Digitale Ökosysteme – eine neue Qualität im Netz?
Ein Gastbeitrag von Lars Gräßer, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Grimme-Institut, hier in vielen Medienkompetenzprojekten engagiert und Blogger unter „Lars pflanzt Ideen“.
Was haben Microsoft, Apple, Google, Amazon gemeinsam? Richtig: Sie beherrschen das Internet und damit auch ein Gutteil unseres Alltags. Und was noch? Sie werden als (digitale) Ökosysteme betrachtet, die im Internet miteinander um Aufmerksamkeit und Geld der Nutzer(innen) konkurrieren. Etabliert sich hier eine neue Leitmetapher für den Medien- bzw. den Internetbereich, welcher die Vorstellung von der Datenautobahn ablöst? Hält der Umweltgedanke Einzug? Und mit welchen Konsequenzen für wen? Wie gestaltet sich das systemische Denken über Medien?
Metaphern
„Ohne Metaphern keine Kommunikation über Medien“, so Matthias Bickenbach und Harun Maye in ihrem Buch „Metapher Internet“ (2009). Aber was sind überhaupt Metaphern? Jo Reichertz zu Folge sind Metaphern „sprachlich materialisierte Teile der Kultur einer Gesellschaft“ (Reichertz 2007, S. 155f). Sie kommen als Medien des Denkens immer dann zum Einsatz, „wenn angesichts neuer Entwicklungen und Phänomene die geltende Ordnung in alter Form nicht mehr gilt, in gewisser Weise sogar problematisch geworden ist“ (ebenda). Ihre Leistung besteht darin, „das Unbekannte in die Begriffe des Vertrauten“ zu kleiden. Sie wirken sinnstiftend, was das Weiterhandeln ermöglicht, trotzdem man sich quasi auf unsicherem Grund befindet. Dadurch werden sie zu Medien des Handelns (ebenda), dem Handeln mit Sprache – hier: der Kommunikation über Medien – und beeinflussen so unsere Sicht auf den Alltag (Siehe hierzu auch vertiefend das mekonet Online-Dossier von Harald Gapski: Was haben Autobahnen, Sicherheitsgurte und Führerscheine mit Medienkompetenz zu tun?).
Biologisches Verständnis
Aber was bezeichnet diese neue Metapher für den Medien- bzw. den Internetbereich? Ökosysteme beschreiben üblicherweise Beziehungsgefüge von Lebewesen untereinander und mit ihrem Lebensraum (Schäfer 2012). Zu den allgemeinen Eigenschaften von Ökosystemen gehören Offenheit, Dynamik und Komplexität, so der Eintrag in der deutschen Wikipedia: Zur Selbsterhaltung ist ein Energiefluss nötig, daher oder dabei sind sie prinzipiell unabgegrenzt. Sie sind anpassungs- und entwicklungsbedingt veränderbar und in sich vielgestaltig, aus unterschiedlichen Systemelementen zusammengesetzt, die in einem teils dynamischen Verhältnis zueinander stehen.
(Die Wikipedia wird hier bewusst herangezogen, als Enzyklopädie des „aktuell Unwidersprochen“, also Meinungsspeicher für ein mehrheitsfähiges Begriffsverständnis, welches nicht zwingend Experten teilen, aber doch breitere Bevölkerungsteile.)
Und noch mal mit Blick auf die Unabgegrenztheit (ebenda): „Als offene Systeme haben Ökosysteme keine tatsächlichen Systemgrenzen gegenüber der restlichen Biosphäre. Abgegrenzte Ökosysteme sind durch den Untersucher ausgewählte Konstrukte“. Die Grenzziehung liegt also eher im Auge des Betrachters, ist nicht so sehr eine Systemqualität, die einen innen/außen Unterscheidung ermöglicht. Zwar kann auch die Erde als Beispiel für ein gigantisches Ökosystem herhalten, gebräuchlicher ist aber die Verwendung in Bezug auf kleinere Einheiten. Klassische Beispiele für biologische Ökosysteme sind die Ozeane oder – etwas kleiner – Moore und Sümpfe.
Medienökonomisches Verständnis
Wird die Ökosystemmetapher auf den Medienbereich übertragen, scheint sich die Idee der Offenheit plötzlich zu verlieren: „Mit dem Begriff digitales Ökosystem wird im übertragenen Sinne vor allem im Bereich der Telekommunikation eine Soft- und Hardware-Architektur bezeichnet, welche auf jeweils ganz eigenen Geräten, Systemen und Zugangsvoraussetzungen beruht und damit entsprechendes Zubehör voraussetzt und hervorbringt“ (ebenda). In den Vordergrund treten die Systemgrenzen, also die Abgeschlossenheit digitaler Plattformen, aber auch die produktive Kraft digitaler Ökosysteme, welches „entsprechendes Zubehör voraussetzt und hervorbringt“ (ebenda). Man denke hier nur an die unüberschaubare Welt der Apps, die ganz eigene, teils preiswürdige Medienqualitäten entfalten. Nicht das Internet wird als digitales Ökosystem bezeichnet, sondern auch hier kleinere Einheiten: Markenwelten. Praktische Beispiele sind hierfür die eingangs erwähnten Microsoft, Apple, Google, Amazon.
