Rückschau
„Wir waren ein Stück weit Exoten und fühlten uns entsprechend.“
Im Jahre 2001 wurde zum ersten Mal der Grimme Online Award verliehen, den der Journalist und Fernsehkritiker Rainer Tittelbach in der Welt damals als „kleinen Bruder“ des Grimme-Preises bezeichnete. Eine Auszeichnung ging an das Kinderangebot Kidsville. Wir haben mit Anke Hildebrandt über die Website und die Auszeichnung gesprochen.
Neun Preisträger gab es 2001, einsortiert in folgende Kategorien:
- Kategorie TV: MTV Online, n-tv.de und schmidt.de (damals die Seite zur „Harald Schmidt Show“ auf SAT.1)
- Kategorie Web-TV: Bitfilm und GIGA.DE
- Kategorie Medienkompetenz: eScript, Kidsville, Kreidestriche.de und politik-digital.de
Nicht alle Angebote existieren noch. Leider musste auch eines der schönsten und phantasievollsten Angebote für Kinder eingestellt werden: Kidsville. Wir haben mit Anke Hildebrandt, eine der beiden Gründerinnen der „Mitmachstadt für Kinder“, über die Anfänge, die Auszeichnung und das Ende der Website gesprochen.
Interview
Wann und wie ist Kidsville entstanden – und welche Idee stand damals dahinter?
Anke Hildebrandt: Kidsville ist aus dem Universitätsstudium heraus entstanden, die Wurzeln reichen zurück bis ins Jahr 1998 – eine Zeit, in der es sehr wenige Internet-Angebote für Kinder gab. Meine damalige Kommilitonin Kristina Schnelle und ich studierten beide Medienpädagogik an der Universität Bielefeld bei Prof. Dr. Dieter Baacke. Wir wollten eine Diplom-Arbeit mit Praxisbezug verfassen, die Kindern wertvolle Erfahrungen bietet und hatten beide Affinität für Kindermedien und das Internet. Da traf es sich gut, dass ich schon länger studienbegleitend bei einer Medienagentur jobbte, die Multimedia-Angebote für Kinder umsetzte. Und in meiner damaligen WG gab es einen Grafik-Design-Studenten, der Figuren und Charaktere entwerfen konnte.
Die Grundidee von Kidsville, der „Mitmachstadt“ für Kinder, war eine praktische Umsetzung des Medienkompetenz-Modells von Baacke. Wir entwickelten das Konzept einer virtuellen Stadt mit verschiedenen Fantasie-Gebäuden, in denen Kinder die vier Dimensionen von Medienkompetenz erlernen und erleben konnten. In diesem medienpädagogischen Erfahrungsraum sollten die Kinder sich informieren können, kritisch reflektieren, den Umgang mit Computer und Internet erlernen und vor allem selbst aktiv werden: mitmachen und gestalten.
Welche Inhalte gab es zu Beginn, welche Änderungen gab es in den Folgejahren?
Anke Hildebrandt: Es gab mehrere Häuser, wie z.B. die „Internautenschule“, die Kindern in Form von einzelnen „Klassen“, die man selbst wählen konnte, das Internet spielerisch erklärte. Oder das „Multikulithaus“, das Toleranz und Vielfalt zum Thema machte. Vernetzung mit anderen Kinderseiten war uns von Anfang an wichtig. Realisiert wurde dies über die „Linkrakete“. Sie bot Kindern eine Übersicht der Kinderseiten nach Themen gruppiert. Das „Café Creativ“ lud Kinder zum Mitmachen ein: Wir erhielten Gedichte, Geschichten und eingescannte Bilder von den Kindern via E-Mail und veröffentlichten diese händisch auf der Website. Schon damals war das aufwändig und mit steigender Bekanntheit und Beteiligung der Kinder stellten wir auf die Einsendung über Formularfelder um. Dazu war die Implementierung einer Art Redaktionssystem nötig. Zuvor bestand die Seite aus reinem, handgestrickten HTML.
Kidsville blickt auf eine relativ lange Existenz zurück, so veränderte sich in den Jahren so einiges. Einen großen Sprung nach vorn brachte eine lang ersehnte finanzielle Unterstützung durch die Förderinitiative „Ein Netz für Kinder“ (ENfK). Bis dahin wurde Kidsville allein durch Engagement getragen. Das für das Fortbestehen von Kidsville so wertvolle Preisgeld vom Grimme Online Award Förderpreis war durch den großen Betreuungsaufwand einer Beteiligungsangebots bald aufgebraucht, denn jeder Beitrag wurde stets vormoderiert, d.h. vor Veröffentlichung geprüft und gelesen, um den jungen Nutzer*innen einen sicheren Raum zu geben und über Feedback Lerneffekte zu erzielen. So wurde die Website von uns in den Folgejahren unbezahlt realisiert und betreut.
