ReVue: Fotografie und Wahrnehmung
„Die Kamera lügt nicht!“ Dieser Spruch gilt schon längst nicht mehr. Die Digitalisierung der Fotografie und mittlerweile auch der Einsatz künstlicher Intelligenz bei der Bearbeitung und Erstellung von Bildern lässt Schlimmes erahnen, wenn es um die Zukunft der Fotografie und ihres Berufsbildes geht. Der GOA-Blog hat sich eine Website zur Fotografie angeschaut, die sowohl den historischen Blick wagt als auch die Gegenwart und Zukunft des Bildermachens aufgreift: „ReVue – Magazin für Fotografie und Wahrnehmung“.
Die technischen Entwicklungen im Bereich der Fotografie in den letzten 20 bis 30 Jahren waren immens – und nicht unbedingt zuträglich für diejenigen, die das Bildermachen gelernt und zu ihrer Profession gemacht haben: Die digitale Fotokamera löste die analoge ab und die Fotografie wurde zur Massenware. Aufwendige Vorbereitungen für das eine, das hervorragende Bild schienen passé, das erzeugte Bild konnte bereits im Sucher der Kamera, spätestens am Computer angeschaut und bearbeitet und ggf. wieder gelöscht werden, für die Weitergabe der Bilder reichte ein Knopfdruck. Die Qualität der digitalen Kameras wurde besser, die Preise für eine gute Ausrüstung sanken.
Die Folgen: Hobbyfotograf*innen überschwemmten die Bildagenturen mit unzähligen Fotografien – und die Preise der Bilder näherten sich immer weiter dem Cent-Bereich. Viele Hobbyist*innen halten ihre Bilder für ebenbürtig gegenüber denen der gelernten Fotograf*innen (und manche waren und sind es auch). Und wer eine Fotografie benötigt, bedient sich bei den Plattformen an den preiswerteren oder gar kostenfreien Bildern – um Geld zu sparen und/oder weil lediglich ein schmückendes Beiwerk zu einem Text gesucht wird. Zudem erkennen viele Menschen den Wert und den Nutzen einer ästhetischen und aussagekräftigen Fotografie nicht.
In der jüngsten Vergangenheit kam im Bereich Bilderstellung auch noch eine Technik hinzu, die nun wieder alles auf den Kopf stellen könnte: sogenannte Text-zu-Bild-Generatoren, bei denen künstliche Intelligenz für die Erstellung oder Bearbeitung von Bildern durch Eingabe von Prompts (textbasierten Beschreibungen) sorgen – und wie schon beim Übergang von analog zu digital wird in Fotografie-Foren und Social-Media-Kanälen verbissen diskutiert: Ist das nun das Ende des Berufs „Fotograf*in“? Oder sogar das Ende der Fotografie?
Das Online-Magazin ReVue
Die Vergangenheit der Fotografie, die Gegenwart, aber auch ihre Zukunft ist Thema der Website „ReVue – Magazin für Fotografie und Wahrnehmung“. Sie wurde 2022 für den Grimme Online Award vorgeschlagen, in der Nominierungskommission auch sehr positiv besprochen, schaffte es aber nicht in den kleinen Kreis der nominierten Angebote. Die Website wird herausgegeben von der gemeinnützigen DEJAVU Gesellschaft für Fotografie und Wahrnehmung e.V. in Berlin.
Das Magazin widmet sich Themen direkt von dem Medium Bild her. Es ist nicht „lediglich“ Beleg für einen beschriebenen Sachverhalt, sondern der Ausgangspunkt. Thematisch schaut ReVue aber nicht einfach (nur) zurück, schon gar nicht mit einem Gestus von „Früher war alles besser!“ Nein, es geht auch um das Jetzt, das Heute, das Morgen der Fotografie.
Durch die Website navigiert man sich über die Rubriken „Das Bild in seiner Zeit“, „Feldarbeit“, „Theorie“ und „Kolumnen“. Neue Beiträge erscheinen nicht regelmäßig – und es scheint leider so, dass es weniger werden: Für 2022 haben wir zwölf, für 2023 acht und für 2024 (Stand Mitte Juni) erst zwei Beiträge gezählt. Ältere Beiträge haben oftmals kein Datum.
Nachfolgend stellen wir einzelne Beiträge des Magazins vor und haben hierfür eine eher inhaltliche Sortierung vorgenommen.
