Vom gehetzten Tier zum freien Menschen
„So mancher, mich eingeschlossen, verstand gar nicht, […] daß er von einer Minute zur anderen kein gehetztes Tier, sondern ein freier Mensch geworden war.“ So beschrieb es der Gefangene Heinz J. Herrmann, nachdem er und hunderte andere am 29. April 1945 aus dem Konzentrationslager Dachau von den Amerikanern befreit wurden. „Die Befreiung“ – ein Projekt des Bayerischen Rundfunks – erzählt vom Ende des Konzentrationslagers Dachau und ermöglicht mit Hilfe modernster Augmented-Reality-Technologie Nutzer*innen einen virtuellen Rundgang über die heutige Gedenkstätte.
„Die Befreiung“ ist für den Grimme Online Award in der Kategorie „Wissen und Bildung“ nominiert. Im Interview spricht Projektleiterin Eva Deinert über die Relevanz des Themas und die emotionale Komponente bei der Realisierung des Projekts.
Das Projekt wurde anlässlich des 75. Jahrestags der Befreiung von Dachau gestartet. Was sind aus Ihrer Sicht die Hauptgründe, warum das Thema auch 75 Jahre nach der Befreiung zu Recht große Bedeutung hat?
Gerade jetzt, wo es immer weniger Zeitzeugen gibt, ist es wichtig, diese Geschichten immer wieder zu erzählen. Die meisten sind mittlerweile weit über 90 – es ist also absehbar, dass bald niemand seine Erfahrungen aus erster Hand schildern kann. Daher sollten wir andere Formen entwickeln, mit denen man diese Erinnerungskultur gestalten und vor allem auch junge Menschen erreichen kann. Das war unser Ansatz. Erinnerungskultur ist aber auch deswegen wichtig, weil heute extremistische Tendenzen in der Gesellschaft und Hass in der politischen Auseinandersetzung immer mehr zunehmen.
Augmented Reality ist eine Erweiterung der wahrgenommenen Realität mit technischen Hilfsmitteln. Wieso haben Sie sich dazu entschieden, das Projekt mit dieser Technologie zu gestalten?
Ich bin beim Bayerischen Rundfunk in der Entwicklungsredaktion. Wir beschäftigen uns also sehr viel mit neuen Formen des Journalismus, die vermehrt aufkommen und zukunftsweisend sind – darunter auch Augmented Reality. Wir wollten zusammen mit der Gedenkstätte Dachau anlässlich des Jahrestages der Befreiung ein Projekt im digitalen Bereich gestalten. So sind wir auf die Idee gekommen die Fotos, die am Tag der Befreiung aufgenommen wurden, wieder an den Entstehungsort „zurückbringen“. In enger Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte haben wir das dann ausprobiert und zunächst einen Prototyp entwickelt. Den haben wir mit Schulklassen getestet und das Feedback war super. Die Schüler*innen sahen einen großen Mehrwert darin, da sie den Rundgang an ihr eigenes Tempo anpassen konnten.
Antisemitische Diskriminierungen haben in letzter Zeit leider wieder sehr viel Raum in unserer Gesellschaft und in den Medien bekommen. Glauben Sie, dass Projekte wie das Ihre dagegenwirken können?
Ich denke schon. Denn das Wichtige ist, nicht aufzuhören die Geschichten des Holocaust zu erzählen. Da unsere Hauptzielgruppe Schüler*innen sind, haben wir bewusst auch nach jungen Protagonist*innen gesucht, deren Geschichten noch nicht so häufig erzählt wurden. Uns war wichtig, dass junge Leute sich in den einzelnen Zeitzeugen vom Alter her wiederfinden können. In der Schule erfährt man diese unfassbar großen Zahlen von Menschen, die ermordet wurden und man sieht diese furchtbaren Fotos von Leichenbergen. Doch das bleibt immer noch etwas abstrakt. Wenn dahinter aber ein tatsächlicher Mensch steht, mit Träumen und Wünschen, wird die Thematik greifbarer.
Was erhoffen Sie sich durch diese Art und Weise der Gestaltung bei den Nutzerinnen und Nutzern zu bewirken?
