Die unbekannten Gesichter hinter dem Bauzaun

Baustellen: Laut, dreckig und der Grund, weshalb wir häufig wochenlang im Stau stehen. Wir begegnen ihnen täglich und nehmen sie doch nie wirklich bewusst wahr. Aber wer sind eigentlich die Menschen, die schier unscheinbar das Stadtbild verändern? Filmproduzentin Janine Baumeister möchte auf genau diese Menschen mit „Augen auf Beton“ aufmerksam machen, die Anonymität aufbrechen und den Arbeiter*innen Berlins ein Gesicht geben. Großformatig gedruckt und an Häuserfassaden und Bauzäunen befestigt, findet man die Fotografien in der Stadt verteilt und im Internet, wo sie durch einfühlsame Videos ergänzt werden. Das Online- und Offlineprojekt ist für den Grimme Online Award 2023 in der Kategorie “Spezial” nominiert. In Interview berichtet Janine Baumeister, Initiatorin des Projekts, über die Entstehung ihrer Idee, deren Entwicklung und auch ihre Zukunftsvisionen.

Screenshot des Angebots

Screenshot „Augen auf Beton“

Mit deinem Porträtfoto-Projekt „Augen auf Beton“ möchtest du die Anonymität der Großstadt aufbrechen und den Arbeiter*innen der Baustellen Berlins ein Gesicht geben. Wie entstand die Idee dafür?

Janine Baumeister: Die Idee entstand, weil mein Büro mitten in einer Baustelle war oder eigentlich immer noch ist. Ich bin mittlerweile umgezogen und wieder inmitten einer Baustelle. Ich glaube, die Baustelle ist irgendwie seit vielen Jahren ein großer Begleiter geworden. Dadurch, dass ich in meinem Beruf sehr viel telefonieren muss und dabei häufig am Fenster stehe, konnte ich immer dem Treiben auf der Baustelle zugucken. Jeden Morgen musste ich mir einen neuen Weg durch die Baustelle bahnen und habe gemerkt, wie bei mir eine Diskrepanz entstand. Irgendwie habe ich diese Baustelle verflucht, weil sie nicht enden wollte. Gleichzeitig habe ich aber die Menschen dort gesehen. Man begrüßte sich irgendwann, war sich erst fremd, aber dann doch nicht mehr ganz so fremd. Irgendwie war man gemeinsam gefangen hinter diesem Bauzaun.

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Ich fand diese Menschen, die ich aus meinem Büro auf der Baustelle sehen konnte, total spannend, so unterschiedlich sie auch waren. Wenn ich vor den Bauzaun getreten bin, habe ich gemerkt, dass die Menschen dahinter nicht mehr sichtbar waren. Wenn sie dann doch einmal gesehen wurden, dann meistens in einem negativen Kontext. Zum Beispiel im Supermarkt: mittags, wenn die meisten Bauarbeiter*innen sich eine Cola oder einen Riegel gekauft haben, bildeten sie immer eine riesige Schlange an der Kasse. Alle anderen Leute waren total genervt. Nach dem Motto: „Jetzt kommen die Bauarbeiter wieder“.

Ich dachte, Wahnsinn, wie diese Stadt sich verändert. Wie sie durch die Arbeiter*innen ein komplett neues Gesicht bekommt, aber die eigentlichen Gesichter, die sie verändern, überhaupt nicht sichtbar sind. Das wollte ich verändern.

Was war der Grund, weshalb du das Projekt als Outdoor-Ausstellung gestaltet hast und nicht in einer Galerie? Würde das in Zukunft für dich eine Option darstellen?

Janine Baumeister: Es war ein Prozess. Es ist alles im Laufe des Projektes entstanden. Erst hieß es: „Du wirst auf keine einzige Baustelle kommen, da musst dich erst mit dem Polier gutstellen. Alle werden Angst haben, dass du rumschnüffelst“. Dabei wollte ich nicht rumschnüffeln, sondern die Menschen kennenlernen. Ab dem Zeitpunkt, ab dem ich auf die Bauarbeiter*innen zugegangen bin, waren sie wahnsinnig offen und herzlich. Alle. Egal in welcher Position.

