Anonymous: „Wir sind die vielen“
„Greetings citizens of the world, this is a message to Wladimir Putin from Anonymous.“ So beginnt die Kriegserklärung des Hacker-Kollektivs Anonymous an Wladimir Putin als Reaktion auf den Beginn des Ukraine-Krieges 2022. Aber wer genau hat Wladimir Putin den Krieg erklärt? Wer verbirgt sich hinter der Maske? Ein Journalist*innenteam macht sich auf den Weg quer durch Europa, um diese Fragen zu beantworten und nimmt uns in einem Podcast auf ihre Reise mit. Es kommt zu zwielichtigen Begegnungen und Geheimnissen, die nicht gelüftet werden wollen.
Legion. Hacking Anonymous, von rbb, NDR und Undone ist in der Kategorie „Information“ für den Grimme Online Award 2023 nominiert. Patrick Stegemann ist Journalist und Autor der Podcast-Doku-Serie. Im Interview erzählt er davon, wie die Idee zum Projekt entstand, wie die Reise durch die Cyberwelt auf den Spuren von Anonymous war und gibt einen Ausblick darüber, wie die Resonanz und die Zukunft des Projekts aussehen.
Im Intro Ihres Podcasts sagen Sie „We are Legion“, genau wie Anonymous in Ihrem Slogan, und der Titel „Legion. Hacking Anonymous“ lässt darauf schließen, dass Sie in diesem Podcast darüber berichten, wie Anonymous sozusagen gehackt wird. Was genau war Ihre Intention hinter Ihrer Titelwahl?
Patrick Stegemann: Die Idee hinter der Titelwahl war nicht, Anonymous zu hacken. Dazu würde uns auch das Know-how fehlen. „We are Legion“ ist bekannterweise ein Teil des Slogans von Anonymous und bedeutet übersetzt so viel wie „Wir sind die vielen“. Diese Idee und das Konzept, das dahintersteht, haben uns interessiert, weshalb es dann schließlich zum Teil in den Titel gefunden hat. Der „Hacking Anonymous“-Teil war da eher ein kleines Wortspiel und ein gewagter Versuch, Hacking und Anonymous in einen Satz zu bekommen. Es lässt die Frage aufkommen: Was hat Anonymous eigentlich gehackt? Und unsere Antwort ist ja: Anonymous hat den Aktivismus selbst gehackt.
Ihr Kollege, Herr Khesrau Behroz, hat bereits einen bekannten Podcast gemacht, bei dem es um Verschwörungstheoretiker*innen geht. Ihr jetziger Podcast beschäftigt sich nun mit Hacktivismus und Hacking. Das ist ein ziemlicher Themensprung. Was hat sie dazu bewegt über Anonymous zu berichten?
Patrick Stegemann: Ich finde, dass das eigentlich gar kein so großer Themensprung ist. Wir bewegen uns und leben in einer Welt, in der wir Recherche im Rahmen von Netzkultur und Internet ganz gut kennen. Netzkultur und Internet sind dabei Dinge, mit denen wir aufgewachsen sind und ich glaube, das verbindet letztlich auch beide Geschichten. Insofern sind es sogar zwei eigentlich ganz ähnliche Geschichten, auch wenn sie am Ende ganz anders funktionieren. Beide verbreiten sich im Internet und nehmen dadurch Fahrt auf.
Was war Ihre Intention bei diesem Projekt?
Patrick Stegemann: Wir wollten über eine Zeit berichten, in der das Internet eine Welt dargestellt, die wahnsinnig optimistisch war. Der Anfang von Anonymous zu Beginn dieses Jahrtausends war eine Zeit, in der man geglaubt hat, das Internet bringe uns große Freiheiten. Man dachte, dass das Internet zu einem Tool der Befreiung wird. Heutzutage haben wir diese Sicht und diese Einstellung eigentlich überhaupt nicht mehr. Gute Beispiele hierfür sind Donald Trump mit der Fake-News-Thematik oder die Probleme mit Hate-Speech in den vergangenen Jahren. Anonymous aber erzählt eine andere Geschichte, nämlich eine der Hoffnung und des Optimismus. In diesem Podcast wollten wir diese Geschichte auffassen und uns anschauen, was im Endeffekt daraus geworden ist.
In Ihrem Podcast wird deutlich, dass es häufig schwierig und kompliziert war an Informationen zu kommen und Ihre Quellen in vielen Ländern Europas verteilt waren. Was stellte bei dem Projekt die größte Herausforderung dar?
Patrick Stegemann: Wir haben uns in diesem Projekt mit einer Bewegung beschäftigt, die Anonymous heißt und auch gerne anonym bleiben will. Herausfordernd war zum einen, diese Anonymität zu wahren, weil wir natürlich niemanden in Gefahr bringen wollen. Zum anderen möchten wir Dinge herausfinden und mit Menschen sprechen. So eine Geschichte lebt schließlich davon, dass man mit Menschen spricht, ihnen begegnet und sie erlebt, um dann darüber berichten zu können. Diese beiden gegensätzlichen Punkte übereinander zu bringen hat die größte Herausforderung dargestellt. Insgesamt haben wir diese Herausforderung auch ganz gut gemeistert, da wir tatsächlich mit zentralen Köpfen im Hinblick auf Anonymous gesprochen und ein Gefühl dafür bekommen haben, was für Leute das sind und wer dahintersteckt.
Verdeckte Recherche hat ziemliche James Bond-Vibes und war sicherlich nicht ungefährlich. Hatten Sie zeitweise Bedenken, selbst in den Fokus von Anonymous zu geraten und gehackt zu werden? Gab es Momente, in denen Sie das Projekt abbrechen wollten?
