Das Ende vom ewigen Eis: ein Klima-Krimi
Weit entfernt von Europa passiert gerade etwas, das enorme Konsequenzen für die Menschheit haben kann: Die Antarktis schmilzt und der Thwaites-Gletscher droht zu kollabieren. Der daraus resultierende Meeresspiegelanstieg würde Küstenregionen weltweit betreffen. Mit dem Scrollytelling „Das Ende vom ewigen Eis“ vom Magazin des Schweizer Tagesanzeigers werden in acht Kapiteln die Geschichte des Gletschers und die Arbeit der Forscher*innen erlebbar gemacht sowie komplexe Sachverhalte anhand von Grafiken, Karten und Bildern erläutert. Nominiert für den Grimme Online Award 2023 in der Kategorie „Wissen und Bildung“.
Was waren Ihre Beweggründe, um über den Thwaites-Gletscher zu berichten?
Christof Gertsch: Es war eine Meldung. Unsere Texte sind im Herbst 2022 erschienen und die Meldung hat im Herbst 2021 die Runde gemacht. Da hieß es, dass es in der Antarktis einen Gletscher in der Größe Floridas gibt, das entspricht fünfmal der Schweiz. Es war irgendwie unvorstellbar und sehr weit weg. Dazu kam die Aussage: „er bricht auseinander und wird den Meeresspiegel massiv ansteigen lassen“. Diese alltägliche Meldung blieb uns im Kopf und wir wollten einfach mehr wissen. Zuerst wollten wir den Gletscher portraitieren, haben das dann verworfen und die Geschichte des Gletschers durch die Menschen erzählt, die ihn erforschen.
War es einfach für Sie mit Interviewpartner*innen, z.B. Forscher*innen, in Kontakt zu treten?
Mikael Krogerus: Forscher*innen sind total zugänglich, offen und sie wissen, dass dieses Thema Öffentlichkeit braucht. Wir sind bei einer Person gestartet und das wurde unser Anker-Gesprächspartner, zu dem wir immer wieder zurückkehrten und dann beendeten wir jedes Gespräch mit der Frage: „Mit wem finden Sie sollten wir sonst noch sprechen?“. So haben wir uns von einer zur anderen Person gehangelt, es entstanden Miniportraits dieser Forscher*innen, die diesen Gletscher besser kennen als jede*r andere. Es fiel auf, dass obwohl der akademische Betrieb wahnsinnig kompetitiv ist, alle sehr großzügig untereinander waren und auch bescheiden. Es wurde mehrfach betont, dass sich andere Kolleg*innen besser auskennen oder mehr wissen. Im ersten Moment dachten wir: „Schade, dass da niemand so starre Thesen raushaut“, bis wir verstanden haben, dass es nicht um coole Schlagzeilen geht, sondern wirklich zu verstehen, was es mit diesem Gletscher und dessen Abschmelzen auf sich hat.
Gibt es Möglichkeiten das Schmelzen des Gletschers zu verlangsamen bzw. was könnte man tun?
Mikael Krogerus: Nein, es ist nicht aufzuhalten. Das ist einer dieser berühmten Kipppunkte. Eine Schwelle wurde überschritten, das ist nicht mehr rückgängig zu machen. Das Einzige, was man jetzt noch machen kann, ist zum einen herauszufinden, wann genau dieser Gletscher so weit abschmelzen wird, dass der Rest der Westantarktis nachrutscht und diesen Meeresspiegelanstieg verursacht und zum anderen dieses Nachrutschen und Abschmelzen zu verlangsamen, indem man die Klimaziele einhält.
Christof Gertsch: Auf den Meeresspiegelanstieg kann man sich vorbereiten, das muss nicht zwingend etwas Tödliches bedeuten. Darum ist es so wichtig, diesen Gletscher und die ganze Westantarktis, überhaupt die ganze Antarktis noch besser zu verstehen, damit man einen Zeithorizont bzw. eine Vorstellung davon hat, wann wie viel Wasser nachkommt. Diese Untersuchungen der Zusammenhänge zwischen den äußeren Einflüssen und dem Verhalten des Gletschers sind die Hauptaufgaben der Forscher*innen.
Denken Sie, es hätte eine Möglichkeit zum Schutz der Antarktis bzw. der Gletscher gegeben, wenn man John Mercer früher ernst genommen hätte?
Mikael Krogerus: Das ist eine sehr hypothetische Frage, aber ich glaube die Antwort darauf ist Ja. Hätte man damals seine visionäre Beobachtung ernst genommen und bereits in den 70ern gesagt: „wir müssen die fossile Verbrennung stoppen“, dann wären wir heute an einem anderen Punkt. Im Prinzip würden wir unsere Klimaziele erreichen, wenn der Verbrauch dem von 1978 entsprechen würde, was ungefähr dem Zeitpunkt von Herrn Mercers Beobachtungen entspricht. Von daher kann man sagen, es hätte einen Impact gehabt. Zugleich hat er seine These oder sein Paper damals in einem Moment publiziert, in dem die ganze Welt auf fossile Energie aufgesprungen ist und es das größte Glück war ein Auto zu fahren und fliegen zu dürfen. Deshalb war seine Aussage sehr unpopulär. Es dauerte 15 oder 20 Jahre, bis andere Forscher*innen ihm Recht gaben und weitere Untersuchungen folgten.