Historisches zur Fotografie
Wer bei den großen Stock-Agenturen nach „Schneeflocke Makro“ sucht, erhält eine Vielzahl erstaunlicher Fotografien. Ein Blick zurück in die Geschichte der Fotografie offenbart, dass im 19. Jahrhundert ein gewisser Wilson Alwyn Bentley begann, einzelne Schneeflocken abzulichten – eine unglaublich aufwendige Angelegenheit, zudem körperlich sehr anstrengend, da der Fotograf über Stunden hinweg mit viel Geduld und seinem unhandlichen Equipment in eisiger Kälte stand. Die anrührende, hervorragend geschriebene und bebilderte Geschichte über den „schüchternen, wortkargen Bauernsohn aus dem US-Bundesstaat Vermont“ [https://www.re-vue.org/beitrag/bild-in-zeit-maik-brandenburg-liebhaber-der-wolkenbrut], der über 5.000 gelungene Flockenfotos erstellte, dem aber Zeit seines Lebens breite Anerkennung oder gar Ruhm verwehrt geblieben sind, stammt von Maik Brandenburg, freier Autor u.a. für mare, Geo, Free Men’s World und merian.
„Jedes Mal, wenn eine Flocke verdunstete, dachte ich: Ihre Schönheit ist für immer dahin.“ (Wilson Alwyn Bentley)
Ja, es finden sich einige rein historische Artikel wie der zuvor angeführte, z.B. auch ein Beitrag von Elena Skarke über die kürzlich wiederentdeckten Farbdiapositive des verstorbenen New Yorker Künstlers Saul Leiter.
Andere Beiträge besprechen aktuelle Themen, allerdings mit einem Blick auf die Entwicklungen in der Vergangenheit. Christoph Engemann beispielsweise beleuchtet in „Subsurfaces“ den Fortschritt bei der Sichtbarmachung früherer Oberflächen der Erde mittels Schallwellen und seismografischer Kurven und geht schließlich auf den aktuellen Stand dieser Techniken mittels computergenerierter Visualisierungen ein – dies ist beispielsweise für die Ölindustrie interessant.
„Es sind nicht Bilder, welche einen vergangenen Moment in die Gegenwart holen, sondern Bilder möglicher Zukünfte, die sich beim Bohren und Ausbeuten der dargestellten Erdschichten bestätigen könnten.“ (Christoph Engemann)
Politische Themen und Fotografie
In einem Interview erklärt der Fotograf Maurice Weiss, Mitglied der Agentur Ostkreuz, worauf es bei der Fotografie von Politiker*innen ankommt: Wie steht es um das Verhältnis von Nähe und Distanz? Worauf muss ein*e Politiker-Fotograf*in bezüglich der Bildaussagen achten, wenn es um Wahlkampfstrategien geht?
Einen spannenden Bericht liefert der Ukrainer Pavel Mirny, der nach dem Beginn des Krieges unter einem Pseudonym in Russland geblieben ist und mit einer Kinderkamera den Umgang der russischen Öffentlichkeit mit dem Krieg und der Propaganda festgehalten hat.
Medienkompetenz/Bildkompetenz
Miriam Zlobinski, freie Kuratorin und Lehrbeauftragte an der Universität der Künste Berlin sowie ein Teil der Chefredaktion der ReVue, nennt in ihrem Artikel „Wie macht uns Bildkompetenz demokratiefähig?“ verschiedene Arten der Kriegsfotografie (Kriegsbilder direkt vor Ort, Luftbildaufnahmen, offiziell erstellte Bilder der Kriegsparteien und Social-Media-Aufnahmen), fragt nach den Bildmotiven, den Bildmustern und Stereotypen, die in den Medien gern aufgegriffen werden, aber auch danach, was gezeigt werden darf und gezeigt werden sollte und was nicht.
Die fortschreitenden Entwicklungen rund um die künstliche Intelligenz machen die Beurteilung, ob eine Fotografie echt ist oder nicht, zunehmend schwieriger. Einen interessanten Zugang zu dieser Thematik liefert Matthias Steinke im Gespräch mit Hany Farid, Professor an der University of California, Berkeley, und ein Pionier der Bildforensik. Sie nähern sich dem Thema mit grundsätzlichen Erkenntnissen zur Bilduntersuchung, den Grundprinzipien und wichtigsten Techniken der Bildforensik, um schließlich auch über heutige Manipulationen mittels KI sowie über die damit zusammenhängenden Verschwörungstheorien zu sprechen.
„Meistens denken die Leute, dass die echten Bilder gefälscht sind und dass die, die gefälscht sind, echt sind. (…) Schlimmer noch, sie sind sich dabei ihres Urteils in hohem Maße sicher. Die Menschen sind also gleichermaßen unwissend wie überzeugt, was die wohl schlechteste Kombination ist.“ (Hany Farid)
Künstliche Intelligenz
An dem Thema „künstliche Intelligenz“ kommt ein Magazin über die Fotografie natürlich nicht vorbei – zwei Beiträge von Fred Ritchin und ein Interview mit Boris Eldagson unterstreichen dies.
