Das Design und die Hässlichkeit des Alltags

„Sehen Sie Ihre Arbeit als Aufbegehren gegen die Hässlichkeit um Sie herum?“, wurde 2018 der mittlerweile 86-jährige Designer Peter Schmidt gefragt. Der Schöpfer vieler bekannter und preisgekrönter Gebrauchsgegenstände (Parfüm-Flakons, Porzellan, Bocksbeutel) antwortete nicht mit Ja oder Nein, sondern beklagte die Hässlichkeit der alltäglichen Dinge (siehe den Artikel im Standard). Das Alltagsdesign steht auch im Vordergrund des Blogs „Design Tagebuch“ (kurz „dt“), für das der Diplom-Designer Achim Schaffrinna 2009 den Grimme Online Award erhielt. Das GOA-Blog stellt die bis heute bestehende Website vor und hat ein Interview mit dem Designer geführt.

Screenshot der Website

Screenshot der Website „Design Tagebuch“ aus dem Jahr 2009

Das „Design Tagebuch“

URL: www.designtagebuch.de

„Insbesondere dort, wo Kommunikationsdesign aus dem Dunstkreis der Kreativbranche heraustritt und zu ganz konkreten im Alltag erlebbaren Anwendungen wird, entsteht ein Spannungsfeld, das es lohnt, näher beleuchtet zu werden“, erklärt Achim Schaffrinna auf der „Über“-Seite seines Blogs „Design Tagebuch“. Und so schreibt der Autor in seinen Blogbeiträgen über kreative Designarbeiten, stellt sie vor, reflektiert, diskutiert und ordnet sie ein. Damit wurde er schon 2009, wie die Jury des Grimme Online Awards urteilte, „für viele Designer zur täglichen Pflichtlektüre“ und sprach mit seinen Beiträgen auch Leser*innen außerhalb der Design-Community an – im Übrigen ein wichtiges Kriterium für die Vergabe des GOA, das bis heute gilt. Im GOA-Blog-Artikel „Welche Angebote haben Chancen auf einen Grimme Online Award?“ heißt es diesbezüglich:

„Es bestehen Chancen, wenn es [gemeint ist das Internet-Angebot] sich einem Special-Interest-Thema in der Art widmet, dass auch Personen sich davon angesprochen fühlen, die sich für das Thema bis dahin nicht interessierten. Oder anders ausgedrückt: Auch ein Angebot zu einem Nischenthema kann weiterkommen, wenn es sein Anliegen in äußerst überzeugender Weise auch einer breiten Öffentlichkeit näherbringen kann.“

Gelobt von der GOA-Jury wurde das Design Tagebuch auch wegen seiner großartigen Auswahl der Websites, Logos und Themenfelder, die der Autor fachmännisch und gleichzeitig allgemeinverständlich analysiere und beurteile. Das passiert bis heute – und noch immer vermag die Einschätzung auch Nicht-Designer zu begeistern, weil Schaffrinna ein bestimmtes Design immer auch in größerem Kontext sieht: So bewertete er kürzlich das neue Verpackungsdesign der Getränkemarke Vio, fragte in Zusammenhang damit aber auch nach den Folgen schneller Redesigns sowie nach der Wassernutzungs-Politik von Coca-Cola, dem Unternehmen hinter Vio. „Großen Anteil an dem Erfolg und an dem bemerkenswerten Nutzwert des Blogs haben die fachkundigen Kommentatoren“, schrieb die Jury 2009 – und noch heute finden sich unter den Blogbeiträgen zahlreiche Kommentare, meist unter 20, je nach Thema aber auch mal bis zu 50, die deutlich über „Klasse Artikel!“ oder „Interessant!“ hinausgehen. Hier wird mitdiskutiert und der Autor schaltet sich gern hinzu. Und was ist mit der Hässlichkeit der alltäglichen Dinge? Achim Schaffrinna spart nicht mit Kritik, wenn er das Design einzelner Marken und Firmen thematisiert. Interessanterweise gab es bis 2014 die Rubrik „Die gruseligsten Seiten im Netz“. Dazu und zum Tagebuch allgemein haben wir mit dem Designer ein kleines Interview geführt:

Interview mit dem Diplom-Designer Achim Schaffrinna

Aktueller Screenshot der Website

Aktueller Screenshot der Website „Design Tagebuch“ (Unterseite „Über das dt“)

Wann und wie ist das „Design Tagebuch“ entstanden – und welche Idee stand damals dahinter?