Warum haben Sie sich für die Erzählweise des Scrollytellings entschieden?
Christof Gertsch: Als Reporter eines Magazins denken wir zuerst an den Text. Wir haben eine tolle Interaktiv- oder Scrollytelling-Abteilung, zwei tolle Teams für Podcast und Video und wir haben schon recht früh verstanden, dass das hier ein Thema sein könnte, was online besser funktioniert als in Print. Unser Team traf sich im Frühjahr 2022, ungefähr ein halbes Jahr vor Publikation, zum ersten Mal. Wir wussten, das wird eine lange Geschichte, aber eine, die unbedingt auch noch auf andere Art erzählt werden muss, da manche Dinge in reiner Textform schwierig zu erklären sind.
Hat es Ihnen Angst gemacht, als Sie erfuhren, dass uns eine solche Katastrophe bevorsteht?
Mikael Krogerus: Die Dimension, was da passiert, habe ich bis heute nicht wirklich verstanden. Äußerungen wie: „Der Meeresspiegel steigt um eineinhalb Meter“, klingen eher harmlos, aber die Bedeutung dahinter ist immens. Es ist extrem schwer vorstellbar und je mehr wir recherchierten und wussten, desto größer wurde das Unbehagen, zumindest bei mir als Rechercheur. Dem gegenüber stand aber diese Gelassenheit und das Urvertrauen der Forscher*innen. Ich habe mich mehrfach an die Aussage von Herrn Levermann erinnert. Er sagte: „An Meeresspiegelanstieg muss man nicht sterben“. Man muss einfach rechtzeitig reagieren. Es gibt ganz viele Probleme, Flüchtlingsströme, Kulturdenkmäler verschwinden, ganze Städte verschwinden, aber man kann sich vorbereiten und darauf reagieren. Durch diesen Meeresspiegelanstieg wird sich die Welt verändern, was schlimm ist, aber zugleich hatte keiner dieser Forscher*innen einen Fatalismus oder ein Weltuntergangsszenario im Kopf und diese Zuversicht fand ich beruhigend. Aus der Recherche ging ich eher mit dem Gedanken: „ok, ich verstehe besser was passieren wird“ heraus, als zu denken „die Welt geht jetzt unter“. Natürlich sind die Konsequenzen extrem. Millionen oder Milliarden Menschen werden sich bewegen, aber das könnten wir theoretisch lösen, auch wenn es eine gewaltige Operation ist.
Christof Gertsch: Ja, aber es schwingt auch Fatalismus mit. Natürlich sind die Veränderungen extrem, aber sie sind unausweichlich. Das spürt man auch bei den Forscher*innen. Sie haben verstanden, dass die Veränderungen kommen und es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns darauf vorzubereiten. Wir haben oft aus der Leser*innenschaft gehört, dass unsere Arbeit sehr starke Gefühle auslöst, für uns war das anders. Die Recherche dauerte ein Jahr, dadurch haben wir uns dieses Wissen häppchenweise angeeignet, während es von den Lesenden innerhalb von ein bis zwei Stunden konsumiert wird.
Würden Sie gerne eine Expedition begleiten bzw. diesen Gletscher live sehen?
Mikael Krogerus: Nein, aus dem einfachen Grund, dass ein Teil der Problematik damit zusammenhängt, dass Leute aus Europa anreisen, um sich solche Sachen anzuschauen. Uns war früh klar, wir müssen da nicht hin. Wir wollen für diese Recherche weder ein Flugzeug noch ein Schiff betreten, sondern mit den Leuten sprechen, die bereits dort waren und ihre Geschichte und Forschung erlebbar machen. Den Gletscher persönlich zu erleben wäre vielleicht faszinierend, aber angesichts der Dimension dieses Gegenstands, der Thematik, total deplatziert.
Christof Gertsch: Es steckt vielleicht eine journalistische Erkenntnis dahinter, im Sinne von: „man muss nicht immer alles selbst gesehen haben“. Gerade bei solchen Themen, weil wir all das, was uns die Wissenschaftler*innen erzählen, nicht in dieser Intensität und innerhalb dieses Zeitraums erfahren hätten können. Einige der Leute waren über zwanzigmal dort. An deren Erfahrungsschatz würden wir sowieso nicht rankommen, deshalb ist es unsere journalistische Herausforderung diese Leute erzählen zu lassen und ihre Geschichten dann so aufzubereiten, dass man dann als Leser*in etwas mitnimmt.
Wie sind Ihre Erfahrungen mit dem Klimawandel in der Antarktis? Denken Sie, dass es gut angekommen ist? Sie haben ja eben gesagt, dass es bei manchen Leser*innen starke Gefühle ausgelöst hat. Gibt es eine Reaktion, die Sie besonders überrascht hat?
