Sie gehörten nicht dazu
„Eigensinn im Bruderland“ will die Geschichten der Vertragsarbeiter*innen, der ausländischen Studierenden und der politischen Emigrant*innen in der DDR, die aus Vietnam, Mosambik, Angola oder Kuba mit der Hoffnung auf eine gute Zukunft kamen, erzählen. Mit Bildern, Videos und Illustrationen werden Einblicke in das Leben dieser Menschen in der DDR gegeben. Dabei erzählen die Protagonist*innen von Rassismus am Arbeitsplatz, beim Arzt und im Sportverein, von enttäuschter Hoffnung und strengen Regeln.
Das Angebot „Eigensinn im Bruderland“ ist für den Grimme Online Award 2020 in der Kategorie „Wissen und Bildung“ nominiert. Im Interview erzählen die Macherinnen Julia Oelkers und Isabel Enzenbach, warum das Thema so wenig im Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft vorhanden ist, es aber unbedingt sein muss und weshalb das Internet dabei nicht nur Möglichkeit, sondern auch Hemmschwelle ist.
Wie entstand die Idee dieses Projekt durchzuführen?
Julia Oelkers: Die Idee entstand einerseits aus einer persönlichen Beziehung zu der Thematik. Wir beide kennen Migrant*innen aus der DDR und deren Geschichten. Wir fanden die Erzählungen spannend und interessant und hatten beide Lust zu dem Thema ein bisschen weiter zu forschen. Das Ganze war von Beginn an mit dem Gedanken verbunden, Wissenschaft und Journalismus zusammenzubringen. Das heißt, wir wollten einen wissenschaftlichen Hintergrund, aber die Auswertung in einer Webdoku eingebunden haben.
Isabel Enzenbach: Bei mir waren es die Geschichten einer Freundin, die aus der Mongolei kommt und eine Lehre in der DDR gemacht hat. Ich fand das immer sehr interessant und ich wusste wenig drüber. Insgesamt ist über die Einwanderungsgeschichte in der DDR sehr wenig bekannt. Aber besonders im Moment scheint es mir in der Bundesrepublik relevant zu sein zu wissen, dass die DDR eine Einwanderungsgeschichte hat und wie sie aussieht und wie vielfältig sie ist.
Wer ist an „Eigensinn im Bruderland“ beteiligt?
Julia Oelkers: Ganz wichtig ist natürlich Mai-Phuong Kollath, die von Anfang an das Konzept mitentwickelt hat und auf Grund ihrer eigenen Geschichte eine unglaubliche Fachexpertise und gute Beziehungen in die Community hat. Sie spricht schon lange öffentlich über ihre Geschichte, was aber nicht selbstverständlich ist für die Leute. Über sie haben wir Zugang zu der vietnamesischen Community bekommen. Auch die Kontakte über meinen Mann in die mosambikanische Community waren natürlich wichtig. Darüber hinaus ist die Gestaltung mit Susanne Beer und dem Zoff Kollektiv ein ganz wesentlicher Teil des Projekts. Susanne Beer hat uns und das Projekt auch inhaltlich immer begleitet und mitgearbeitet.
Isabel Enzenbach: Im Hintergrund des Projekts stehen noch die Institutionen. Auf der einen Seite haben wir das Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin und als Förderung die Bundesstiftung „Aufarbeitung“ und die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Als wichtiger, wenig sichtbarer Partner, sind noch die Archivar*innen zu nennen. Wir haben viel mit Akten aus dem Bundesarchiv und auch aus dem Stasi-Unterlagen-Archiv gearbeitet und wurden dort auch stark von den Archivar*innen unterstützt.
Wie lange haben sie für das Projekt recherchiert?
Isabel Enzenbach: Das ist gar nicht so leicht zu beziffern, weil es gerade durch Julias langjährige Beschäftigung mit dem Thema vieles gab, auf das wir zurückgreifen konnten. Wir haben zunächst mit einem Projektzeitraum von knapp einem Jahr geplant. Den haben wir aber verlängert und die Recherchen haben eigentlich bis zum Schluss angedauert. Desto mehr Gespräche mit Migrant*innen in der DDR wir geführt haben, desto mehr Fragen gab es. Wir sind immer wieder ins Archiv gegangen und haben recherchiert. Dann hat die Illustratorin Tine Fetz – die wir gebeten haben, Geschichten zu zeichnen, die man nicht erzählen kann, die aber trotzdem wichtig sind – Ideen gehabt. Da mussten wir auch ein bisschen nachrecherchieren. Ich denke, insgesamt hat es anderthalb Jahre gebraucht.
Julia Oelkers: Es ist auch nicht so, dass wir die Protagonist*innen gefragt haben, ob sie sich interviewen lassen und sie gleich ja gesagt haben. Meine Erfahrung aus den letzten Jahren journalistischer Arbeit ist, dass in den letzten Jahren dieser Mut, öffentlich seine Geschichte zu erzählen, gerade was die DDR-Geschichte angeht, unter den Migrant*innen ein bisschen gewachsen ist. Aber das ist ein Prozess. Das Internet ist für Leute auch immer noch mal was anderes als das Fernsehen. Fernsehen ist einmal gesendet. Das Internet ist in der ganzen Welt, auch in den Herkunftsländern zu sehen und alles darin ist irgendwie beständig zu finden. Das ist eine große Hemmschwelle.