Aus der Perspektive der Unternehmen, die große Zahlen von Nutzern mit Hilfe geschlossener digitaler Ökosysteme an sich binden, bedeutet dies ein doppeltes Geschäft: Lukrativ ist der Verkauf der Soft- und Hardware-Architektur. Und sie bieten zusätzlich, so Nico Lumma, Dritten den Zugang zu deren Nutzern an „und profitieren dadurch, entweder weil Dritte von den Nutzern gewollte Dienstleistungen erbringen oder Inhalte liefern, oder schlicht weil Dritte für den Zugang zu den Nutzern bezahlen“. Schnittstellen verheißen Offenheit, aber nur wenn sie sich rechnet. Das „Auge des Betrachters“ spielt keine Rolle mehr.
Für den Nutzer innerhalb eines medialen Ökosystems bedeutet das praktisch: Immer neue Systemelemente entstehen und lassen sich problemlos integrieren, Betriebsysteme verlieren an Bedeutung, was eine Vereinfachung für den Alltag darstellt. Aber es wird gleichzeitig immer schwieriger, von einem ins andere System zu wechseln, weil bestimmte Vorentscheidungen für ein System dauerhafter wirken. Nico Lumma spricht in diesem Zusammenhang von einem „Lock-In“-Effekt: Das digitale Ökosystem lässt einen nicht mehr los, schließt einen ein. Es scheint: Hier ist das Gerede von digitalen Ökosystemen einfach nur die Verschleierung an sich ärgerlicher Inkompabilitäten, die buchstäblich systemübergreifende Anschlussfähigkeit verhindern.
Ein anderes Verständnis?
Einen anderen Bezug, aber doch gleich, hinsichtlich der Abgeschlossenheit, scheint das Verständnis des selbst erklärten „Videopunk“ Markus Hündgen. Für ihn hat „Webvideo […] sein eigenes Öko-System, eigene Regeln, Sorgen und Nöte. Ebenso wie SocialTV. Ebenso wie Fernsehen„, wobei er Letzterem keine oder nur wenig Zukunft einräumt. „SocialTV und Co. sind nur Krücken, nur lebensverlängernde Maßnahmen eines eigenen Öko-Systems. Sie werden das Programm bereichern, sie werden unter Umständen neue Erlösströme generieren. Doch sie werden als Bestandteil eines Organismus nicht verhindern können, dass dieser seine besten Jahre hinter sich hat“ (ebenda). Wird nur das digitale Ökosystem Webvideo überleben? Oder wird auch ihm die Geschlossenheit irgendwann zum Problem?
Wer in der englischen Wikipediaausgabe stöbert, findet hier nochmal ein ganz anderes Verständnis, welches deutlich näher an Konzepten aus der Biologie orientiert scheint: „A digital ecosystem is a distributed adaptive open socio-technical system with properties of self-organisation, scalability and sustainability inspired from natural ecosystems.“ Betont wird hier – im Gegensatz zum deutschen Eintrag oder Verständnis – die Offenheit und die Adaptivität.
Vielleicht steckt hinter der Metapher aber auch noch mehr, noch anderes. Im Interview erklärt Dirk von Gehlen: „Die Metaphorik der digitalen Ökosysteme bezieht sich auf die Idee, das Internet nicht als weiteren Medienkanal, sondern als Raum zu denken, in dem sich Menschen bewegen.“ (SMK 11, 2012, S. 67) Medien als (Lebens-)Raum, in dem sich Menschen bewegen? Fest zu stellen ist schon mal, dass sich hier ein humaneres Bild abzeichnet, der User nicht nur als (Werbe)Kunde auftaucht.
Literatur
Bickenbach, Matthias und Maye, Harun (2009): Metapher Internet. Literarische Bildung und Surfen. Kulturverlag Kadmos: Berlin.
Gehlen, Dirk von (2012) im Interview: Über „digitale Ökosysteme“. In: Gräßer, Lars und Hagedorn, Friedrich: Medien nachhaltig nutzen. Beiträge zur Medienökologie und Medienbildung. kopaed: München/Düsseldorf. S. 65-70.
Reichertz, Jo (2007): Sinnstiftende Metaphern für das Internet. In: Ders.: Die Macht der Worte und der Medien. VS Verlag: Wiesbaden. S. 156-158.
Schäfer, Matthias (2012): Wörterbuch der Ökologie. Spektrum Akadem. Verlag: Heidelberg.
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