„Es ist keine Fotografie!“ – dieser Satz, meist noch gekennzeichnet mit 3 Ausrufezeichen, ist in fast allen Diskussionen zum Thema generative KI und Fotografie zu lesen. Meist folgen dann Argumente und Gegenargumente bis hin zu Haarspaltereien über die Grenzen, ab wann eine veränderte Fotografie ein künstliches Produkt wird. „Es ist keine Fotografie!“ ist auch der Titel des Interviews mit Boris Eldagson, der den Sony World Photography Award in der Sparte „Kreativ“ mit einem per KI erstelltem Bild gewonnen hat. Darin erzählt Eldagson von diesem Wettbewerb und den Diskussionen darüber, geht anschließend auch auf die Thematik generative KI an sich ein. Sie führe dazu, dass schon bald auch Experten künstliche und echte Bilder nicht mehr unterscheiden könnten. Gleichzeitig sagt Eldagson: „Auf künstlerischer Ebene hingegen bedeutet es für mich die absolute Freiheit.“
„Wir werden unsere Kinder, Hunde und Katzen zwar weiterhin fotografieren, aber wir werden die KI benutzen, um unsere Babys im Weltraum darzustellen.“ (Boris Eldagson)
Über die „Umwandlung der Fotografie in ein synthetisches Medium“ (Februar 2022) schreibt Fred Ritchin, emeritierter Dekan der fotografischen Ausbildungsstätte am International Center of Photography (New York City). Die Veränderbarkeit werde „in den Vordergrund gestellt und die ursprüngliche Bedeutung von Wirklichkeitsabbildung vermindert“. Ritchin diskutiert die Folgen, die die Existenz solcher künstlich erstellten Bilder haben werde: Förderung von Rassismus und Frauenfeindlichkeit, Spaltung der Gesellschaft, Provokation gewaltsamer Konflikte, Untergrabung demokratischer Prozesse.
„Kann das glaubwürdige Zeugnis des Kameraauges auch in Zukunft noch Bestand haben? Und wenn nicht, womit werden wir es ersetzen?“ (Fred Ritchin)
Anderthalb Jahre später schreibt Ritchin bei ReVue erneut zum Thema KI und Fotografie. Ausgehend von der Annahme, dass jede Fotografie immer auch eine „eine höchst persönliche Interpretation“ sei, geht er nochmals auf die möglichen Folgen künstlich generierter Bilder ein. Werden beispielsweise Bilder generiert und veröffentlicht, die die Geschichte der Sklaverei in den USA verzerren, könnten folgende KI-Generationen, da sie mit diesen Bildern trainiert werden, ähnliches darstellen. Fazit: Es seien (neue oder angepasste) Regelungen zum Urheberrecht notwendig, moralische Grundsätze, Medienkompetenz und Kennzeichnungen. Und es müsse ernsthafte Konsequenzen geben für Personen, die mittels Bildfälschungen „andere in die Irre führen und zu Opfern machen. Dazu gehören auch jene, die von künstlicher Intelligenz generiert wurden.“
… und natürlich …
dürfen auch die für Fotograf*innen maßgeblichen und viel diskutierten Fragen nicht fehlen: Was eigentlich macht eine gute Fotografie aus? Und: Wie viel Retusche an einer Fotografie war und ist eigentlich erlaubt?
- Heiko Hecht und Guy Tillim: Was macht eine gute Fotografie aus?
- Bernd Stiegler: Retusche: die Fotografie am Scheideweg
Fazit
„ReVue – Magazin für Fotografie und Wahrnehmung“ ist ein spannendes Online-Magazin, das seinem Titel gerecht wird. Die historische Perspektive ist deutlich präsent, aktuelle Themen werden aber nicht ausgespart. Die meinungsstarken Beiträge sind ausführlich und tiefgehend begründet– und vornehmlich, aber nicht nur für Fotografie-Liebhaber*innen interessant. Leider gibt es für die Leser*innen keine Möglichkeit, die Beiträge zu kommentieren. Lediglich auf Instagram tritt die Redaktion in Kontakt mit den Nutzer*innen – die Resonanz ist allerdings recht schwach.
Hinweis zu den Netzblicken des GOA-Blogs
Die Netzblicke widmen sich interessanten Angeboten aus dem Wettbewerb des Grimme Online Awards, stellen aber auch interessante Websites, Podcasts, Social-Media-Kanäle oder einzelne hervorhebenswerte Reportagen und Beiträge vor.
Die ausgewählten Netzblicke berühren im Übrigen nicht die Entscheidungswege von Nominierungskommission und Jury!
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