Erst fing es mit den Porträts an, dann hieß es irgendwann: „Wir haben hier auch noch eine riesengroße Wand, vielleicht können wir daran gehen“. So ist die Idee entstanden zusätzlich an Hausfassaden auszustellen. Ich wollte eine Begegnung schaffen. Dort, wo die Arbeiter*innen sind. Am Bauzaun. An der Stelle, wo sie arbeiten.

Für die Porträts hast du als Filmproduzentin erstmals eigenständig zur Kamera gegriffen. Wie kam es dazu, dass du selber einen Blick durch die Linse werfen wolltest?

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Janine Baumeister: Tatsächlich habe ich lange überlegt, welche Kamerafrau oder welchen Kameramann ich mir zur Seite hole. Dann habe ich aber gemerkt, sobald ich selber nicht mehr direkt mit den Protagonist*innen spreche, verliere ich den Bezug. Alle Porträts sind entstanden, während ich mit den Bauarbeiterinnen gesprochen habe. Diese Gespräche waren oft sehr privat. Dasselbe gilt auch für die Aufnahmen. Häufig stand ich mit der Kamera ganz nah vor ihnen. Dann war klar für mich, das muss ich alleine machen. Es hat mir wahnsinnig viel Spaß gemacht.

Wie bist du bei der Wahl der Menschen, die du porträtiert hast, vorgegangen? War es einfach, Porträtwillige zu finden? Man kann sich gut vorstellen, dass es einige Menschen gibt, die nicht gerne vor der Kamera posieren.

Janine Baumeister: Begonnen hat alles mit Kamil Z. und Wojciech M. Die beiden wussten, dass ich erstmalig auf die Baustelle kommen werde. Ich war total aufgeregt. Beide waren bereit mit mir zu sprechen, wussten aber nicht, worüber.

Bei meinem ersten Gang auf die Baustelle wurde ich begleitet von Benjamin Kahlmeyer, meinem Kameramann (Anm.: zuständig für filmische Bildgestaltung). Der Tag war generell total absurd. Dort angekommen, kurz vor dem geplanten Treffen, fiel mir Mirjan M. auf. Er saß da in seiner Kluft mit dem Basketball, hat laut Musik gehört und geraucht. Ich meinte zu Benjamin: „Ich muss ihn ansprechen, das ist unglaublich. Der hat ein unfassbar interessantes Gesicht“. Und so ging das am allerersten Tag schon los.

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Als ich an diesem Tag über die Baustelle lief, habe ich ein Gespräch aufgeschnappt von Miri K. Beim Vorbeigehen hörte ich, wie sie ihrer Kollegin erzählte, dass es einen sexuellen Übergriff gab. Ich war nicht auf der Suche nach typischen Klischeebildern einer Baustelle. Es ergab sich einfach. Daraufhin habe ich sie angesprochen. Über Miri habe ich auch ihre Kollegin Denise G. kennengelernt. Sie hat mir die wahnsinnig spannende Geschichte über den Kampf gegen ihre Mutter, überhaupt auf dem Bau arbeiten zu dürfen, erzählt. So hat sich wahnsinnig viel auf dieser einen Baustelle ergeben.

Zeynep K. zum Beispiel ist von meiner „eigenen“ Baustelle, die vor meinem Büro. Sprich, ich habe sie täglich gesehen. Ebenso Sophie R. Sie ist mir aufgefallen, da sie wie ein blonder Engel durch diese Baustelle lief. Auf der Baustelle habe ich auch Bernard K. kennengelernt. So ging es dann immer weiter und vieles hat sich spontan ergeben.

Bei all meinen Begegnungen war der erste Impuls von allen immer: „Warum willst du mit mir sprechen? Ich war noch nie vor einer Kamera, ich habe noch nie über mich gesprochen. Wie soll ich mich bewegen?“ Ich habe dann immer erklärt, dass sie sich gar nicht bewegen, sondern wir einfach nur miteinander reden. Meine Interviews habe ich immer an dem Ort geführt, an dem ich sie dann auch fotografiert habe. Das waren immer nur ganz kurze Slots. Zeit ist auf einer Baustelle wahnsinnig kostbar. So eine Baustelle ist generell ein ganz eigener, geschlossener Kosmos. Ich war schon wirklich dankbar, dass ich in diesen Kreis reingelassen wurde. Nicht alle Baustellen machen da mit.

Warum hast du dich für Schwarz-Weiß-Aufnahmen entschieden? Welche Reaktion hoffst du damit, bei den Betrachtenden auszulösen?

