Kultur bis der Arzt kommt
„Carmen“ auf der Couch, das Stadtmuseum am Schreibtisch. Während der Corona-Pandemie ging auf einmal ganz schnell, was früher unmöglich schien. Die Kulturinstitutionen waren geschlossen und wir konnten zu Hause sehen, was dort geboten wird. Einiges davon hat sich erhalten, wurde sogar noch erweitert, so dass es jetzt in den Vorschlägen zum Grimme Online Award gelandet ist. Eine Auswahl aus den Einreichungen in diesem Jahr rund um die Kultur.
Ab ins Theater – zu Hause
Schon 2009 war „Nachtkritik“ nominiert, ein umfassendes Portal für Theaterkritik. Auch sie mussten um ihre Existenz bangen, denn wenn die Theater zu sind, gibt es auch keine Theaterkritik. Also hat die Nachtkritik angefangen, alte und aktuelle Vorstellungen zu streamen. Inzwischen ist daraus das Portal „Nachtkritik Plus“ entstanden, wo es unter anderem das performative Talk-Format „Decolonized Glamour Talks“ gibt, aber auch vieles andere. Auch das „Theater der Klänge“, ein Ensemblekollektiv für Musik- und Tanztheater aus Düsseldorf hat sich kreativ im Netz ausgetobt. In ihren Stücken orientieren sie sich stark am Bauhaus (der Kunstschule, nicht dem Heimwerkermarkt) und so haben sie jetzt ein virtuelles Theaterhaus gebaut, das Walter Gropius 1927 für den Theatermacher Erwin Piscator entwarf, das aber nie in der Realität entstanden ist: Das Totaltheater. Hier kann man Vorstellungen besuchen, Workshops machen oder etwas über Oskar Schlemmer lernen. Selbst kreativ werden können die Nutzer*innen in der App „European Silk Road“ und dort Videos, Gedichte, Musik, Tonspuren oder auch Werke der bildenden Kunst verortet auf einer Europakarte hochladen.
Nöliger Literaturnobelpreisträger
Die einfachste Möglichkeit, sich über Kulturthemen zu äußern oder gar eigene Werke zu veröffentlichen, bieten sicher die sozialen Medien. Das wusste schon Literaturnobelpreisträger Thomas Mann! Seinen Twitter-Account hat er allerdings erst seit April 2022 – und ganz Twitter-typisch lässt er dort meist seiner schlechten Laune freien Lauf, drückt sich aber gewählter aus. „Verstimmung wegen des Hundes, der sich andauernd […] feindselig gegen mich verhält […].“, schrieb er am 3. Februar – ganz ohne Hundefoto. Hinter dem Account steckt der Literaturwissenschaftler Felix Lindner, der für seine Dissertation die Tagebücher Thomas Manns durcharbeitete und das ewige Gejammer nicht mehr alleine ertragen wollte. So schafft der Twitter-Account hohes Identifikationspotential mit Sätzen wie: „Große Abneigung, nachmittags noch irgend etwas zu tun.“
Kunst mit Humor
Diese Abneigung scheint Jakob Schwerdtfeger nicht zu verspüren, füllt der Kunsthistoriker doch diverse Social-Media-Kanäle (und Bühnen) mit seiner Kunst-Comedy. Auf TikTok, Instagram und YouTube macht der „Kunstjunkie“ kurze Videos, in denen er auf amüsante Weise Hintergründe zu Kunstwerken und Kunst erläutert – zum Beispiel, warum es ohne die Malerei keine Zahnpastatube gäbe. Wissen über Kunst vermittelt auch der Instagram-Kanal „Das ist also Kunst“ von ZDFkultur. Die verschiedenen Presenter*innen haben unterschiedliche Schwerpunkte: kunsthistorische Hintergründe, Debattenthemen, kleine Sketche und DIY. Neben den Reels gibt es informative Faktenposts, aus denen auch Museumsgänger noch was lernen können. Im Team von „Das ist also Kunst“ ist Jette für die DIYs zuständig. Das macht sie auch auf ihrem eigenen YouTube-Kanal: Sie probiert in Kunst-Challenges Techniken, die sie noch nicht beherrscht, kleidet sich als Kunstwerk oder malt im Stil berühmter Künstler. Auf dem Kanal gibt es auch längere Dokumentationen, zum Beispiel über Monet oder die Mona Lisa. Schweres Kontrastprogramm zur feingeistigen Jette ist Ostrocker Paule Pond, der auf seinem Kanal „KultUlk“ über seine Ost-Rock Vergangenheit plaudert und uns mit in die Musikszene der DDR nimmt.