Über freiberufliche Tätigkeiten „nebenher“ versuchten wir, das nicht-kommerzielle Angebot aufrecht zu erhalten, aus Überzeugung, dass Kinder im Internet ein authentisches Mitmachangebot haben sollten. Meine Gründungs-Partnerin Kristina bekam ein Kind, neu an Bord kam dafür Christian Großekathöfer, der sich vom Engagement für Kinder im Internet anstecken ließ. Mit der Förderung von ENfK konnte der dringend benötigte Relaunch angegangen werden. In dem Zuge entstanden neue Häuser in der Mitmachstadt, darunter ein Kummerkastenforum und die „Kidsvilla“.
Mit der Kidsvilla hatte Kidsville endlich eine Möglichkeit für Kinder, sich eine eigene Seite einzurichten. Genau das hatten sich die Kinder über Jahre gewünscht. Nach einmaliger Anmeldung konnten sich die Kinder ihr „Zimmer“ in der Villa einrichten: Steckbriefe mit Avatarbildern anlegen, eigene Blogbeiträge verfassen, ihre eingesandten Gedichte und Geschichten auflisten und die Beiträge anderer kommentieren.
Was ging Dir durch den Kopf, als Du von Nominierung und Auszeichnung gehört hast? Und: Hatte die Auszeichnung Folgen für Kidsville, für Euch als Macher*innen?
Anke Hildebrandt: Ehrlich gesagt: Wir konnten es zuerst nicht glauben! Die Freude war riesig. Wir hatten schon damals Pläne für unser Angebot und hofften sehr, dass es eine Zukunft haben könnte. Mit der Auszeichnung erhielten wir genau dafür eine Perspektive, denn mit dem Preisgeld (25.000 DM) konnten wir über Monate hinaus die Betreuung und den Ausbau der Seite realisieren. Zudem erhielten wir Publicity über die Auszeichnung. In der lokalen Presse erschienen Artikel, die wiederum dazu führten, dass wir Aufträge als freiberufliche Medienpädagoginnen erhielten.
Und wie hast Du die Verleihung erlebt?
Anke Hildebrandt: Die Verleihung in Köln war für uns als Nicht-Promis und gerade mit dem Studium fertige Absolventinnen extrem aufregend. Ich erinnere mich gut an den feierlichen Rahmen, an elegante Roben, Smokings und Cocktailkleider. Mit dem „Förderpreis Medienkompetenz“ waren wir ein Stück weit Exoten und fühlten uns entsprechend. Besonders nett in Erinnerung ist mir Ranga Yogeshwar, der mit seiner Frau zugegen war. Er war der Einzige aus der Promiwelt, der uns persönlich ansprach und beglückwünschte. :-P
Was hat Dir am meisten Spaß an der Website gemacht?
Anke Hildebrandt: Es ist großartig, sich etwas ausdenken zu können und eigene Ideen umsetzen zu können. Wirklich Spaß und große Motivation machte die Beteiligung und die Interaktion mit den Kindern. Deren Resonanz war enorm, die Einsendungen stiegen und die Identifikation der Kinder mit „Ihrer Mitmachstadt“ war manchmal rührend. Als Ansprechpartner hatten die Kinder uns in Verkörperung der Ameise „Formi Formica“, die sie ermutigte, selbst kreativ zu sein und die bei Problemen weiterhalf. Die Kommunikation der Kinder mit Formi und untereinander war von Freude und Gemeinsinn geprägt – das war eine tolle Zeit!
Warum gibt es Kidsville heute nicht mehr?
Anke Hildebrandt: Die Frage schmerzt noch heute, auch wenn es nun schon einige Jahre her ist, dass ich die Seite komplett aufgegeben habe. Die Antwort ist einfach: Der Aufwand für eine sichere und hochwertige Kinderseite mit großer Beteiligung kann ohne Förderung nicht gehalten werden. Das Dilemma konkret bei Kidsville war: Je erfolgreicher die Seite, umso mehr Beiträge, umso mehr Aufwand. Im Laufe der Jahre haben die Kinder in ihrer Mitmachstadt Beiträge veröffentlicht, die im sechsstelligen Bereich liegen. Und jeder Beitrag wurde vorher von uns gelesen und wenn nötig korrigiert, darunter viele lange Geschichten.
Kidsville war ähnlich wie die Suchmaschine Blinde Kuh eine der ersten nicht-kommerziellen Kinderwebsites im deutschsprachigen Internet. Immer war unser Ziel, für Kinder eine offene Kinderseitenlandschaft zu erschaffen, in der sie alles finden, was sie suchen und brauchen. Die Blinde Kuh startete 1997, wir kamen zwei Jahre danach. Auf einer Veranstaltung in München zum Kinder-Internet begegneten wir uns 1999 das erste Mal. Kurz darauf gründeten wir gemeinsam mit zwei weiteren Kinderseiten eine Arbeitsgemeinschaft: Seitenstark. Die AG wuchs im Laufe der Jahre und besteht bis heute. Inzwischen ist ein Verein daraus erwachsen. Doch auch dieser hat keine solide Finanzierung.
Die Blinde Kuh musste Ende letzten Jahres ihren Betrieb einstellen, nachdem keine Förderung mehr erfolgte. Dabei sind nicht-kommerzielle Angebote im Internet, die Kinder mit ihren Bedürfnissen ernst nehmen, sie schützen und stärken, heute wichtiger denn je.
Vielen Dank für das Gespräch!
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