haben wir mit Künstlerinnen und Künstlern und Literaten gearbeitet, die natürlich alle mit bei dem 15:14-Hörspiel gearbeitet haben. Das sind Künstler*innen und Kreative, die wirklich davon gefesselt waren. Sie hatten natürlich auch einen Anreiz, sich damit zu beschäftigen, weil wir mit ihnen dann künstlerische Projekte gestartet haben. Aber das lässt einen auch nicht so schnell los. Es war eigentlich eine wichtige Anforderung, dass man dabeibleibt, wenn man einmal eintaucht. Das Feedback, dass das einen reinzieht, hatten wir ganz stark. Und dass es dann auch tatsächlich nachklingt, war für uns ein ganz wichtiges Ziel. Wenn es funktioniert, dass akustische Erinnerungen bleiben oder der Nachklang, haben wir viel erreicht.
Prof. Dr. Paula Lutum-Lenger:
Was mich überrascht hat, ist, dass junge Menschen so eine hohe Bereitschaft haben, sich am Handy tatsächlich intensiv mit dem Thema zu beschäftigen. Ich glaube, in meiner Generation ist es so, dass das Hörstück etwas ist, dass man beim Bügeln nebenher gehört hat. Das geht mit so einem Hörstück wie unserem nicht, weil sie sich immer wieder entscheiden müssen. Diese große Bereitschaft, so intensiv in das Thema einzusteigen und auch so lange dabei zu bleiben und sich wirklich einzulassen auf das, was angeboten wird, hat mich sehr beeindruckt. Dieses Angebot zu nutzen, mit all den Facetten, die es hat: dass ich verschiedene Seiten probieren kann, dann die Töne dazu nehme, auch noch mal zurück kann und hören: Was hat der vorhin gesagt? Und dass junge Leute dann wirklich noch mal bereit sind, sich dadurch zu navigieren und sich ihre Meinung zu bilden – dass das gelingt, finde ich toll. Wenn Sie mich im Vorhinein gefragt hätten: Ich habe es mir gewünscht, aber ich war nicht sicher, ob es so gelingen würde.
Das Haus der Geschichte Baden-Württemberg trägt mit seinen Projekten schon lange dazu bei, Erinnerungskultur dezentral stattfinden zu lassen. Auch das Web nutzen Sie bereits, etwa für einen virtuellen Rundgang durch das Hotel Silber. Welche Bedeutung hat Ihrer Meinung nach das Web für Erinnerungskultur?
Prof. Dr. Paula Lutum-Lenger:
Das Web ist eine ganz wichtige Säule in der Erinnerungskultur, es hilft vor allem, unsere Reichweite deutlich zu vergrößern. Wenn wir bislang darauf angewiesen waren, dass Menschen sich mal in den Zug setzen und quer durch Deutschland fahren, wenn sie aus Neuengamme, Hamburg oder Lübeck kommen, dann geht es jetzt im digitalen Raum. So sind die digitalen Angebote schon sehr wichtig und sehr gut. Für das Hörstück kann man sagen, dass es das Thema sehr intensiv aufnimmt, und man kann sich mit diesem Thema an einem Ort, auch am historischen Ort, auseinandersetzen. Von daher halte ich diese Angebote in der Erinnerungskultur auch für sehr wichtig. Sie sind für uns ein ganz wichtiges zusätzliches Standbein. Ich glaube überhaupt nicht, dass es dazu führt, dass die Menschen nicht auch an die historischen Orte reisen, die ja an sich auch eine Qualität haben, weil man sich dort Schicht für Schicht wirklich an dem abarbeiten kann, was der Ort bietet. Der digitale Raum bietet eine Ergänzung, häufig einen Einstieg oder eine Möglichkeit zur Nacharbeit. Wir schaffen natürlich eine Reichweite, die deutlich über Baden-Württemberg, auch über Deutschland hinausgeht. Das sehen wir auch schon bei diesem Hörstück. Wir haben auch Klicks aus USA, aus Brasilien, aus Großbritannien und aus Frankreich. Das ist natürlich toll.