Isabel Enzenbach: Was die Sache am Anfang noch schwieriger gemacht hat, war, dass wir uns zu Beginn den Arbeitstitel „Aufbegehren im Bruderland“ gegeben hatten. Wir dachten, unser Zugriff wäre, dass wir die Leute fragen, wo sie denn so gegen das strenge DDR-Regime aufbegehrt haben. Die haben aber häufig anders als erwartet reagiert und gesagt, das stimmt so nicht, wir haben uns nicht gewehrt. Wir haben unseren Job gemacht. Es war zunächst einmal eine Hürde, sowas zu erzählen. Für uns war es dann ein wichtiger Schritt diesen Titel neu zu formulieren und auf ein anderes theoretisches Konzept zurückzugreifen. Wir entschieden uns dann für das Eigensinn-Konzept und nicht so sehr nach etwas Widerständigem zu fragen, sondern die Leute über Fragestellungen, die sich auf den Alltag fokussieren, zu fragen: Wo habt ihr eure Bedürfnisse gesehen und versucht, sie zu verwirklichen? Was war euch wichtig? Welche Motivationen hattet ihr? Das hat besser funktioniert.
Was haben sie aus der Recherche besonders in Erinnerung behalten?
Julia Oelkers: Ich hatte nicht damit gerechnet in den Archiven, wo wir die Menschen gar nicht persönlich kannten und auch nicht gefunden haben, Geschichten zu finden, die einen so sehr berühren. Dann hat man oft hinter dieser seltsamen Aktensprache versachlicht entdeckt, dass da eine drastische Geschichte dahintersteht. Aber auch das Interview mit Nguyen Do Thinh war für mich sehr einprägsam. Das war für mich ein Interview, das mich sehr lange beschäftigt hat.
Isabel Enzenbach: Für mich ist es auch einerseits das Erlebnis, dass es in den Akten wirklich erschütternde Geschichten gibt. Geschichten von Frauen, die schwanger waren, was in aller Regel Abschiebung bedeutet hat und die diese Abschiebung partout nicht wollten. Geschichten von Frauen, die sich dann dagegen gewehrt haben, die sich selbst verletzt haben, die am Flughafen versucht haben zu entkommen, aber trotzdem eiskalt abgeschoben wurden. Es war auch erschütternd ein Dokument zu sehen, auf dem eine Frauenärztin die Schwangerschaft bestätigt und gleichzeitig die Rückführung beantragt hat.
Man kann kaum glauben, dass Leute, die psychisch krank waren, die aus Bürgerkriegsgebieten kamen und in der DDR überhaupt nicht klar kamen, abgeschoben wurden mit den Worten, dass in der DDR keine Möglichkeit zur Behandlung bestünde, aber beispielsweise in Mosambik oder Angola schon. Bei den Gesprächen fand ich sehr berührend, dass Frauen sehr offen, kraftvoll und anschaulich über ihre Schwangerschaft oder über entwürdigende Situationen beim Frauenarzt gesprochen haben. Was mir auch sehr stark in Erinnerung geblieben ist, ist, dass in den 70ern und frühen 80ern Schwarze Arbeiter*innen in der DDR Rassismus so stark thematisiert haben und ganz klar ausgesprochen haben: Hey, wir sollen auf dem Lastwagen transportiert werden und für uns gibt es keinen Bus? Das ist Rassismus! Das ist koloniale Tradition!
Wen soll „Eigensinn im Bruderland“ ansprechen?
Isabel Enzenbach: Das Projekt richtet sich an ein breites Zielpublikum. Es war unser Ehrgeiz, dass wir zum einen etwas machen wollten für Leute, die davon keine Ahnung haben. In der Regel stellt man sich da Schüler*innen vor, die die DDR auf dem Stundenplan haben und so eine Möglichkeit bekommen sollen, neue Geschichten und eben auch die Geschichte der Migration in die DDR kennenzulernen. Wir wollten aber auch ein wissenschaftliches Niveau halten und neue Forschungsergebnisse für andere Forscher*innen präsentieren. Wir wollten aber auch die Community selbst adressieren. Da haben wir viele positive Rückmeldungen bekommen. Unsere Idee war, Videointerviews mit Migrant*innen und Aktenrecherche zusammenzubringen, das Internet als Medium zu nutzen und das Ganze multimedial zu machen. Wir haben mit Animationen und Illustrationen gearbeitet und Akten dokumentiert. Aber das Wichtigste sind die Videos mit den Protagonistinnen. Das alles war anstrengend, aber ich glaube, die Mühe hat sich gelohnt.
Julia Oelkers: Das Schönste ist wirklich, dass wir viel Feedback von der nächsten Generation bekommen, die dadurch, dass man ein bisschen in der Doku stöbern kann, irgendwie anders auf die Geschichte ihrer Eltern guckt.
Warum findet das Thema der Migration in der DDR so wenig Beachtung in deutschen Medien?
Julia Oelkers: Weil die Mehrheitsgesellschaft das lange übersehen hat. Weil das einfach für die meisten kein Thema war. Weil es vielleicht auch für viele der Migrant*innen schwer war, es zu thematisieren. Wenn man aus dem Osten ist und dazu noch Migrant oder Migrantin, dann möchte man da vielleicht nicht dauernd drüber reden. Weil das Thema Rassismus immer auch schmerzhaft ist. Es ist schmerzhaft, diese Erlebnisse noch einmal zu erzählen. Das macht niemand gerne. Und vielleicht liegt es auch daran, dass einfach nie jemand gefragt hat.
Isabel Enzenbach: Es gibt von einer unserer Protagonist*innen, eine Studentin aus Vietnam, die in der DDR studiert hat, das Zitat: „Wir gehörten einfach nicht zur Gesellschaft.“ Ich glaube, das ist bis heute so. Man will nicht wahrhaben, dass es in der deutschen und eben auch in der DDR-Gesellschaft einen nennenswerten Anteil an Migrant*innen gibt, die dazugehören.
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