„Die Entdeckung des kreativen Nachlasses von Curt Bloch traf mich wie ein Blitz!“

Ein Interview mit Thilo von Debschitz über die Website „Curt Bloch. Het Onderwater-Cabaret“

Als kreative „Beschäftigungsmaßnahme“ produzierte der in den Niederlanden untergetauchte Curt Bloch zum Ende des Zweiten Weltkrieges 96 Ausgaben seines satirischen Printmagazins „Het Onderwater-Cabaret“ („Das Unterwasser-Kabarett“). 492 Gedichte werden nun – achtzig Jahre später – von seiner Tochter Simone Bloch und Gestalter Thilo von Debschitz sowie mit Hilfe zahlreicher Unterstützer*innen in einem digitalen Archiv online verfügbar gemacht – in Bildern und Beschreibungen, teils auch als vorgetragene Audios sowie mit Hintergrundinformationen und Materialien aus Blochs Nachlass. Die Website ist für den Grimme Online Award nominiert worden.

Screenshot der Website curt-bloch.com

Screenshot der Website curt-bloch.com

Wie ist die Idee zu Ihrem Angebot entstanden? Gab es einen konkreten Anlass?

Simone Bloch, die in New York lebende Tochter von Curt Bloch, nahm im März 2021 per Facebook Kontakt mit mir auf. Ihr fehlte eine Verbindung in die alte Welt, um die im Versteck handgefertigten Widerstandsmagazine mit Gedichten ihres Vaters der europäischen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Sie war in den USA auf die Monografie „Fritz Kahn“ gestoßen, die ich gemeinsam mit meiner Schwester herausgegeben hatte. Das Buch macht Leben und Werk des vergessenen jüdischen Schriftstellers Dr. Fritz Kahn wieder sichtbar. So dachte Simone, dass ich für die Geschichte ihres Vaters empfänglich sei.

Die Entdeckung des kreativen Nachlasses von Curt Bloch traf mich wie ein Blitz! Sowohl die äußere Erscheinungsform der Widerstandsmagazine „Het Onderwater-Cabaret“ als auch die Gedichte selbst berührten mich tief. Simone und mir war nach den ersten Transkriptionen und Übersetzungen schnell klar, dass wir den gesamten Schatz heben und zur Verfügung stellen müssen – digital, mehrsprachig und ohne jegliche Beschränkung.

Was war der größte Erfolgsmoment in der Arbeit, was die größte Herausforderung?

Die Herausforderung für unser Team bestand in der Bewältigung des schieren Umfangs: 96 Hefte mit 492 Gedichten auf rund 1.700 Seiten mussten für eine Online-Präsentation gesichtet und verarbeitet werden. Allein die Entzifferung der Bloch’schen Handschrift und die Transkription dauerten viele Monate. Dann wurden alle Gedichte in zwei Sprachen übersetzt, so dass sämtliche Inhalte auf Deutsch, Niederländisch und Englisch verfügbar waren. Dafür bildeten wir eine in aller Welt verstreute Armee von Freiwilligen, die mindestens zwei Sprachen auf nativem Niveau beherrschten – u.a. aus Jerusalem, New York, Amsterdam, London, Wien und Berlin. Die Scans sämtlicher Originalseiten waren freizustellen und für das Web aufzubereiten.

Hinzu kamen noch eine ausführliche Recherche zum historischen Kontext mit wissenschaftlich fundierten, aber gut verständlichen Informationen sowie inhaltliche Einführungen zu jedem einzelnen Magazin. Geschichtliche Ereignisse wurden zum Zeitstrahl hinzugefügt, im heutigen Sprachgebrauch unbekannte Wörter über individuelle Tooltips erläutert.

