Archivmaterial eine neue Bühne geben

Screenshot des Instagramkanals "wende_rewind"
Screenshot „wende_rewind“

Vom 7. Oktober 2019 bis 18. März 2020, genau 30 Jahre nach der Zeitspanne vom Republikgeburtstag 1989 bis zu den ersten freien Volkskammerwahlen 1990, erinnerte der Instagram-Kanal „wende_rewind“ vom rbb an die Geschichte der friedlichen Revolution. Mit viel Archivmaterial und O-Tönen erzählen die Stories die Ereignisse auf den Tag genau, der Feed liefert Fakten, Zitate, Videos und Fotos und oft eine starke Vertiefung.

“wende_rewind” ist für den Grimme Online Award 2020 in der Kategorie “Wissen und Bildung” nominiert. Im Interview haben wir mit Anna-Mareike Krause und Isabel Hummel, die Idee und Konzept entwickelt haben, über plattformgerechte und zielgruppenorientierte Archivaufbereitung gesprochen.

Wie kam es zu der Idee von ‚wende_rewind‘?

Anna-Mareike Krause: Im März vergangenen Jahres hat mich Christoph Singelnstein, der Chefredakteur des rbb, angerufen, der sich schon lange mit diesem Thema beschäftigt und selbst auch Bürgerrechtler in der DDR war. Er gab die Anregung ein anderes und sehr viel älteres Projekt des rbb, „Die Chronik der Wende“ von 1994, für eine Zielgruppe, die selbst keine Erinnerungen an die Wende hat, aufzuarbeiten. Wir haben uns das Material und auch diesen Takt, dieses Tag-für-Tag-Erzählen, um damit eine Chronik zu erstellen und den Aufbau dieser historischen Entwicklung zu erzählen, angeguckt. Isabell und ich kamen dann sehr schnell darauf, dass sich das sehr gut eignet, um es noch mal für diese Zielgruppe aufzubereiten und zwar auf der Plattform Instagram.

https://www.instagram.com/p/B4NE6msnyRp/?utm_source=ig_web_copy_link

Das Team ist sehr jung und musste sich die historischen Entwicklungen erarbeiten. Hatten sie Spaß daran?

Anna-Mareike Krause: Das Team war mit Absicht sehr jung besetzt. Weil wir ja genau die Perspektive derjenigen wollten, die wir auch adressieren. Man kann so ein Projekt nur machen, wenn es die Hierarchie schafft, dem Team eine lange Leine zu geben. Das freut mich sehr, dass es geklappt hat, das umzusetzen.

Es ist journalistischer Alltag, sich mit Themen auseinanderzusetzen, die man selbst nicht erlebt hat. Aber es ging genau darum, ohne Zeitzeug*innenschaft durch diese Perspektive darauf zu blicken. Wir hatten aber auch jeweils eine ostdeutsche und eine westdeutsche Kollegin im Team, die uns die ganze Zeit über begleitet haben und die aus der Generation kommen, die eigene Erinnerungen haben.

Isabel Hummel: Wir konnten natürlich alles journalistisch nachrecherchieren, aber manchmal ging es auch einfach darum, ein Gefühl zu transportieren und da war es unglaublich hilfreich, noch mal auf die Kolleginnen zurückgreifen zu können und nachzufragen oder auch einen Tipp zu bekommen, was sonst damals unglaublich wichtig war.

Sonst hat keiner im Team die Wende wirklich aktiv mitbekommen. Wir hatten auch einen sehr gemischten Hintergrund, manche sind im Westen, manche im Osten aufgewachsen, andere haben eine Fluchtgeschichte in der Familie. Wir haben oft im Team diskutiert, dass wir das Wende-Thema zwar alle in der Schule hatten, aber wie wenig eigentlich im Geschichtsunterricht behandelt wurde und wie viele Löcher es in der Geschichtserinnerung gibt. Deswegen war es für uns auch eine Erkundungsreise, die wir quasi mit unseren Nutzer*innen zusammen gemacht haben.

Die Nominierungskommission hat kritisiert, dass nur Instagram als Ausspielmedium gewählt wurde und keine Spiegelung auf der Website des rbb stattgefunden hat. Wie stehen sie dazu?

Screenshot „wende_rewind“

Anna-Mareike Krause: Auf der Plattform Instagram erreicht man eine Zielgruppe, die wir, da muss man ehrlich sein, mit unserer Website nicht erreichen und zwar gerade diejenigen, die wir erreichen wollten, nämlich die 25- bis 34-Jährigen, die die Wende nicht bewusst mitbekommen haben. Ich verstehe den Bildungsauftrag, den wir als Öffentlich-Rechtliche haben so, dass man eine Altersgruppe auch da adressieren muss, wo sie sich bewegt. Um unsere Nutzer*innen auf den eigenen Seiten nicht zu kurz kommen zu lassen, haben wir in diesem Jahr auch noch mal die Dokumentation „Chronik der Wende“, die inhaltlich viel umfassender ist, komplett in die Mediathek und auf YouTube hochgeladen. Man kann sich also auch 164 Tage jeweils eine 15-minütige Dokumentation anschauen. Es ist wichtig, dass wir die eigenen, die öffentlich-rechtlichen Auftritte nicht vernachlässigen, aber wir haben ja auf der eigenen Seite ein Angebot gemacht, es war nur nicht identisch im Format. Das halte ich als Digitalstrategin auch für richtig. Instagramstories auf einer Website einfach nur zu spiegeln ist noch kein plattformgerechtes Angebot.