Prof. Florian Käppler:
Es ist uns ein ganz wichtiges Anliegen, dass man barrierefreie Zugänge schafft. Deswegen ist die App auch sehr gut, man muss sie nicht installieren, man kann drauf gehen. Dies wäre vor ein paar Jahren technisch gar nicht möglich gewesen, Web-Audios mit mehreren Kanälen zu machen. Warum das Hotel Silber? Ich habe eine Anekdote aus meiner Familie, die mir in Erinnerung geblieben ist. Mein Vater wusste, dass wir mit dem Hotel Silber ein anderes Projekt gemacht haben, und erzählte mir, dass man damals, als er ein kleiner Junge war, wenn man in der Stadt bei der Mama an der Hand gegangen ist, immer auf die andere Straßenseite gegangen ist. Man ist nicht direkt am Hotel Silber vorbeigegangen. Man wusste: Das ist böse, das ist schlimm, das ist gefährlich. Aber man guckt da auch nicht genau hin. Das finde ich wichtig, es ist zumindest für uns oder für KLANGERFINDER wichtiger. Solche kleinen Anekdoten, die man in der Familie gehört hat, werden immer weniger. Was finden wir für neue Wege für junge Menschen, die zu uns kommen und diesen Background von der Familie vielleicht gar nicht haben? Wie vermitteln sich Dinge? Das ist ein weites Feld und wir stehen noch am Anfang.
Baden-Württemberg ist ein Bundesland mit einer Vielzahl von Gedenkstätten zur NS-Zeit. Dürfen wir weitere gemeinsame digitale Projekte des Hauses der Geschichte und der Agentur KLANGERFINDER zur Erinnerungskultur erwarten?
Prof. Florian Käppler:
Es stimmt tatsächlich, dass es in Baden-Württemberg eine Vielzahl von Gedenkstätten gibt. Wir hatten auch viele Kooperationen zusammen, aber das muss nicht immer KLANGERFINDER sein. Ich würde mir auf jeden Fall wünschen, dass das Projekt intensiv weitergedacht und weitergelebt wird und nicht verloren geht.
Prof. Dr. Paula Lutum-Lenger:
Ich kann es mir sehr gut vorstellen wieder mit Herrn Käppler zusammenzuarbeiten, wir haben schon vor vielen Jahren an einem sehr interessanten Projekt zur Erinnerungskultur zusammengearbeitet. In dem Projekt ging es um die jüdischen Deutschen aus Hohenzollern, aus Württemberg, die am Killesberg in einem Sammellager gesammelt und vom Stuttgarter Nordbahnhof nach Riga deportiert wurde. Dies wäre ein erinnerungskulturelles Projekt, welches fortgesetzt werden könnte. Zuvor hat Herr Käppler in dem Projekt jeden Buchstaben eines Namens einen Ton zugeordnet. Die Namen der Deportierten wurden vier Tage lang einige Stunden im Zug im Haus der Geschichte abgespielt, dies könnte man an einem Erinnerungstag fortsetzen. Wir müssen schauen, was wir für ein Jubiläum hinbekommen und darüber nachdenken, wie man so ein Projekt fortsetzen könnte. Es könnte natürlich auch was anderes sein. Häufig berichtet man sich gegenseitig von einem Thema, das einen beschäftigt oder an dem man arbeitet. Im gemeinsamen Gespräch kommen dann ganz andere und neue Gedanken auf. Für mich ist das Alter ein Vorteil, man kann sich mit Themen immer wieder beschäftigen, es gibt immer wieder neue und andere Zugänge. Auch eröffnen technische Entwicklungen, die weiter voranschreiten, neue Möglichkeiten. Das ist das Tolle und das Spannende in meinem Beruf.
Das Interview führten Susan Strumbo und Dilek Nur Tastan. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang “Mehrsprachige Kommunikation” an der TH Köln.
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