Achim Schaffrinna: Der erste Beitrag im Design Tagebuch erschien Ende Mai 2006. Die Gründung stand damals ganz im Lichte des Schlagworts „Web 2.0“. Die meisten Menschen haben Nachrichten- und Fachmedien bloß konsumiert und im Stillen verfolgt, auch ich selbst. Die Kommentarfunktion war zu der Zeit noch eine Seltenheit. Mit der Demokratisierung des Internets und der Verfügbarkeit von Werkzeugen wie WordPress änderte sich dies grundlegend. Aus Konsumenten wurden in kurzer Zeit Millionen Content-Produzenten. Beiträge konnten nun kommentiert, Verfasser für ihre Texte kritisiert werden (Lob wie Tadel). Und bei dieser neuen Form der Kommunikation wollte ich unbedingt mitwirken, nicht nur konsumierend, sondern als jemand, der auch eigene Themen setzt. Eine Grundidee war damals, über Designthemen mit anderen ins Gespräch zu kommen. Wichtig war mir schon immer, dass sich neben beruflich tätigen Designern, Marken- und Typoexperten auch Laien/Designinteressierte angesprochen fühlen und sich in die Diskussionen einbringen können.

Das Blog umfasst mittlerweile (Stand 14.08.2024) stattliche 3.579 Beiträge, zur Zeit der Preisverleihung 2009 waren es ungefähr 750. Was hat sich inhaltlich geändert?

Achim Schaffrinna: Mitte der 2000er Jahre haben sich Blogger, und da schließe ich mich ein, vielfach als Teil der „Blogosphäre“ verstanden, einer über Links, Likes und entsprechende Portale verbundenen Gemeinschaft. Ich würde sogar sagen eine Wertegemeinschaft. Schon technologisch hat sich in den letzten 15 Jahren in der digitalisierten Kommunikationswelt so viel verändert, da wäre es schon tragisch, wenn sich nicht auch das Design Tagebuch gewandelt hätte. Die Veränderung innerhalb der Gesellschaft spiegelt sich auch im Design Tagebuch wider, sowohl in den Beiträgen als auch in den Kommentaren der Leser. Etwa die größere Sensibilität der Menschen in Bezug auf Sprache, Wörter und Bezeichnungen, Stichwort Gendern, oder das gestiegene Bewusstsein für Klimaschutz, ebenso ein verantwortungsvollerer Konsum. Viele Menschen achten stärker auf Nachhaltigkeit, Regionalität und Verpackungsmaterial, auch auf faire Bezahlungen. Diese Themen spielen bei der Gestaltung eine deutlich größere Rolle als noch vor zehn oder zwanzig Jahren, sowohl im Packaging Design als auch im Corporate Design und in der Markenkommunikation. Auch die Herangehensweise und mein Anspruch sind heute andere. Ich bin gelernter Kommunikationsdesigner und als Quereinsteiger zum Schreiben gekommen. Anfänglich habe ich, typisch für so viele Blogs, munter drauflos geschrieben. Mit der Zeit wurden Themen sorgfältiger recherchiert und gewissenhafter aufbereitet. Journalistische Grundsätze sind mir heute wichtig. Gerade in Zeiten, in denen Meinung, Tatsachen und KI-generierter Content verschwimmen, braucht es Verlässlichkeit und Professionalität. Darum bemühe ich mich.

Der Grimme Online Award (GOA) beobachtet publizistische Qualität. Laut unserem Statut gehören dazu auch gestalterische Elemente wie „Übersichtlichkeit“ oder „ästhetische Aufbereitung“. Im Design Tagebuch findet sich u.a. die Kategorie „Die gruseligsten Seiten im Netz“, also ungefähr das Gegenteil des GOA. Warum endet diese schöne Kategorie im Februar 2014? Gibt es nichts „Gruseliges“ mehr im Netz?

Achim Schaffrinna: Es gibt in der Tat in Summe weniger gruselige Websites. Digitale Angebote haben im Zuge des veränderten Medienkonsums (mobile first u.a.) und in Folge verbesserter Standards (Responsivität, Barrierefreiheit/-armut) an Qualität zugelegt, technisch-funktional, in Bezug auf Nutzerführung, und auch im Ästhetischen. Verbesserungspotenzial gibt es freilich auch heute noch, beispielsweise vielfach im Bereich eGovernment. Das Webangebot des Bundesverfassungsgerichts, das von mir vor Jahren mit dem „Spooky Award“ bedacht wurde – die Website war wirklich hoffnungslos veraltet und ein „Verbrechen“ nicht nur am guten Geschmack –, bekam kurze Zeit später einen umfassenden Relaunch spendiert. Wie ich aus erster Hand erfahren habe, war der Negativpreis tatsächlich der Anstoß zum Relaunch. Was mich gefreut hat. Darum geht es letztlich bei der im Design Tagebuch von mir geäußerten Kritik. Es geht darum, Debatten anzustoßen, ich möchte Impulse geben und dazu anregen, Designs, Zeichen, Bilder und Botschaften zu hinterfragen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Hinweis zu den Netzblicken des GOA-Blogs

Die Netzblicke widmen sich interessanten Angeboten aus dem laufenden Wettbewerb des Grimme Online Awards, stellen aber auch interessante Websites, Podcasts, Social-Media-Kanäle oder einzelne hervorhebenswerte Reportagen und Beiträge vor.

Die ausgewählten Netzblicke berühren im Übrigen nicht die Entscheidungswege von Nominierungskommission und Jury!

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