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Janine Baumeister: Als Reaktion habe ich mir erhofft, dass Menschen stehen bleiben, wenn sie an den Bildern vorbeilaufen. Ich weiß nicht, ob es direkt am Schwarz-Weiß liegt. Es ist eher das Format, was wir gewählt haben. Irgendwann habe ich dann auch gemerkt, dass die Bilder wirklich sehr akkurat in einer Linie hängen müssen. Immer auf Augenhöhe. Das Prinzip der Augenhöhe haben wir wortwörtlich genommen. Irgendwann denkst du: „Mich guckt hier jemand an“.

Die Farbwahl Schwarz-Weiß, war ein Prozess, ich mochte das mehr. Es passte besser. Ich habe auch die Farbvariante ausprobiert, mich dann aber für Schwarz-Weiß entschieden, da die Bilder dadurch kraftvoller waren.

„Hinterm Zaun“ treffen unterschiedlichste Kulturen, Internationalitäten, Sprachen und Schicksale aufeinander, die man als Passant gar nicht wahrnimmt. Warum forderst du für dieses Projekt mehr Aufmerksamkeit?

Janine Baumeister: Ich habe gemerkt, dass Menschen, auch wenn sie sich nur kurz begegnen, sich gegenüber neuen Dingen öffnen können. Häufig wundern sie sich dann selber, wie verschlossen sie davor gegenüber einigen Themen waren. Ich habe das auch persönlich bei meiner zweiwöchigen Indoor-Ausstellung wahrnehmen dürfen. Mir war es total wichtig, so viele Reaktionen wie möglich zu sehen, deshalb war ich fast täglich dort. In dem Moment, in dem sie vor den porträtierten Gesichtern standen und die dazugehörigen Texte der einzelnen Schicksale durchgelesen haben, wurden die zuvor unsichtbaren Menschen nahbar.

Zum Beispiel Wojciech M., dieser kam in der Zeit, in der ich ihn porträtiert habe, jeden Tag aus Polen zu seiner Arbeit auf der Berliner Baustelle gefahren. Wojciech M. kennt mittlerweile fast jedes Museum in Deutschland, da er schon in so vielen unterschiedlichen Städten gearbeitet hat. Solche Dinge verbindet man vielleicht nicht als allererstes mit einem solch robusten Beruf. Nein, dieser Bauarbeiter, der tagsüber im Dreck arbeitet, geht in seiner Freizeit gerne ins Museum.

Remo F. hat mit mir wahnsinnig offen über seine Zeit als Krimineller geredet. Ihm war es wichtig, seine kriminelle Vergangenheit zu beleuchten und die Chance, die er durch die Arbeit auf der Baustelle erneut bekommen hat. Ich wollte die Vielfalt auf der Baustelle zeigen Frauen wie Männer, die aus verschiedensten Nationen kommen.

Wir haben auch Milan M., der 8 Sprachen spricht, weil er 7 Jahre in verschiedenen Flüchtlingsheimen gelebt hat. Genau diese Diversität auf der Baustelle wollte ich eben mit den porträtierten Menschen zeigen. Wie vielfältig es doch ist, wer da alles so dahintersteckt und mit welchem Antrieb sie auf den Baustellen arbeiten. Alle haben sehr respektvoll und bewundernd von ihrer Arbeit gesprochen. Das fand ich total schön.

Welche Reaktionen hoffst du, bei den Betrachtenden auszulösen und welches Feedback hast du bis dato erhalten?

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Janine Baumeister: Erhofft habe ich mir, dass die Betrachtenden sich auf die Begegnung einlassen. Als Filmproduzentin steht man ja eigentlich immer ein bisschen im Hintergrund. Es kannte ja niemand meinen Namen. Erstmalig viel Aufmerksamkeit und Feedback hat es für das Mural (engl. Für Wandmalerei) von Mirjan M. auf dem nun abgerissenen AOK-Gebäude in Schöneberg, gegeben. Bei den ersten Ausstellungen war die Presse noch sehr verhalten. Sprich, wir haben für die Indoor-Ausstellung gar nicht wirklich Presse gehabt. Hauptsächlich zog das Projekt im Vorbeigehen die Aufmerksamkeit der Leute auf sich. Ich glaube, ich habe keine einzige negative Reaktion bekommen. Im Gegenteil. Ich glaube, die schönste Reaktion war, dass das Projekt sehr positiv angenommen wurde.