Mikael Krogerus: Ich fand überraschend, im positiven Sinne, dass diese von uns ein bisschen befürchteten Klimaleugner*innen-Meldungen gegen Null gingen. Ich erinnere mich vielleicht an eine Zuschrift oder an einen Social-Media-Post, der uns erklärt hat, dass das alles total harmlos sei oder gar nicht stattfinde. Ansonsten hatte ich das Gefühl, es gibt ein großes Verständnis dafür, dass das, was da passiert, real, nicht mehr zu stoppen und wirklich menschengemacht ist. Ich vermute, dieses Verständnis verdanken wir vor allem der ganzen Klima-Awareness durch Fridays for Future und andere. Jetzt stellt sich noch die Frage, ob wir es schaffen, als Staatengemeinschaft so zu handeln.
Christof Gertsch: Unsere Arbeit an diesem Projekt war wahnsinnig aufwendig, es hat sehr viel Zeit und Geld gekostet und viele Menschen waren daran beteiligt. Es gab auch Stimmen, die unsere Arbeit nicht würdigten, weil es angeblich allgemein bekannt ist, dass es einen Gletscher gibt, der schmilzt. Doch der Glaube daran, beim Publikum Anklang zu finden, indem wir den Anspruch an uns selbst haben, die Geschehnisse besser zu verstehen und die Geschichte genauer zu erzählen, hat funktioniert. Das Feedback war sowohl inhaltlich als auch zahlenmäßig extrem. Unser Beitrag wurde mehrmals nachpubliziert. Zu sehen, was man erreichen oder bewegen kann, wenn man sich einer Sache wirklich annimmt, war sehr schön und überraschend.
Wie ist Ihr persönliches Fazit, nach Abschluss ihrer Recherche?
Christof Gertsch: Wir wollen unbedingt wieder mit diesem tollen Team zusammenarbeiten und es ist cool crossmedial zu arbeiten. Wir machen das nicht zum ersten Mal, aber haben das hier sehr exzessiv gemacht und es macht einfach Spaß. Eine Geschichte lässt sich so toll erzählen.
Mikael Krogerus: Ja, und ich glaube, dass es sich lohnt, sich mit Themen tiefer zu beschäftigen. Meldungen wie „Der Thwaites-Gletscher schmilzt ab“ sind schnell gelesen und man hört irgendeine Zahl, die den Meeresspiegelanstieg beschreibt. Aber um wirklich zu verstehen, was das heißt, lohnt sich die Vertiefung und ich würde auch alle Kolleg*innen dazu einladen oder auffordern sich nicht vor bereits erzählten Geschichten zu scheuen, sondern zu sagen, es lohnt sich noch mal genauer hinzuschauen.
Christof Gertsch: Es ist auch extrem interessant und eine schöne Erfahrung mit diesen Forscher*innen in Kontakt zu treten. Wir sind dankbar für ihre Zeit, die Mühe und Geduld, uns alles zu erklären.
Können Sie sich vorstellen in Zukunft weiter an dem Projekt zu arbeiten?
Mikael Krogerus: Alle Geschichten, die mich tief beschäftigt haben, bleiben irgendwie bestehen, wie eine alte Schulfreundschaft. Dem Thwaites und ein paar der Forscher*innen folge ich immer noch, weil es mich beschäftigt. Nochmal über den Thwaites schreiben? Vorstellbar, aber ich weiß nicht, ob wir das machen werden. Was wir aber sicherlich machen werden, ist weiterhin im Klimabereich zu recherchieren. Einmal angefangen, ist es wie die Pille bei Matrix, du kannst nicht mehr zurück und so tun, als ob es nicht wichtig wäre.
Christof Gertsch: Letztendlich macht es die Arbeit auch leichter, wenn man das Gefühl hat, sich mit etwas Relevantem zu beschäftigen.
Mikael Krogerus: Sobald man in die Tiefe geht, wird auch das meiste interessanter. Ich fand anfangs den interzirkularen Polarstrom und die physikalischen Grundlagen auch eher uninteressant, je klarer es dann aber wurde, desto spannender wurde es. Es war wie in einem Krimi. Diesen Moment will ich nicht missen.
Das Interview führten Franziska Seifert und Lena Woiczikowski. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang “Mehrsprachige Kommunikation” an der TH Köln.
Zusätzlich ist ein kurzes Videointerview zum Projekt entstanden, realisiert von Studierenden des BA Intermedia an der Universität zu Köln:
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«Wenn unsere Reaktionszeit länger ist als die Zeit, die wir noch haben, um die Katastrophe abzuwenden, haben wir die Kontrolle verloren.»
Jetzt, im 25ten jähr bemühen wir uns um die Wärmewende. Die Technik, die Konzepte und und der ökonomische Hintergrund wurde von vielen Menschen und Institutionen schon lange erbracht. Dennoch verweigert die Gesellschaft, kollektiv die Umsetzung.
Fast fühlt es sich an, als wären wir in fossiler Geiselhaft und kollektiv dem Stockholmsyndrom verfallen.
https://youtu.be/o9HK4ssW2m8?t=529