Wie sehen die Reaktionen aus? Haben sie das Gefühl, sie haben ihre Zielgruppe erreicht?

Isabel Hummel: Ja, unsere größte Nutzergruppe sind tatsächlich die 25- bis 34-Jährigen. Wir haben unglaublich tolle private Zuschriften von Leuten bekommen, die entweder kurz nach der Wende oder gerade noch in der DDR geboren sind und sich bedanken, dass sie das hier noch mal miterleben durften und wie viel ihnen vorher nicht bewusst war. So viele Zuschriften und Begeisterung habe ich noch bei keinem anderen Projekt erlebt, da waren wir wirklich extrem geflasht.

Können sie sich vorstellen, zu einem anderen Anlass noch mal diese Art von historischem Storytelling auf Instagram umzusetzen?

Anna-Mareike Krause: Das Besondere an der Geschichte des gesellschaftlichen und politischen Wandels in der DDR ist auch, dass obwohl wir alle ungefähr wissen, was passiert ist, es aber trotzdem so unglaublich viele Details und Geschehnisse gibt, die nicht im Bewusstsein der Menschen sind. Das Erinnern an die Wende ist unheimlich stark geprägt von diesen beiden Daten: 9. November und 3. Oktober. Das ist aber nur ein Teil der Geschichte. Der Mut und das Risiko, dass die Menschen im Osten eingegangen sind, das ist gerade in Westdeutschland vielen Menschen nicht klar. Zwischen den Demonstrationen für Reisefreiheit und geheime Wahlen bis hin zur Forderung nach der deutschen Einheit liegt ein sehr vielschichtiger Prozess, den man über eine lange Zeit erzählen kann, ohne dass es langweilig wird. Gleichzeitig hat man die Möglichkeit und Chance, das wichtigste historische Ereignis im Nachkriegsdeutschland zu erzählen, das so viele Menschen noch überraschen kann. Ich bin mir nicht sicher, wie viele Themen sich noch für dieses chronologische Storytelling eignen. Ganz sicher werden wir uns aber weiter Gedanken machen, wie man Themen auf besondere Weise darstellen kann.

https://www.instagram.com/p/B_UvnrRK_ef/

Sehen sie in dieser Art von Format die Zukunft in der Verwertung von Archivmaterial?

Isabel Hummel: Ich würde sagen, es ist eine Art. Es entwickelt sich ja alles weiter, keine Ahnung, wo Instagram in zehn Jahren stehen wird. Es ist ein Beispiel dafür, wie es gelingen kann, Geschichte und Archivmaterial modern und plattformgerecht zu erzählen. Ich fänd‘s toll, noch mehr Projekte zu sehen, die sich mit den Schätzen aus den Archiven beschäftigen. Das passt natürlich auch wunderbar zum öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrag. Das muss nicht nur Instagram sein. Klar, es eignet sich, um etwas täglich nachzuerzählen, aber ich glaube, es gibt noch wesentlich mehr Möglichkeiten. Ich würde sagen, wir haben einen guten Aufschlag gemacht und dass man in die Richtung weitergehen kann.

Anna-Mareike Krause: Ich glaube auch, wir sollten uns definitiv nicht auf Instagram festlegen. Es gibt so viele Plattformen und man erreicht überall andere Zielgruppen. Wir haben gezeigt, dass das auf Instagram funktionieren kann, das kann aber auch auf anderen Plattformen gehen, würde dann nur anders aussehen. Die Plattformen entstehen und sterben so schnell und entwickeln sich weiter, dass ich jetzt nicht voraussagen wollen würde, was wir in fünf Jahren auf welchen Plattformen machen. Aber man kann aus dem Projekt lernen, wie wichtig es ist, sich sehr stark daran zu orientieren, an wen man sich richtet und wie die Plattform funktioniert. Was mich aber besonders freut, ist, dass es uns gelungen ist, ausschließlich mit Archivmaterial zu erzählen. Wir haben die authentischen Protagonist*innen auf eine neue Bühne geholt, ohne mit aktuellen Interviews zu ergänzen.

Screenshot des Zoominterview mit Anna-Mareike Krause
Screenshot Zoom: Anna-Mareike Krause im Interview
Screenshot aus dem Zoominterview mit Isabell Hummel
Screenshot Zoom: Isabel Hummel im Interview
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