Schluss mit dem Tabu von Schwangerschafts­abbrüchen

Schwangerschaftsabbruch in Deutschland – ein Thema, welches heutzutage immer noch sehr stark tabuisiert ist. Die Recherche von CORRECTIV.Lokal macht deutlich, wie viele Menschen aufgrund ihres Schwangerschaftsabbruchs leiden mussten. Durch eine öffentliche Umfrage wurden echte, schwerwiegende Fälle ermittelt, welche zeigen, wie schlecht die Versorgungslage in Deutschland immer noch ist, und dass dies ein großes Problem darstellt. Die CORRECTIV.Lokal-Recherche ist für den Grimme Online Award 2023 in der Kategorie „Information“ nominiert. Im Interview erzählt CORRECTIV-Reporterin Miriam Lenz von Verlauf und Hürden der Recherchearbeit, erläutert, was unternommen werden kann, um das Thema zu enttabuisieren und was in Zukunft verbessert werden muss.

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Screenshot „Schwangerschaftsabbruch in Deutschland“

Wieso haben Sie sich dazu entschieden einen Beitrag zu dem Thema „Schwangerschaftsabbruch in Deutschland“ zu verfassen? Gab es einen konkreten Beweggrund oder halten Sie das Thema einfach für allgemein gesellschaftlich relevant?

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Miriam Lenz: Bei uns ist es grundsätzlich so, dass wir Reporter*innen Themen vorschlagen können, und in diesem konkreten Fall habe ich das Thema vorgeschlagen. Bevor ich zu CORRECTIV gekommen bin, habe ich unter anderem als freie Journalistin für den Tagesspiegel gearbeitet und habe dort schon einmal eine Recherche zur Ausbildung von Medizinstudierenden zu Schwangerschaftsabbrüchen gemacht. Das war mein ursprünglicher Einstieg in das Thema und währenddessen hatte ich schon mitbekommen, dass es immer weniger Ärzte und Ärztinnen gibt, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, und dass es anscheinend schon einzelne Regionen gibt, in denen die Versorgungslage sehr schlecht ist. Zusätzlich habe ich bei der Recherche natürlich gemerkt, wie stark stigmatisiert das Thema ist und seitdem fand ich, dass wir zusammen mit den Lokalmedien unbedingt mal eine große Recherche dazu machen sollten. Bei CORRECTIV.Lokal arbeiten wir immer mit Lokaljournalist*innen zusammen, wir bereiten für diese Informationen auf und recherchieren zusammen mit ihnen. Es geht immer um nationale Probleme, die man jedoch auch lokal vor Ort sieht und recherchieren kann. Wir machen gerne Beteiligungsrecherchen, bei denen Betroffene selbst Informationen liefern können und dort kam dann der Ansatz her, dass wir mit der Art, wie wir arbeiten, dieses Thema sehr gut recherchieren können.

War die Recherche relevanter Informationen eine besondere Herausforderung, da bisher nicht sehr viel online und allgemein zu dem Thema zu finden ist?

Miriam Lenz: Die Antwort darauf muss ich aufgrund der unterschiedlichen Methoden, die wir genutzt haben, zweiteilen. Zum einen gab es unsere Umfrage, bei der Betroffene von ihren Erfahrungen berichten konnten. Dabei haben wir sehr darauf geachtet, dass unsere Fragen wertfrei sind und wir einen sicheren Raum für die Betroffenen schaffen. Die Teilnehmer*innen konnten anonym antworten oder auch ihre Kontaktdaten hinterlassen. Wir waren überwältigt davon, dass insgesamt 1.500 Betroffene teilgenommen haben und ebenfalls hunderte ihre Kontaktdaten angegeben haben. Sehr viele Betroffene haben eine große Dankbarkeit darüber geäußert, dass und auf welche Art wir zu dem Thema recherchieren. Somit war dieser Teil der Recherche am Ende einfacher, als wir dachten.

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Der andere Teil war, dass wir an alle rund 310 öffentlichen Kliniken in Deutschland, die eine gynäkologischer Station haben, Presseanfragen geschickt haben. Wir haben uns dazu entschieden, die öffentlichen Kliniken anzufragen, weil diese im erweiterten Sinne Behörden sind und damit auskunftspflichtig gegenüber Journalist*innen, und weil sie unserer Meinung nach eine besondere Aufgabe haben, die Versorgung sicherzustellen, wenn private Praxen im Umfeld es vielleicht nicht tun. Die Kliniken haben wir zusammen mit Lokalmedien über die Plattform von FragDenStaat angefragt, und das war tatsächlich schwerer als gedacht. Allerdings hat zum Zeitpunkt unserer Recherche im Herbst/Winter 2021/22 noch der Paragraph 219a des Strafgesetzbuches gegolten, also das sogenannte Werbeverbot, welches auch ein Informationsverbot war. Dieser Paragraf hat Ärzten und Ärztinnen verboten, über die Details von Schwangerschaftsabbrüchen zu informieren. Sie durften zu dem Zeitpunkt zwar schon sagen, ob sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen, aber beispielsweise nicht nach welchen Methoden sie dies tun. Dadurch hatten viele Krankenhäuser Angst und wussten nicht, was sie uns sagen dürfen. Viele haben sich auch nicht als auskunftspflichtig gesehen, obwohl sie es eigentlich sind und haben gesagt, dass das Thema so heikel ist, dass sie dazu nichts sagen möchten. In den seltensten Fällen war die Kommunikation da einfach, wir mussten sehr häufig immer wieder nachhaken, und trotzdem haben einige Krankenhäuser gar nicht geantwortet oder die Aussage verweigert. Es gab zudem noch die weitere Hürde, dass der Paragraph 219a auch uns als Medium in eine rechtliche Grauzone gebracht hat, da wir ja die recherchierten Daten in einer durchsuchbaren Datenbank zur Verfügung stellen, die genau die Informationslücke schließen sollte, die durch diesen Paragraph entstanden ist. Wir sind spendenfinanziert und da wir in dieser Grauzone waren, mussten wir darauf verzichten, Spendenaufrufe an diese Recherche zu koppeln. Uns war es jedoch wichtiger, dass diese Datenbank immer zugänglich bleibt, als dass wir um Spendengelder werben können. Das war für uns als gemeinnützige Organisation natürlich auch ein großer Schritt.

