Endlich erwachsen? Schon lange!
Ein Gastbeitrag von Kai Heddergott
Die Geschichte des Grimme Online Award ist eine klassische Coming-of-Age-Story: Aus gesellschaftlich gut verankertem Hause mit Renommé stammend, suchte sich der Spross wie jeder Heranwachsende sein eigenes Terrain und machte wie jedes Kind, wie jeder Teenie eigene Erfahrungen – mit allem, was zum Ausprobieren eines Jünglings dazugehört. Nicht nur mit seinen zwanzig Lenzen, sondern schon etwas länger gilt: Der Award ist erwachsen.
Seine Herkunft ließ sich zu Beginn deutlich daran ablesen, welche drei parallelen Preise es gab: Den Grimme Online Award TV, den Preis für Web-TV und für Medienkompetenz. „Sendungsbegleitend“ waren die von den zwei Nominierungskommissionen und Jurys begutachteten Angebote zumeist. Die historischen Dimensionen, die die prämierten Angebote und der Award selbst in der Rückschau einnehmen, waren schon der ersten Jury bewusst. Ihr Vorsitzender Markus Deggerich schrieb in der Preisbroschüre 2001: „Die ersten Gewinner des Online Award werden irgendwann Geschichte sein. So oder so. Dem Preis wünscht die Jury ein erfülltes Leben, das Mediengeschichte schreibt und den Netzmachern Mut gibt, sich an das Motto von Samuel Beckett zu erinnern: ‚Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better‘“.
Von Beginn an: Ein Award als Mutmacher und Perlenfischer
Apropos Mut machen: Neben der Feinjustage in Sachen Zuschnitt des Preises, Kategorien und Statut galt es vor allem, ein Selbstverständnis und so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz, das auch anderen Preisen ihren Charakter gibt, zu entwickeln. Das Wesen des Grimme Online Award zeichnet sich dadurch aus, dass stets auch Solitäre und „kleine“ Angebote als Perlen gefischt und prämiert und somit gefördert werden. Große Redaktionsteams aus Medienhäusern, die projektweise bisweilen sogar externe Agenturen dazu holen, um ein Web-Projekt zu realisieren, haben es leichter als Einzelkämpfer, die mit Akribie, Fleiß und Leidenschaft ein Thema webgerecht aufbereiten.
Mit dem Blick über die Schulter auf nunmehr 20 Jahre Preishistorie fällt zudem auf, dass stets versucht wurde, schon früh schnöde Trends als tatsächliche Entwicklungslinien sichtbar zu machen und entsprechend durch die Statements der Nominierungskommission und Jury einzuordnen. Bevor YouTube 2005 an den Start ging, wurde beispielsweise bereits zu Beginn im Jahre 2001 Bitfilm prämiert (das Angebot ist im doppelten Sinn längst Geschichte): „Die Plattform steht prinzipiell allen kreativ tätigen ‚Produzenten‘ zur Verfügung, die hier eigene Angebote ins Netz stellen können. Die Grimme-Jury zeichnet die Site nicht zuletzt deshalb aus, weil sie neue Wege beschreitet, aus Konsumenten ‚Produzenten‘ zu machen. Bitfilm ermöglicht bereits heute eine ‚Vision‘ dessen, was das Internet in Zukunft kann und sein wird.“
Formatvielfalt und Trendscouting liegen in der DNA des Grimme Online Award
Videos, Blogs, Multimedia-Specials, Apps, Virtual Reality, Podcasts, Streaming, Instagram-Stories, TikTok: Stets werden die Trends nicht nur kommentiert, sondern, sofern bereits durch gute Angebote publizistisch gut vertreten, auch prämiert. Das wird zum Beispiel an der Auseinandersetzung öffentlich-rechtlicher Angebote mit der Entwicklung des Internets und der Prämierung der resultierenden Ergebnisse deutlich: Bereits 2001 nominiert, erhielt tagesschau.de ein Jahr später den Preis und 2012 als Tageschau App einen weiteren Award. Die TikTok-Präsenz des altehrwürdigen Nachrichtenangebots wurde noch nicht ausgezeichnet – aber für den Vorstoß schon einmal lobend im Statement der 2020er Nominierungskommission gewürdigt („Sorry Jan Hofer, wir haben trotzdem gelacht!“).
Die Ahnengalerie von Nominierungen & Preisträgern als Timeline der Netzgeschichte
Zu der „Hall of Fame“ deutschsprachiger Online-Angebote aus Perspektive des Grimme Online Award gehören ganz sicher diese Nominierungen und Preisträger (die Reihenfolge nimmt keine Wertung vor): Die Website lindenstrasse.de, perlentaucher.de, ehrensenf.de, spreeblick.com und schmidt.de, der Twitter-Account „Straßengezwitscher“ sowie das Instagram-Angebot „Mädelsabende“. In diesem Zusammenhang erscheint es rückblickend verwunderlich, dass SPIEGEL Online 2005 nachnominiert werden musste, um einen Award in der Kategorie Information zu erhalten – denn spätestens seit dem 11. September 2001 war die publizistische und gesellschaftliche Relevanz des Internets jedem bewusst geworden. Nicht von ungefähr erhielt denn auch Wikipedia bereits 2005 einen Grimme Online Award. Und es war 2013, noch vor #metoo, als der Hashtag #aufschrei einen Preis bekam – weil die Jury die Bedeutung der Kulturtechnik „Hashtag“ für einen öffentlichen Diskurs im Netz hervorheben wollte.
Relevanter denn je: Der Blick des Grimme Online Award auf preiswürdige Angebote
Die politische, die ökonomische und vor allem auch die gesellschaftliche Relevanz des Internets wird uns gerade in diesen Wochen und Monaten der Coronakrise vor Augen geführt: Gestreamte Angebote sorgen für Entspannung in Zeiten größter Anspannung, der Wettstreit zwischen verlässlichen Quellen und Fake News beeinflusst die Meinungsbildung, Experten-Podcasts sorgen für Orientierung und Online-Meetings sowie WhatsApp treten in Zeiten von Social Distancing an die Stelle eines „echten“ Miteinanders. Ganz sicher wird der Grimme Online Award das auch in Zukunft reflektieren und dort, wo es passt, auch prämieren.
Man kann diesen kleinen Rückblick und die gegenwärtige Situation auch mit dem Mark Zuckerberg, zumindest im Film „The Social Network,“ ins Mund gelegte Zitat zusammenfassen: „Einst lebten wir auf dem Land, dann in den Städten und von jetzt an im Netz.“
Zum Autor
Kai Heddergott, Jahrgang 1969, ist freiberuflicher Kommunikationsberater in Münster mit dem Schwerpunkt Digitalisierungsbegleitung von Institutionen und Unternehmen. Er hat dem Team des Grimme-Institut 1997 die Welt von Mail und Web nähergebracht, saß in der Kommission, die den Preis und seine Kategorien definierte und war seit 2002 wiederholt wechselnd Mitglied von Nominierungskommission und Jury des Grimme Online Award.
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