Die Besucher*innen der Ausstellung sind teilweise sehr lange geblieben. Sie haben alle Filme angeguckt und sich die dazugehörigen Texte durchgelesen. Häufig kamen danach ganz viele Leute mit ihren Geschichten zu mir und sagten: „Ich bin auch unsichtbar, mach mich sichtbar!“. Das ist ein bisschen mein Impuls, da weiterzumachen und vielleicht den Kosmos zu erweitern. Nicht nur auf der Baustelle bleiben, sondern noch anderen Menschen ein Gesicht geben.

Du bist durch das Erstellen dieses Projektes sicherlich auf viele unterschiedliche Geschichten gestoßen. Welche blieben in besonderer Erinnerung?

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Janine Baumeister: Das ist so schwer zu beantworten. Sie sind alle sehr besonders. Besonders sind vor allem die Geschichten der jüngeren Menschen, die noch ihren Weg machen werden. Auch die Geschichte des Ältesten (Wilfried R.). Ich habe in meinen Interviews immer dieselbe Frage gestellt: „Wo siehst du dich in 5 bis 10 Jahren?“ und seine Antwort war: „In der Kiste. Ich kann gar nicht mehr. Mein Körper ist kaputt von der Baustelle“. Das ist mir schon auch sehr nahe gegangen. Natürlich bin ich auch wahnsinnig gespannt, wie zum Beispiel Zeyneps Weg weitergeht. Wird sie die Baustellenleitung übernehmen?

Nahegegangen ist mir auch Mirjan M., der auf dem Mural zu sehen war. Zur Eröffnung der Ausstellung ist er ebenfalls gekommen und sah ganz anders aus. Zwei Wochen, nachdem ich das Porträt von ihm geschossen habe, hatte er einen Schlaganfall. Sein Gesicht war zur Hälfte gelähmt. Er kam dann irgendwann zu mir und sagte: „Du hast das letzte Bild mit Falten von mir gemacht“. Das ist mir auch schon sehr nahe gegangen. Das Leben schreibt seine ganz eigene Geschichte und wir haben einen ganz besonderen Moment eingefangen. Mit den meisten habe ich noch ein bisschen Kontakt und es ist immer wieder schön zu hören, wo sie jetzt gerade im Leben stehen.

Soll das Projekt in Zukunft fortgeführt werden? Wenn ja, wie?

Janine Baumeister: Ja, ich glaube schon. Ich würde mich freuen. Ich weiß nicht, ob es noch „Augen auf Beton“ heißen wird. Gerne würde ich noch mehr Sichtbarkeit in der Gesellschaft schaffen. Ich habe gemerkt, dass, sobald Menschen sichtbar werden, sie sich öffnen. Dabei entstehen Begegnungen und Gespräche, die sehr wertvoll sind. Unsere Gesellschaft muss mehr aufeinander zugehen, sich zuhören und einander sehen. Vor allem aber friedlicher miteinander leben.

Das Interview führten Ariadni Gkioura und Carina Springborn. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang “Mehrsprachige Kommunikation” an der TH Köln.

Foto von Janine Baumeister bei der Bekanntgabe der Nominierungen zum Grimme Online Award 2023 am 28. April im Herbrand’s in Köln im Rahmen der c/o pop Convention.

Foto von Janine Baumeister bei der Bekanntgabe der Nominierungen zum Grimme Online Award 2023 am 28. April im Herbrand’s in Köln im Rahmen der c/o pop Convention. | Foto: Arkadiusz Goniwiecha / Grimme-Institut

Zusätzlich ist ein kurzes Videointerview zum Projekt entstanden, realisiert von Studierenden des BA Intermedia an der Universität zu Köln:

1 Kommentar
  1. Otto sagte:

    Wojciech M. zeigt uns wirklich die unbekannten Gesichter hinter dem Bauzaun. Seine Erfahrungen und Erlebnisse in den verschiedenen Städten und Museen Deutschlands eröffnen eine ganz neue Perspektive auf die Welt der Bauarbeiten. Ein Bauzaun wird oft nur als störend und hässlich wahrgenommen, aber die Menschen dahinter haben ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Es erinnert uns daran, dass hinter jedem Bauzaun hart arbeitende Menschen stehen, die unsere Städte und Gebäude formen.

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