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Gegen Uns – Warum sich rechte Gewalt gegen uns alle richtet

Screenshot "Gegen uns."
Screenshot "Gegen uns."
Screenshot „Gegen uns.“

Rechte Gewalt in Deutschland nach 1990 – eine Zeit, geprägt von Angriffen und Terrorakten, die noch viel zu selten thematisiert wird. Dass die Nachwirkungen uns als Gesellschaft noch immer beschäftigen, wird in der Webdokumentation „Gegen uns“ deutlich. Das Projekt dokumentiert mithilfe von multimedialen Berichten der Angegriffenen die Kontinuität rechter Gewalt und befasst sich mit den gesellschaftlichen Folgen – aber auch mit Fragen von Solidarität und Gegenwehr.

Das seit April 2020 bestehende Angebot ist dieses Jahr in der Kategorie „Information“ für den Grimme Online Award 2021 nominiert.
Im Interview mit der Projektleiterin Julia Oelkers und Katharina Wüstefeld von der RAA Sachsen e. V. erfahren wir, welche Folgen rechte Gewalt hat und welche Motive hinter den Taten liegen.

Die Initiator*innen von „Gegen uns“, der VBRG e. V. (Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt) und das Projekt „Support“ der RAA Sachsen e. V., setzen sich schon lange für Betroffene rechter Gewalt ein. Seit April 2020 bieten Sie nun mit „Gegen uns“ eine Plattform an, die den Überlebenden und Hinterbliebenen rassistischer und rechter Gewalt eine Stimme gibt. Gab es einen konkreten Auslöser, das Projekt zu starten?

Julia Oelkers: Der Anlass war der 30. Jahrestag der Wiedervereinigung, denn die Geschichte der Jahre nach der Wende und der Wiedervereinigung ist unvollständig. Es fehlt die Perspektive der von Rassismus und Antisemitismus Betroffenen und der Angegriffenen von rechter Gewalt. Diese Perspektive steht im Mittelpunkt von „Gegen uns“. Es ist die Perspektive derer, die ausgeharrt und mit dem Rücken zur Wand Menschenrechte und Demokratie – und oft ihr nacktes Leben – verteidigt haben. „Gegen uns“ erzählt von Kontinuitäten rechter und rassistischer Gewalt, aber auch von Solidarität in den drei Jahrzehnten seit 1990.

Katharina Wüstefeld: Ein Motor ist es auch, diese zwar noch immer hegemoniale, aber mittlerweile schon gebrochene Erzählung von einer ‚friedlichen Revolution’ zu durchbrechen. Wir wollen zeigen, dass dies für große Teile der Bevölkerung mitnichten eine friedliche Revolution gewesen ist. Uns geht es um die vielen Menschen, die mit dem Einsetzen der Wende oder mit dem Zusammenbruch der DDR schlagartig entfesselter rechter Gewalt ausgesetzt waren, die Kinder, Eltern und Freund*innen verloren haben.

Sie bezeichnen das Format Ihres Angebots als Webdokumentation. Was ist charakteristisch für eine Webdokumentation und warum haben Sie dieses Format gewählt?

Oelkers: Für Webdokumentationen gibt es keine eindeutige Definition. Für uns war klar, dass wir dokumentarisch arbeiten und unterschiedliche Fälle erzählen und dabei auch mit verschiedenen Medien arbeiten. Die Videos und Interviews mit den Betroffenen und deren soziales Umfeld sind ein ganz wesentlicher Bestandteil. Wir setzen aber auch Fotos ein, Texte, Broschüren, Zeitungsartikel, Schlagzeilen oder Gerichtsakten. Mit diesen multimedialen Elementen betrachten wir immer einen längeren Zeitraum. Es geht nicht nur um den unmittelbaren Zeitpunkt der Tat, sondern, wie zum Beispiel bei der Episode zum Mord an Jorge Gomondai 1991 in Dresden, um eine spezifische Phase. Wir gehen spezifischen Fragen nach: Wie ging es nach dem Mord weiter? Wie hat sich das Erinnern an Jorge Gomondai, an Marwa El-Sherbini gestaltet? Wie geht die Stadt mit rassistischem Terror um? Welchen Einfluss hatten diese Gewalttaten auf die Gesellschaft? Das ist für mich eine Webdokumentation.

