Mythos, gefühlte Wahrheit und Realität
Das datenjournalistische Projekt „Warum die Treuhand das Land spaltet“ von MDR und Hoferichter & Jacobs GmbH analysiert, wie die Treuhandanstalt die volkseigenen Betriebe der DDR privatisierte und was aus diesen Betrieben wurde. Nüchtern und objektiv will das Angebot Daten und Zahlen vorlegen. Den Kern bildet aber die interaktive Karte mit 5.000 Treuhandunternehmen, die anzeigt, woher die Käufer*innen der Betriebe kamen, wer sie liquidiert hat und was das mit der Stimmung macht. Hierfür wurden Unternehmenslisten der Treuhandanstalt digitalisiert und mit Handelsregisterdaten abgeglichen.
„Warum die Treuhand das Land spaltet“ ist für den Grimme Online Award 2020 in der Kategorie „Wissen und Bildung“ nominiert. Im Interview verrät Olaf Jacobs von Hoferichter & Jacobs GmbH, welche Widerstände es zunächst gab und warum das Projekt so nüchtern erscheint:
Was war der Anstoß für dieses Projekt?
Wir hatten das Gefühl, dass es zumindest in den neuen Ländern wenig Themen gibt, über die so viel geredet wird wie über die Treuhand, weil sie letztlich alle Familien, die ostdeutsch sozialisiert sind, irgendwie bewegt hat. In jeder Familie gibt es Geschichten, die irgendwas mit der Treuhand und mit Menschen, die in diesem Zusammenhang ihren Job verloren haben, zu tun haben. Das Erstaunliche für uns war, dass diese Treuhand eigentlich immer mit einem ganz negativen Image verbunden wird. Wir dachten, da müsste man mal gucken, wie weit man das objektivieren kann, wie viele objektive Daten und Fakten kriegt man eigentlich zu diesem großen Mythos Treuhand zusammen. Denn Wissen ist meistens der erste Schritt, um Sachen auch zu verstehen.
Wer war an dem Projekt beteiligt? Mussten sich die Beteiligten die historischen Tatsachen erarbeiten oder waren sie ihnen präsent?
Das Projekt ist so ein Projekt, das – wie das gelegentlich so ist – am Anfang einfach klang und dann im Laufe der Zeit doch immer größer und komplizierter geworden ist. Zunächst sind wir ganz stark auf Widerstände gestoßen. Da war nicht sicher, ob wir überhaupt Akteneinsicht bekommen könnten, weil die unter Verschluss sind. Auf den Dokumenten sind teilweise 30 Jahre Sperrfrist drauf. Doch es gab auch andere Widerstände. Wir haben schließlich mehrere Jahre gebraucht, um den ersten Zugriff auf Akten zu bekommen. Insofern hat das Projekt letztlich vor mehr als drei Jahren in einem sehr kleinen Team den Anfang genommen. Dann haben wir tatsächlich Akten in die Hand bekommen. Um da eine Dimension zu geben: Wir haben 230.000 Seiten Vorstandsprotokolle, 35.000 Seiten Verwaltungsratssitzung, 113.000 Seiten Leitungsausschuss, 9.000 Seiten Monatsberichte und so weiter gescannt. Das heißt, wir hatten am Ende 400.000 Dokumente, die wir zunächst mal digitalisiert haben. Im Anschluss haben wir dafür dann ein Tool geschrieben, um diese gescannten Dokumente maschinenlesbar und -auswertbar zu machen, um daraus wirklich systematisch Erkenntnisse ziehen zu können.
Wir haben in diesem Projekt außerdem etwas gemacht, was für alle Beteiligten – alle Beteiligten, das heißt natürlich Michael Schönherr und Martin Kopplin, zwei Datenjournalisten, die hier bei uns arbeiten, die zusammen mit Gundula Fasold die Recherchen gemacht haben und die Redaktion des Mitteldeutschen Rundfunks, wo einerseits Achim Schöbel, der für Wirtschaft, Ratgeber und Verbraucherthemen zuständig ist und zum anderen Silke Heinz, die dort in der Doku-Redaktion ist – durchaus besonders war. Wir haben zunächst einmal weit geschaut und überlegt, was sind eigentlich die Inhalte und auch die Neuigkeiten, die wir erhalten können. Wir haben erst relativ spät entschieden, was davon eigentlich über welches Medium geht.
Einerseits ist ein Film entstanden, der wenig mit diesen Fakten zu tun hat, „Der Große Preis“, der 90 Minuten Fernsehen ist. Zum anderen dachten wir, dass so viel Systematik eigentlich nur zu durchschauen ist, wenn man Daten detailliert anguckt. Daher haben wir entschieden, dass online ein eigenes Produkt entstehen soll. Die Webumsetzung hat webkid übernommen. Im letzten Arbeitsschritt sind schließlich wieder die Datenkolleginnen und -kollegen aktiv geworden, weil wir gesagt haben, Geschichte ist eigentlich dann interessant, wenn sie auch wirklich eine hohe gegenwärtige Relevanz hat. „Gegenwärtige Relevanz“ heißt in diesem Falle, dass man im letzten Teil unseres Angebots einfach schauen kann, was eigentlich aus diesen Betrieben geworden ist, die diese Treuhand damals hatte. Es war uns möglich, bei immerhin 5.700 Betrieben von den 7.000 Betrieben bis ins Heute anhand von Handelsregisterdaten, die wir digital akquiriert haben, die Wege nachvollziehen zu können. So lässt sich gut gegenüberstellen, was wirklich Mythos, gefühlte Wahrheit und was auch Realität ist.