Anspruchsvoll war auch die Entwicklung der Website, denn trotz des gewaltigen digitalen Archivs sollte sie intuitiv bedienbar sein, responsiv funktionieren und in der Anwendung Freude machen. Die Einpflege aller Bilder und Texte war zeitraubend und erforderte viel Konzentration. Dies alles vor dem Hintergrund, dass wir keine öffentlichen Gelder für diese Initiative in Anspruch nehmen wollten – Spendengelder nach über vierzig Vorträgen vor Rotary Clubs und Einzelspenden deckten einen kleinen Teil des Aufwands, das Gros jedoch basiert auf vielen hundert Stunden ehrenamtlichen Engagements.

Zu den unvergesslichen Momenten zählte der Tag, an dem Ruth Bloch – die 99-jährige Witwe von Curt Bloch (heute, am 12. September, hat sie Geburtstag) – in New York zum ersten Mal die Website mit Gedichten ihres Mannes studierte. Fast acht Jahrzehnte lagerten die Hefte in einer Kiste in ihrem Haus an der Upper West Side. Besondere Erlebnisse waren aber auch die Begegnungen mit ehemaligen Untergetauchten, die für die Mediathek der Website Verse eingelesen und das Online-Angebot durch ihre Stimmen emotional zusätzlich aufgeladen haben. Die Treffen mit Schauspielerinnen und Schauspielern, die bisher an der Rezitation der Reime mitwirkten, haben uns ebenfalls sehr bereichert.

Welche Resonanz gab es auf Ihr Angebot und wie sehen Ihre weiteren Pläne aus?

Schon im Jahr 2023 berichtete die New York Times über das Werk von Curt Bloch und erwähnte unsere Website. Das Magazin der Süddeutschen Zeitung stellte im Dezember 2023 ganze 14 Seiten für die Entdeckung des Bloch’schen Nachlasses sowie für ein Interview mit Ruth und Simone Bloch zur Verfügung.

Es folgten Berichterstattungen in nationalen und internationalen Leitmedien. Die Resonanz der Medien fiel durchweg begeistert aus, weil man ein solch einmaliges Zeugnis aus der NS-Zeit zu dieser Zeit nicht mehr erwartet hatte. Die Reaktivierung eines Kontaktes zwischen der Familie Bloch und dem Jüdischen Museum Berlin führte dazu, dass im Museum vom 8. Februar bis zum 23. Juni 2024 eine Ausstellung zu Curt Bloch zu sehen war und die kleinen Magazine nun im Berliner Archiv für Forschungszwecke zugänglich sind.

Unsere Website erhielt bereits drei nationale und internationale Preise, darüber hinaus wurden wir für den Grimme Online Award nominiert. ;-) Für unser auf persönlicher Ebene organisiertes Projekt ist das ein Erfolg, mit dem wir nie gerechnet hätten.

Nach dem Onlinegang haben wir begonnen, die 492 Gedichte von den unterschiedlichsten Persönlichkeiten einlesen zu lassen. So wächst die Mediathek sukzessive an – diese Arbeit wird uns noch die nächsten Monate und Jahre beschäftigen. Zu den vielen Leserinnen und Lesern, die bereits Audio-Dateien geliefert oder eine Mitwirkung zugesagt haben, zählen Barbara Auer, Armin Rohde, Jan Böhmermann, Max Raabe, Bjarne Mädel, Volker Schlöndorff, Béla Réthy, Georg Stefan Troller, Louis und Carry Polak, Irene Butter und Ralph Jacob.

Außerdem haben wir Kontakte zu politischen Bildungsträgern und Schulen geknüpft, es fanden bereits Curt-Bloch-Abende in Schulen und Bildungsvereinen statt. Diesen Weg wollen wir weiterverfolgen – die Reimform der Texte von Curt Bloch bietet für junge Menschen eine niedrigschwellige Möglichkeit, sich mit der NS-Zeit zu beschäftigen und emotional in die Welt des Onderwater-Cabarets einzutauchen. Die bisherigen Reaktionen ermutigen uns, das Engagement fortzusetzen.

Vielen Dank für das Interview!

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