Wir hoffen, dass wir den Nutzer*innen einen Zugang geben können, damit sie besser verstehen, was damals passiert ist. Viele junge Menschen denken beispielsweise, nach der Befreiung wäre der Alptraum der Häftlinge vorüber gewesen. Es ist wichtig aufzuklären, dass dies keineswegs der Fall war. Einige der befreiten Häftlinge waren zu krank und geschwächt, um ihren Heimweg anzutreten und manche hatten nicht mal mehr eine Heimat. Viele sind auch kurz nach der Befreiung gestorben. Mit dem Tag der Befreiung war nicht alles vorüber und es ist heute noch immer nicht vorüber. Es ist ein Teil der Geschichte und wir hoffen, für mehr Aufklärung zu sorgen und dieses Bewusstsein zu vermitteln.
Was war die größte Herausforderung bei der Beschaffung der Quellen?
Wir hatten dabei ganz tolle Unterstützung. Zwei Kolleginnen der KZ-Gedenkstätte Dachau, Dr. Elisabeth Fink und Nicole Steng, haben direkt vor Ort in der Gedenkstätte viel recherchiert und da sie das Archiv schon sehr gut kannten, hatten sie einen guten Überblick, was es schon gibt. Trotzdem haben sie auch gezielt nach Quellen gesucht. Die Gedenkstätte selbst verfügt über eine große Bibliothek und bekommt auch nach wie vor viele Tagebücher von den Hinterbliebenen ehemaliger Insassen zugesendet. Auf der journalistischen Seite war es unsere Aufgabe, den Tag der Befreiung so gut wie möglich zu rekonstruieren. Es war uns sehr wichtig so viele Augenzeugen wie möglich selbst erzählen zu lassen, wobei es nicht immer einfach war, zu allem passende Texte und Zitate zu finden. Das Bildmaterial war die größte Herausforderung, denn vor 75 Jahren waren Fotos natürlich noch keine Selbstverständlichkeit. Die Bilder mit den Menschen und ihren Erzählungen sowie mit der Logik des Rundgangs zu verknüpfen war wie ein großes Puzzle und hat viel Zeit in Anspruch genommen. Die Gedenkstätte hat uns dabei aber sehr unterstützt, wir haben sehr gut zusammengearbeitet.
War die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema auch eine Belastung auf mentaler und emotionaler Ebene?
Ja, absolut. Natürlich sieht man viele Fotos, die man lieber nicht gesehen hätte und die einem nachhängen. Auch die Geschichten, die man liest, nehmen einen schon sehr mit. Meine Kollegin Yvonne Maier und ich haben als Hauptautorinnen an dem Projekt gearbeitet und hatten währenddessen Unterstützung von einem Coach. Sie hat uns dabei geholfen mit dem Thema umzugehen, da man sehr viel Schockierendes liest und sieht. Umso wichtiger ist es, dass diese Geschichten erzählt werden und sich auch heute noch damit auseinandergesetzt wird.
Das Projekt hat sich als erfolgreich erwiesen. Für welche Themen eignet sich AR-Technologie aus ihrer Sicht besonders?
Ich denke, sie eignet sich sehr gut zur Wissensvermittlung; nicht nur bei geschichtlichen Themen in Form von Fotos. Es gibt auch Schulen – vor allem in den USA – , in denen die AR-Technologien genutzt werden. Einige Studien belegen, dass man mit ihrer Hilfe besser lernt. Wenn das Gehirn eine körperliche Erfahrung mit dem Lerninhalt verknüpft, bleibt das Gelernte besser im Gedächtnis. Genau das passiert auch bei Virtual Reality und Augmented Reality: Das Erlebte wird anders erinnert. Dadurch hat es viel Potenzial für den Einsatz in den Bereichen der Wissensvermittlung und Bildung. Die Technologie, die wir angewandt haben, ist natürlich geeignet für viele Arten der Gedenkstätten, Museen oder auch Stadtrundgängen, wie es das Start-up Zaubar anbietet, mit dem wir zusammengearbeitet haben. Installationen mit AR-Technologie zeigen, wie verschiedene Orte früher ausgesehen haben und werten die historische Komponente so nochmal auf.
Das Interview führten Tayla Spitzbart und Iliana Meier.
Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang „Mehrsprachige Kommunikation“ an der TH Köln.
Sehr gut!!! Eine reelle Chance die so wichtige Gedenkkultur in diesen ‚fiebrigen Zeiten“ zu pflegen und noch erfolgreicher zu fördern!!!!