„Besonders berührend ist es, wenn sich Angehörige der Verfolgten melden, die jemanden auf den Fotos identifizieren (…)“
Ein Interview mit Alina Bothe über die nominierte Website „#LastSeen. Bilder der NS-Deportationen“
Der Bildatlas „#LastSeen. Bilder der NS-Deportationen“ des gleichnamigen Verbundprojektes stellt historische Fotografien der Deportationen von Jüdinnen und Juden, Sinti:zze und Rom:nja sowie kranken und behinderten Menschen aus dem Deutschen Reich von 1938 bis 1945 dar. Über eine zoombare Karte sind 420 Fotos aus 33 Orten mit weiteren Informationen zugänglich. Entstanden ist eine innovative interaktive Ausstellung, für die fortlaufend Bilder im großen Umfang gesammelt, wissenschaftlich erschlossen, kuratiert und digital veröffentlicht werden. Mit Alina Bothe hat das GOA-Blog über die Idee, die größte Herausforderung und die Resonanz gesprochen.
Wie ist die Idee zu Ihrem Angebot entstanden? Gab es einen konkreten Anlass?
Deportationsfotografien sind wirkmächtig. Sie sind zentrale historische Quellen, die das konkrete Transportgeschehen in die Ghettos und Lager zeigen. Ohne Deportationen hätte die Vernichtung kaum im gleichen Maße geschehen können. Sie sind mitten in Deutschland, an öffentlichen Orten aufgenommen. Man erkennt zahlreiche Menschen klar und genau: Verfolgte, Täter:innen und Dritte. Meistens kennen wir ihre Namen nicht, manchmal können wir sie identifizieren, immer würden wir es gern tun. Man sieht die wartenden Menschen mit Gepäck, die Machtdemonstrationen Täter, Zuschauer:innen, die oftmals nicht unbeteiligt bleiben, am helllichten Tag. Während einer Konferenz zur Deportationsgeschichte im Herbst 2020, unter pandemischen Bedingungen via Zoom, entstand die Idee, ein Portal, auf dem sämtliche Deportationsfotos digital für Öffentlichkeit und Forschung zugänglich sind, zu initiieren. Das Konzept stand nach wenigen Wochen, im Herbst 2021 wurde die erste Förderphase genehmigt.
Was war der größte Erfolgsmoment in der Arbeit, was die größte Herausforderung?
In unserem Kontext ist es manchmal schwierig, von Erfolg zu sprechen. Bei der Recherche der Fotografien gab es verschiedene wichtige Momente: Wir haben deutlich mehr Aufnahmen aus mehr Orten gefunden, als wir zunächst angenommen haben. Nicht nur haben wir den bekannten Bestand verdoppelt, wir haben auch bisher kaum oder nicht publizierte Fotos bekannter Serien „gefunden“. Ein wichtiger Erfolg für uns ist, dass das Angebot, der Bildatlas von #LastSeen. Bilder der NS-Deportationen von zahlreichen Menschen mit großem Interesse angenommen wird. In der Forschung beschäftigen wir uns sehr intensiv mit den einzelnen Bildern. Oft haben wir sehr viel mehr Informationen, als wir im Bildatlas abbilden können, diese Auswahl ist eine große Herausforderung. Zugleich gibt es immer Aspekte, die wir nicht wissen, Personen, die wir nicht identifizieren können, dieses Nichtwissen müssen wir aushalten.
Welche Resonanz gab es auf Ihr Angebot und wie sehen Ihre weiteren Pläne aus?
#LastSeen wendet sich an sehr unterschiedliche Zielgruppen, insofern erhalten wir verschiedene Feedback. Besonders berührend ist es, wenn sich Angehörige der Verfolgten melden, die jemanden auf den Fotos identifizieren oder weitere Informationen mit uns teilen. Wir sehen, dass sich viele Nutzer:innen lange im Bildatlas aufhalten und sich intensiv mit den Fotos beschäftigen. Toll für uns ist es, wenn wir Hinweise zu den bisherig veröffentlichten Bildern oder zu noch unbekannten Aufnahmen erhalten. #LastSeen ist work in progress. Bis Mitte 2026 planen wir, sämtliche Bilder aus dem Reichsgebiet (in den Grenzen von 1937) im Bildatlas zu veröffentlichen. Danach möchten wir gern, wenn es uns gelingt, eine entsprechende Förderung zu erhalten, die Plattform ausbauen und Fotos aus ganz Europa aufnehmen, denn Verfolgung und Deportationen haben überall im deutschbesetzten Europa stattgefunden.
Vielen Dank für das Interview!
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