Screenshot "Gegen uns."
Screenshot „Gegen uns.“

Wüstefeld: Gleichzeitig ist „Gegen uns“ aber kein Archiv oder nur eine Website, die versucht, Informationen zum Thema zur Verfügung zu stellen. Sondern diese Episoden haben ihre eigene Dramaturgie und sind eine Erzählung – aus der Perspektive der Angegriffenen.

Sie schreiben auf der Webseite: „Rechte Gewalt richtet sich gegen die Betroffenen, und auch gegen uns alle.“ Können Sie erläutern, wie es zur Namensgebung kam?

Oelkers: Die Idee war von Anfang an, nicht nur die Menschen zu befragen, die direkt den Angriff erfahren haben. Es geht uns auch immer um deren Umfeld, also Freundinnen und Freunde, Familie, oder einfach Menschen, die sich solidarisch gezeigt haben. Nach den rassistischen Morden in Dresden an Jorge Gomondai und Marwa El-Sherbini gab es viele Demonstrationen oder Aktionen zum Gedenken. Da kamen Menschen, die die angegriffenen Personen nicht persönlich kannten, aber sich in der Situation positionierten und solidarisierten, sodass das natürlich auch ihr Leben beeinflusste. Niemand kann sagen, Rassismus, Antisemitismus, rechte Gewalt betreffe einen nicht, es ginge hier nicht um einen selbst, sondern um jemand anderen. Es geht immer um alle, die eine andere Gesellschaft, ein solidarisches Zusammenleben in einer demokratischen, antirassistischen und freien Gesellschaft wollen. Gegen die alle richtet sich der Angriff. Und deshalb gegen uns.

Wüstefeld: Diese Angriffe führen prinzipiell dazu, dass unsere Gesellschaft in Frage gestellt wird, dass unsere Gesellschaft an Menschlichkeit einbüßt. Wenn ich nicht zur potenziell betroffenen Gruppe zähle, werden trotzdem meine Vorstellungen einer solidarischen Gesellschaft, meine humanistischen Werte angegriffen. Mit diesem Titel sind alle, die diese Werte teilen, eingeladen, sich zu diesem „Uns“ zu zählen.

Der VBRG e.V. ist bundesweit tätig. Wieso haben Sie sich auf Vorfälle in Ostdeutschland konzentriert?

Oelkers: Die nächste Folge wird in Nürnberg spielen. Die Reihenfolge der Veröffentlichung ist auch coronabedingt ein bisschen durcheinandergeraten. Bisher haben wir aber tatsächlich einen Schwerpunkt in Ostdeutschland. Es gab einfach einen Schwerpunkt rassistisch motivierter Gewalttaten in der Nachwendezeit im Osten. Zum anderen müssen beispielsweise die rechtsterroristischen Attentate der jüngeren Vergangenheit in Westdeutschland noch mal anders betrachtet werden. Und es existieren auch schon sehr gute Formate zu einigen dieser Fälle, zum Beispiel zum Attentat in Hanau die Dokumentation „Hanau: Eine Nacht und ihre Folgen“ von Marcin Wierzchowski für den Hessischen Rundfunk. Aber gerade im Fall von Jorge Gomondai beschreiben wir auch, dass es sehr viele Neonazis und rechte Organisationen und Strukturen aus dem Westen gab, die nach 1989 gezielt in den Osten gegangen sind und sich dort aufgebaut haben. Rechte Gewalt ist nicht nur ein ostdeutsches Phänomen, ganz bestimmt nicht. Das zeigen die Brandanschläge in Mölln und Solingen, das zeigt die NSU-Mordserie, und auch das Attentat in Hanau.

Die Website ist unterteilt in vier Episoden zu unterschiedlichen Fällen. Die Morde an Jorge Gomondai und Marwa El-Sherbini, die Erfahrungen mit Rassismus des Rappers Rashid Jadla und die neuste Folge über die Baseballschlägerjahre in der Uckermark. Warum wurden genau diese Fälle ausgewählt?