Klassisch in der Form, zeitgemäß im Inhalt
Die Nominierungskommission freut sich aber auch immer noch über das gute alte Blog mit vertiefenden Informationen und durchaus längeren Texten. Das gibt es zum Beispiel in der „Kunstarztpraxis„. Dr. Thomas Köster macht Hausbesuche in Ateliers und Operationen in Museen – will meinen: er veröffentlicht in seinem Blog Besprechungen, Interviews und Fotos rund um die Kunst in NRW. Mitnichten nur um Bücher geht es im Gruppen-Weblog „54 Books„. Es geht auch um Kunst, um Filme, um Musik, es gibt eine Social-Media-Benimmkolumne oder eine Finanz-Kolumne. Es gibt Essays, Gespräche und Sperriges – ein Feuilleton im Internet eben. Um Filme geht es im Blog „Die Nacht der lebenden Texte„. Seit zehn Jahren schreiben hier mehrere Autor*innen über das, was es im Kino, auf DVD oder im Stream zu sehen gibt. Dabei werden eher die Fans von Action und Horror fündig, als die des ruhigen Liebesfilms, aber eine Kategorisierung nach Genres erleichtert die Suche im umfangreichen Archiv.
Hören statt Sehen
Beliebt sind Filme auch als Sujet für Podcasts – das Format, das derzeit am stärksten im Wettbewerb vertreten ist. In „Cuts“ spricht Journalist Christian Eichler ausführlich mit wechselnden Personen über einzelne, oft aktuelle Filme, Serien oder übergreifende Themen rund um den Film. Steady-Mitglieder erhalten zusätzlich mehrstündige Special-Folgen. „I went to films“ bezieht sich ganz bewusst nicht auf aktuelle Filme, denn aus dem Kino würden Markus und Martin wohl rausfliegen. Sie kommentieren, während sie den Film sehen – in Echtzeit. Und wer zu Hause den Film zur gleichen Zeit startet, sieht auch noch das Bild dazu. Nicht dem Bild sondern dem Ton zum Bild widmet sich „Score Snacks“ – von Pink Panther über Ben Hur bis zu Rocky erklärt SWR 2 Musikredakteur Malte Hemmerich in ganz kurzen Folgen, wie die Musik zur Stimmung beiträgt und warum sie uns im Ohr bleibt.
Feuilletonthemen als Podcast
Film ist auch ein Anknüpfungspunkt für den Podcast „Winnetou ist kein Apache“ von MDR Kultur. Autor Ben Hänchen ist Kulturjournalist, aber auch seit seiner Kindheit bei den Karl-May-Spielen in Bischofswerda dabei. Sein Vater ist der Gründer. Nun fragt sich Ben, ob Karl-May-Spiele noch zeitgemäß sind oder abgeschafft gehören. Der Podcast zeigt, wie sich eine gesellschaftliche Debatte auf eine sehr persönliche Ebene holen und von allen Seiten beleuchten lässt. Das macht auch „Akte Raubkunst“ von ARD Kultur. Helen Fares erzählt in sechs Folgen die Geschichte von sechs Objekten in deutschen Museen, deren Spuren in die Kolonialzeit, an Ausgrabungsstätten und in Auktionshäuser führen.
Weitere Vorschläge
Schon so viele Kulturangebote! Wo dies alles ist, gibt es bestimmt noch mehr! Weitere Vorschläge zum Grimme Online Award können aber nur noch bis einschließlich 1. März 2023 eingereicht werden. Die Vorschlagsformulare gibt es hier.
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