Gab es auch die Idee, persönliche Geschichten einzubinden?
Wir haben mit dem Projekt insgesamt in der ausgesprochen privilegierten Situation gearbeitet, mit einem sehr starken Partner, dem MDR, beziehungsweise für einen Teil mit der ARD, von Beginn an zusammenarbeiten zu können. Insofern war für uns eigentlich relativ rasch klar, dass wir diese starken persönlichen Geschichten, die das Thema natürlich hat und auch unbedingt braucht, eigentlich eher den linearen Medien überlassen, das heißt dem Fernsehen und dem Radio. In dem Onlineangebot fokussieren wir uns dafür tatsächlich stärker auf die Faktenlage, die dann wiederum – so hoffen wir – zumindest bei den Rezipient*innen zu einer persönliche Geschichte wird, indem wirklich jeder Einzelne auf den Betrieb klicken kann, in dem man mal gearbeitet hat oder in dem möglicherweise Eltern oder Großeltern mal gearbeitet haben.
Welchen Effekt erhoffen Sie sich?
Ein ganz wesentliches Anliegen dieses Projekts insgesamt war es, dass man einen Debattenbeitrag leisten wollte. Dadurch, dass es ein Thema ist, was in den neuen Ländern so allgegenwärtig ist, schien es uns wirklich wichtig, dass man da auch zur Diskussion, zur Auseinandersetzung anregt. Man wird das Thema nicht allumfassend erzählen und beantworten können. Wir geben hier einfach das Faktenwissen, sodass Menschen tatsächlich in der Lage sind, sich eine eigene Meinung und eigene Haltung zu bilden. Das ist die Aufgabe dieses Onlineangebots.
Wir wollen Haltung ermöglichen, wir wollen sie aber nicht vorgeben. Daher scheint uns gerade bei diesen Zusammenhängen und in diesem Grenzbereich zwischen Wirtschaft, Politik und Geschichte die Arbeit mit Daten und Zahlen die richtige Herangehensweise, da sie eine möglichst weitgehende Objektivierung zulässt. Ich glaube, dass es insgesamt ein Zeichen der Zeit ist, nicht eigene Haltungen, eigene Meinungen zu transportieren, sondern tatsächlich Rezipient*innen, die Mittel und Möglichkeiten in die Hand zu geben, sodass man sich – natürlich stark abhängig von eigenen Lebenserfahrungen – eine eigene Meinung und eine Haltung erarbeiten kann.
Ich glaube, dass dieser Grundgedanke Menschen in die Situation zu bringen, dass sie qualifiziert diskutieren können und sich einmischen können, ganz gut funktioniert. Wir haben schon ein paar Rückmeldungen mit Hinweisen bekommen, die zeigen, dass es offensichtlich dazu führt, dass Menschen über Generationen hinweg miteinander diskutieren. Wir freuen uns, dass das Angebot ein Auslöser für Debatten ist. Obwohl es zunächst ein relativ nüchternes Angebot ist.
Warum ist das Thema der Treuhand in den Köpfen vieler ‚Westler‘ gar nicht so präsent? Warum ist das ein Problem?
Man sollte als Gesellschaft eine gemeinsame Basis haben, eine gemeinsame Kultur des Diskutierens und des Verstehens. Und auch wenn man sagt, okay, das ist ein Thema, was zunächst einmal eher die neuen Bundesländer betrifft, gibt es trotzdem immer wieder diese Momente, in denen man überrascht, manchmal sogar erstaunt nach Thüringen schaut, wenn dort beispielsweise Wahlergebnisse zu Konstellationen führen, bei denen man erstaunt ist, wie da überhaupt Regierungsbildungen gehen kann. Ich glaube, wenn man das Bedürfnis hat, wirklich zu verstehen, dann tut es dem gesellschaftlichen Diskurs extrem gut, viel voneinander zu wissen.
Wir haben natürlich zunächst einmal den intendierten Einzugsbereich, der ganz klar natürlich die Menschen fasst, die es unmittelbar trifft oder betroffen hat. Doch hoffentlich leistet das Angebot auch darüber hinaus zumindest einen Beitrag zum gegenseitigen Verstehen, das heißt zu verstehen, wie die Verhältnisse so geworden sind, wie sie heute sind. Aus der westdeutschen Perspektive verbindet man mit dem Osten oftmals Gedanken wie, dass der Osten unfassbar viel gekostet hat oder immer noch kostet und dann wählen sie auch noch komische Sachen. Doch so einfach ist es dann am Ende eben nicht.
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