Gab es neben der Umfrage auch persönliche Interviews?

Miriam Lenz: Ja, zusammen mit den Lokalmedien haben wir ungefähr mit 30 Betroffenen meist mehrstündige Interviews geführt. Wir konnten leider nicht mit allen von den hunderten, die ihre Kontaktdaten hinterlassen haben, sprechen, da wir ein relativ kleines Team sind. Wir haben uns entschieden, mit den Betroffenen zu sprechen, deren Schilderungen in der Umfrage besonders dramatisch und schwerwiegend waren. Die Geschichte einer Betroffenen, Tina, habe ich dann auch im Detail rekonstruiert. Von ihr haben wir auch die Krankenhaus- und Gynäkologieakte, Unterlagen ihrer Psychotherapeutin, Chatnachrichten und Ultraschallbilder bekommen und haben mit ihrer Familie und ihrer besten Freundin gesprochen. Dadurch konnten wir dann konkret ihre Erlebnisse erzählen.

Gab es einen bestimmten Grund, warum der Fall von Tina als ausführliches Beispiel gewählt wurde? War er der Schlimmste oder Repräsentativste?

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Miriam Lenz: Es gab viele sehr schwerwiegende Fälle, die man hätte erzählen können. Jedoch war es klar, dass wir dadurch, dass die Recherche und Aufbereitung der Informationen und Unterlagen so viel Zeit und Aufwand in Anspruch nimmt, wir nur eine Geschichte in dieser Ausführlichkeit erzählen können. Man muss meiner Meinung nach bei solchen Recherchen als Journalist*in immer abwägen, ob es auch ethisch vertretbar ist, mit einer bestimmten Person diese Recherche durchzuführen, da es natürlich sehr persönliche Daten sind. Man muss offen besprechen, ob die Person bereit dazu ist, so detailliert über die traumatischen Erlebnisse zu sprechen und in Tinas Fall hat das sehr gut gepasst, da sie emotional und psychisch dazu bereit war und das auch wollte.

Durch Ihre Recherche können sich viele Frauen besser informieren und haben die Möglichkeit, eine öffentliche Klinik in ihrer Nähe zu finden, die Schwangerschaftsabbrüche durchführt. Gab es darauf nur positive Resonanz oder kam es auch zu Hass oder harscher Kritik von Abtreibungsgegnern?

Miriam Lenz: Es gab überaus viel Dankbarkeit, aber wir haben natürlich auch Hass und deformierende Nachrichten in den sozialen Medien oder per E-Mail bekommen. Damit hatten wir allerdings auch gerechnet, das hat uns nicht überrascht. Auf jeden Fall haben aber die Dankbarkeit und positive Resonanz überwogen.

Was müsste Ihrer Meinung nach getan werden, um die Situation zu verbessern und eine bessere Versorgung zu ermöglichen und wer hat den größten Einfluss darauf bzw. die größte Verantwortung dafür?