Patrick Stegemann: Also letzteres nicht. Wir wollten das Projekt zu keinem Zeitpunkt abbrechen, da es dafür auch viel zu spannend war. Und ich bedanke mich für die James Bond-Vibes, die spüre ich absolut. Wir haben bei unseren Recherchen Sicherheitsvorkehrungen getroffen, um Risiken zu minimieren, aber wir hatten zu keinem Zeitpunkt Angst von Anonymous gehackt zu werden. Die größeren Bedenken hatten wir eher dabei, dass wir ins Visier russischer Desinformationskampagnen gelangen könnten.
In Ihrem Podcast geht es auch vor allem um die Kriegserklärung Anonymous‘ an Wladimir Putin und zahlreiche russische Ziele werden gehackt. Würden Sie diese Aktion zu dem häufig angesprochenen Hacktivismus zählen oder spielt Anonymous hier eine tragende Rolle als Kriegspartei?
Patrick Stegemann: Dass Anonymous sich selbst immer ein wenig als Kriegspartei verkauft hat, thematisieren wir ja in unserem Podcast. Ich glaube, auf diese Selbstproklamation sollte man aber nicht zu viel Wert legen. Anonymous ist ganz sicher keine Kriegspartei, auch wenn sie sich etwas darauf beschwören. Dieser Größenwahn gehört allerdings bei Anonymous dazu. Um eine Kriegspartei zu sein, fehlen ihnen ganz wesentliche Merkmale. Sie haben beispielsweise keine Staatlichkeit und auch keine Armee. Anonymous ist im Endeffekt eine Gruppe von Aktivist*innen, wobei das auch eine ganze Menge ist. In Situationen wie zum Beispiel der Beginn des Ukraine-Krieges fragen wir uns, was wir als Einzelne können tun, und Anonymous hat eine Antwort darauf gefunden.
Auf ihrem Höhepunkt 2011/2012 klang es so, als sei Anonymous ein deutlich kompakteres Netzwerk an Hacker*innen und heutzutage scheint es eine Art Logo zu sein – eine Identität die sich jede*r aneignen kann, auch wenn es sich dabei um keinen Anon handelt. Kann man also bei Anonymous heute von Anonymus 2.0 sprechen?
Patrick Stegemann: Ja, also das tun wir selber nicht, aber ich finde das ist eine ganz gute Analyse. Anonymous hat sich verändert, das stimmt. Es war damals eine sehr eindeutige Gruppe, die ein sehr klares Netzwerk gebildet hat, und die tatsächlich aus einem Freundeskreis entstanden ist. Das hängt natürlich auch an der Entstehung und Entwicklung eines Kollektivs. Heute ist Anonymous ein Label. Jede*r kann Anonymous sein. Wenn du sagst, ich möchte Anonymous sein, dann bist du Anonymous. Und das ist die größte Schwäche dieses Ansatzes, aber eben auch die größte Stärke.
Wie hat sich die eigene Einstellung zu und Ihr Bild von Anonymous durch Ihre Recherche verändert?
Patrick Stegemann: Ein Hacker bin ich dadurch jetzt nicht geworden. Es war aber eine ziemliche Reise, in der wir uns intensiv mit dem Thema Anonymous auseinandergesetzt haben. Ich habe mir zum Beispiel die Fragen gestellt: Wie cool ist das eigentlich? Ist das gerechtfertigt, was die da machen? Ist das gefährlich? Das sind Schritte, die man bei so einem Projekt durchläuft, die ich auch selbst emotional und intellektuell mitgemacht habe. Am Ende sind wir mit einer sehr wohlwollenden Einstellung, die wir auch als Herzenswärme bezeichnen könnten, Anonymous begegnet. Ich finde, insgesamt hat gerade dieser Ansatz eine Idee zu sein, die jede*r sein kann, etwas sehr Ermächtigendes.
Ihr Podcast ist jetzt bereits seit etwa einem halben Jahr online. Welche Resonanz haben Sie bislang erhalten?
Patrick Stegemann: Die ist wirklich überwältigend. Wir haben jetzt bereits 1,5 Millionen Hörer*innen – das ist für solch einen Podcast absolut bombastisch. Es ist schließlich ein sehr sperriges und nicht gerade einfaches Thema, da auch viel Geopolitik und Tech verhandelt werden. Anonymous ist jetzt auch nicht mehr das angesagteste Thema im Jahr 2022, als der Podcast erschienen ist. Ich finde, dass die Resonanz dafür sehr gut ist und darüber freuen wir uns sehr. Ich glaube, es gibt in Deutschland bis auf den Podcast „Cui Bono“ keinen anderen, der das erreicht hat, worauf wir auch stolz sind. Ebenso wie über die Nominierung für den Grimme Online Award natürlich.
Die Reportage hat insgesamt sechs Folgen. Planen Sie zukünftig noch weitere Folgen in einer zweiten Staffel oder könnten Sie sich vorstellen weitere Reportagen im Bereich Hacking und Cyberkriminalität zu machen?
Patrick Stegemann: Ja, das haben wir tatsächlich vor, unter anderem wegen der großen, sehr positiven, Resonanz. Wegen der vielen Hörer*innen, die wir gefunden haben, und wegen der Auszeichnungen ergibt es schon Sinn, das fortzuführen. Das Thema interessiert uns schließlich nach wie vor. Deshalb denken wir mit unseren Partnern NDR und rbb auch darüber nach, wie es weitergehen kann und ich denke, da wird man noch das ein oder andere von hören.
Das Interview führten Sarah Fuhrbach und Kimberley Gubitz. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang „Mehrsprachige Kommunikation“ an der TH Köln.
Zusätzlich ist ein kurzes Videointerview zum Projekt entstanden, realisiert von Studierenden des BA Intermedia an der Universität zu Köln:
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