Screenshot "Gegen uns."
Screenshot „Gegen uns.“

Oelkers: Wir haben Fälle gewählt, die unterschiedliche Motive rechter Gewalt zeigen. Der Mord an Jorge Gomondai war eine rassistisch motivierte Tat direkt nach der Wiedervereinigung. Der Mord an Marwa El-Sherbini hat einen antimuslimischen Hintergrund. Wir betrachten nicht nur Fälle mit Todesopfern, sondern auch Fälle, in denen es um kontinuierliche Gewalt über einen langen Zeitraum geht. Aus Erfurt erzählen wir mit Rashid Jadla eine Geschichte von Kontinuität rassistischer Gewalt über mehrere Generationen von Migrantinnen und Migranten und auch von Solidarisierung und Selbstorganisation. In der letzten Folge über die Uckermark zeigen wir die massive Gewalt Anfang der 1990er gegen alternative Jugendliche. Wir haben in allen Episoden erwähnt, dass es immer wieder Angriffe und Todesfälle auf wohnungslose oder arme Menschen gibt. Auch Sozialdarwinismus ist eine Motivation für rechte Gewalt. Im Grunde gehen diese Angriffe tatsächlich gegen alle, die nicht in ein rechtes Weltbild passen.

Was genau wollen Sie mit der Webseite erreichen? Können Sie Zielgruppe und Ziel des Projekts erläutern?

Wüstefeld: „Gegen uns“ ist ein journalistisches Format, das für sämtliche Zielgruppen gedacht ist, die am Thema interessiert sind. Als Bundesverband und als Beratungsstelle für Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt geht es natürlich auch darum zu zeigen, welche Facetten rechte Gewalt hat, welche Motive dahinterliegen und welche riesengroßen individuellen, aber auch gesellschaftlichen Auswirkungen solche Taten haben.

Oelkers: Wir arbeiten immer grundsätzlich mit regionalen Gruppen zusammen. Für jede Episode gibt es Organisationen, politische Gruppen, Beratungsstellen, die an der Episode mitarbeiten und das mit in ihre Arbeit einbeziehen, zum Beispiel in ihrer Bildungsarbeit, bei Veranstaltungen oder einfach zur Information.

Das Angebot ist jetzt seit knapp über einem Jahr online. Wie waren bisher die Reaktionen? Haben Sie eher positives Feedback bekommen oder auch teilweise Kritik?

Wüstefeld: Wir haben uns sehr darüber gefreut, dass „Gegen uns“ mit dem Deutschen Einheitspreis 2020 in der Kategorie Silber ausgezeichnet wurde. Das hat uns sehr darin bestärkt, dass die Perspektive der Webdokumentation viele Menschen interessiert. Und tatsächlich kann ich mich ausschließlich an positives Feedback erinnern. Es hat uns nichts Kontroverses oder stark Kritisches erreicht. Ich kann es vor allem lokal beurteilen: Hier in Sachsen oder Dresden hat das Angebot eine große Wirkung und wird auch viel genutzt. Vor allem für zivilgesellschaftliche Initiativen, die beispielsweise mit dem Gedenken vor Ort beschäftigt sind, ist das eine Referenz. Es gibt zu Marwa El-Sherbini und Jorge Gomondai bereits Formate, die die Episoden aufgreifen, wie Radiosendungen, Texte oder Veranstaltungsformate.  In der Ausführlichkeit, in der wir recherchiert haben, hat die Webdokumentation eine Bedeutung und Verbindlichkeit, auf die sich Menschen auch gerne für Nachfolgeformate berufen, etwa, wenn nochmal gesucht wird, was es zu dem Fall schon gibt.

Oelkers: Die Leute sind eher überrascht und freuen sich. Sie finden, das Angebot zeigt neue Aspekte, es gibt neue Sichtweisen und sie verfolgen es mit Interesse. 

Welche neuen Projekte sind denn noch geplant? Gibt es da schon irgendwas, was Sie verraten können?

Oelkers: Es wird eine Folge geben, die in Nürnberg spielt. Da erzählen wir von dem Angriff auf einen jungen Deutsch-Kurden vor zehn Jahren und dessen Folgen. Es gibt zudem die Überlegung, noch eine Episode mit dem Schwerpunkt sozialdarwinistische und ableistische Gewalt zu machen. Es ist aber noch nicht entschieden, ob der Tatort im Osten oder im Westen sein wird. Darüber hinaus arbeiten wir an einer Handreichung mit Methodenbeispielen, um „Gegen uns“ in die Bildungsarbeit zu integrieren.

Das Interview führten Kristin Hanvi und Julia Paasch. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang „Mehrsprachige Kommunikation“ an der TH Köln.

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