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Miriam Lenz: Es ist auf jeden Fall schon einmal gut, dass Paragraph 219a gestrichen wurde. Das heißt, dass Ärzt*innen jetzt im Detail, ohne Angst haben zu müssen, informieren können. Nach wie vor sind Schwangerschaftsabbrüche bei uns in Deutschland eine Straftat, das regelt der Paragraph 218 im Strafgesetzbuch. Schwangerschaftsabbrüche sind nur unter bestimmten Umständen erlaubt und nur dann nicht strafbar. Das ist in meinen Augen nach wie vor ein sehr großer Missstand. Das hat auch unsere Recherche gezeigt – denn viele Betroffene fühlen sich wie Schwerverbrecher, wenn sie einen Abbruch durchführen lassen, und verspüren allgemein ein Gefühl der absoluten Fremdbestimmung. Ich halte es für dramatisch und falsch, dass ein Schwangerschaftsabbruch immer noch Straftatbestand ist. Dies könnte der Bundestag ändern, da es eine Aufgabe der Gesetzgebung ist. Eine andere Frage ist, wie der Mangel an Ärzt*innen behoben wird. Es gibt einfach in Deutschland immer weniger Praxen und Kliniken, in denen Abbrüche durchgeführt werden. In meinen Augen müsste man Schwangerschaftsabbrüche zu einem verpflichtenden Teil in der Aus- und Fortbildung von Medizinstudierenden und in der gynäkologischen Ausbildung machen. Dazu kommt noch die Frage, welche Rolle die öffentlichen Kliniken einnehmen. Ärzt*innen, die eine private Praxis aufmachen, können nicht dazu gezwungen werden, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Die Frage ist aber, ob man es in einer öffentlichen Klinik zur Voraussetzung macht Abbrüche durchzuführen. Ich glaube, dass die öffentliche Gesundheitsversorgung da in der Pflicht ist sicherzustellen, dass in öffentlichen Kliniken Abbrüche durchgeführt werden, und zwar nach jeder rechtlichen Indikation, also nicht nur, wenn die Schwangerschaft eine Bedrohung für das Leben der Schwangeren ist oder wenn sie durch eine Vergewaltigung entstanden ist, sondern auch nach der sogenannten Beratungsregel.

Wie kann man als einzelne betroffene oder unterstützende Person Bewusstsein zu dem Thema verbreiten oder auf eine andere Art und Weise etwas bewirken?

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Miriam Lenz: Ich glaube, es ist an sich sehr wichtig, dass wir als Gesellschaft und als einzelne Menschen dieses Thema enttabuisieren und entstigmatisieren; dass wir darüber sprechen, es zu einem ganz normalen Thema machen und Betroffenen die Möglichkeit geben davon zu erzählen. Es ist auch wichtig darauf aufmerksam zu machen, was Betroffene hier in Deutschland immer noch erleben, wenn sie eine Schwangerschaft abbrechen. Man kann unsere Recherchen teilen, man kann die Recherchen der Lokalmedien teilen und man kann auch tolle Recherchen aus anderen Medien teilen, die genau zeigen, was Betroffene erleben, wenn sie einen Schwangerschaftsabbruch in Deutschland vornehmen lassen. Es gibt auch Abbrüche, die unkompliziert verlaufen, aber in unserer Umfrage hat jede vierte Betroffene von größeren medizinischen Problemen berichtet. Fast so viele Betroffene haben davon berichtet, dass sie beispielsweise von medizinischem Personal unter Druck gesetzt worden seien, die Schwangerschaft fortzuführen, dass sie gedemütigt und bloßgestellt worden seien, weil sie die Schwangerschaft vorzeitig beenden wollten und das ist etwas, was vielen Menschen nicht bewusst ist. In dieser Hinsicht sollte man also einfach über das Thema sprechen, auch mit Freund*innen und vielleicht auch explizit mal mit Cis-Männern: „Hey, das ist ein Thema und weißt du überhaupt, dass das immer noch eine Straftat in Deutschland ist?“. Ich glaube, es fängt schon damit an, dass das vielen Menschen gar nicht bewusst ist und deshalb kann man auch mal sagen: „Weißt du eigentlich, dass es Regionen in Deutschland gibt, wo du hundert Kilometer oder mehr fahren musst, um eine Praxis oder ein Krankenhaus zu erreichen, in dem du eine Schwangerschaft beenden kannst? Und weißt du, was das für die Betroffenen bedeutet?“ – also einfach offen damit umgehen.

Wird es zukünftig noch andere Projekte oder Recherchen zu dem Thema von Ihnen geben?

Miriam Lenz: Also wir können das jetzt noch nicht genau sagen, aber ich kann sagen, dass es ein Thema ist, das mir sehr wichtig ist, und wenn ich die Möglichkeit habe dazu zu recherchieren, dann werde ich dazu recherchieren.

Gibt es noch etwas, was Sie gerne verdeutlichen möchten?

Miriam Lenz: Das Wichtige ist tatsächlich, dass das Projekt auch mit Lokaljournalist*innen zusammen gemacht wurde und, dass es für uns insgesamt ganz wichtig war, Betroffenen einen sicheren Raum zu geben, um sich zu äußern, von ihren Erfahrungen zu berichten und mit der Datenbank eine Serviceleistung für Betroffene und ihnen nahestehenden Menschen zu bieten, aber auch, um Informationen zu bieten, die für uns bisher nicht vorhanden waren.

Das Interview führten Julia Mescic und Laura Pizzini. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang „Mehrsprachige Kommunikation” an der TH Köln.

Porträt Miriam Lenz

Porträt Miriam Lenz

Zusätzlich ist ein kurzes Videointerview zum Projekt entstanden, realisiert von Studierenden des BA Intermedia an der Universität zu Köln:

1 Kommentar
  1. Maria sagte:

    Nach dem Beitrag finde ich es auch gut, dass Paragraph 219a gestrichen wurde. Ich bin seit zwei Wochen schwanger und bin nach langer Überlegung zum Entschluss gekommen, eine Abtreibung machen zu lassen. Hoffentlich finde ich schnell eine gute Praxis, die mir weiterhelfen kann.

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