Musik für gehörlose Kinder und Jugendliche

Ohne Gehör kann man nichts mit Musik anfangen? Doch! Der TikTok-Kanal “Sign & Sing” macht seit 2021 Musik für gehörlose Kinder und Jugendliche mit Gebärdensprache sichtbar. Und nicht nur das: Es werden auch Musikrichtungen vorgestellt und deren typische Merkmale erklärt. Das Projekt wurde von der gemeinnützigen Einrichtung „KOPF, HAND und FUSS“ ins Leben gerufen. Die Organisation besteht bereits seit 2011 und hat sich zur Aufgabe gemacht, mit der Umsetzung verschiedenster Projekte Inklusion zu fördern.

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Screenshot „Sign & Sing“

Sign & Sing ist für den Grimme Online Award 2022 in der Kategorie Kultur und Unterhaltung nominiert. Im Interview gibt Gründerin Stefanie Trzecinski einen Einblick hinter die Kulissen und verrät, was uns in Zukunft auf ihrem TikTok-Kanal erwartet.

In den Videos, die für Sign & Sing stehen, wird nicht nur Musik in Gebärdensprache übersetzt, sondern es werden auch unterschiedliche Musikrichtungen erklärt, etwa Rock ’n‘ Roll und Swing. Wie entstand die Idee zu diesem Projekt? Gab es einen konkreten Auslöser oder persönliche Hintergründe zur Schaffung dieses Projekts?

Wir übersetzen Musik in Gebärdensprache seit 2011. Damals haben wir mit Rolf Zuckowski in Berlin angefangen. Für und gemeinsam mit tauben Kindern haben wir seine Musik in Gebärdensprache übersetzt. Das war sehr toll und die Atmosphäre war immer gut. Wir haben das fast jedes Jahr gemacht. Im vergangenen Jahr saß ich mit Suli Puschban zusammen, die auch eine bekannte Kinderliedermacherin ist. Mit ihr haben wir auch einen Gebärdensong-Workshop gemacht, wo es darum ging, ihre Musik zu übersetzen. Rolf Zuckowski macht allerdings eine ganz andere Art von Musik als Suli Puschban. Wir haben davor auch mit Robert Metcalf gearbeitet, der wiederum andere Musik macht. Uns ist klar geworden, dass wir zwar Gebärdensong-Workshops machen, wo es um ein bestimmtes Lied geht, wir aber gar keine Hintergrundinfos über die Musikrichtung, Unterschiede zu anderen Liedern und Besonderheiten geben. Wenn man sich mit Musik auseinandersetzt, müsste diese Information eigentlich auch mit in die Gebärdensprache übertragen werden, um einen direkten Zugang zum Thema Musik zu ermöglichen. Was ist also Musik? Was macht Folk besonders? Was macht Rock ’n‘ Roll besonders? Woher kommt es eigentlich? Wer sind bekannte Künstler oder Künstlerinnen in dieser Musikrichtung? Diese Fragen kamen in einem Gespräch bei unserem Gebärdensong-Workshop mit Suli Puschban auf.

Nach welchen Kriterien suchen Sie die Musikerinnen und Musiker bzw. die Musikstile aus, die Sie vorstellen?

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Screenshot „Sign & Sing“

Wir hatten von Beginn an geplant, dass wir sechs Themen machen. Das war auch der Umfang der Förderung. Wir müssen immer schauen, woher wir das Budget bekommen, um unsere Projekte umsetzen zu können. Sechs Themen hatten wir eingereicht und diese sechs sind genehmigt worden. Rolf Zuckowski, Suli Puschban und Robert Metcalf hatten wir schon mal angefragt, weil wir bereits sehr gute Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit ihnen hatten und sie einen tollen Zugang zu Kindern und Jugendlichen haben. Wir wussten bereits, dass sie Herzensmenschen sind, mit denen wir gerne zusammenarbeiten wollen. Die weiteren Themen kamen dann durch Empfehlungen. Suli hat uns empfohlen, Jochen Wahle von Randale anzufragen. Er macht Punk-Musik, was natürlich ein super Thema für Kinder und Jugendliche ist. Da Oper ein aktuell immer beliebter werdendes Thema ist, kam Klassik noch dazu. Es gibt aber noch ganz viel, was uns fehlt, wie zum Beispiel Pop und Reggae. Wir sind noch lange nicht am Ende. Gerade sind wir auf der Suche nach weiteren Finanzierungsmöglichkeiten. Die erste Anlaufstelle waren aber Künstler und Künstlerinnen, die wir bereits kannten.

Unter den Social Media Kanälen gilt TikTok als das Portal für kreative Video-Beiträge. Inwiefern hat Kreativität eine besondere Bedeutung, wenn man wie das Team um Sign & Sing Musik für gehörlose Menschen sichtbar macht?

Ich muss ehrlich gestehen, dass die Förderung von TikTok kam. Deswegen war klar, dass wir es auf TikTok umsetzen. Die Videos sind auch auf YouTube. Für uns besonders war, dass wir uns auf kurze Zeiten fokussieren mussten, sprich: kein Fünf-Minuten-Video zum Thema „Was ist eigentlich Rock ’n‘ Roll?“. Für andere Medien hätten wir eine Art Erklärfilm gemacht, der mehr Inhalt enthält. Das geht in dem Format von TikTok nicht. Dort muss alles sehr kurz und punktuell sein. Was wiederum sehr spannend ist, auch für uns, Inhalte anders zu vermitteln. Das war natürlich eine Form der Kreativität. Außerdem war in der Arbeit an sich Kreativität gefragt, weil hörende Musiker und Musikerinnen gemeinsam mit tauben Performern und Performerinnen gearbeitet haben. Die Kreativität kam außerdem in der Zusammenarbeit, weil wir bewusst keine Dolmetscher engagiert hatten. Es ging uns viel mehr darum, wie beide Seiten interagieren, weil wir annehmen, dass Musik ein verbindendes Element ist. Ich finde, man sieht an den Videos total, wie gut die Zusammenarbeit geklappt hat und wie die Energie zwischen den hörenden und tauben Personen ist. Dieser Punkt hat auch noch mal eine Kreativität entfacht. Ich glaube auch, dass bei vielen hörenden Musikern und Musikerinnen dadurch noch mal eine neue Perspektive aufgetan wurde. Mit Robert Metcalf hatten wir davor schon zusammengearbeitet, sodass er die Situation schon kannte. Auch Suli Puschban war ganz begeistert und hat mitgemacht; sie lernt sowieso gerade Gebärdensprache. Das hat noch mal eine andere Form von Kreativität entwickelt, die man vielleicht vorher gar nicht in der täglichen Arbeit hatte.

Wo sehen Sie die Vorteile in der Nutzung von TikTok im Vergleich zu anderen Social-Media-Plattformen?

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Screenshot „Sign & Sing“

Hier gilt wirklich: In der Kürze liegt die Würze. So doof das klingt, aber sich auf eine kurze Zeit zu fokussieren, wirklich ganz schnell auf den Punkt zu kommen und nicht lange drum herumzureden, ist nicht einfach, macht aber natürlich viele Sachen sehr klar und deutlich. Dass wir mit diesem Format klare Informationen vermitteln, finde ich wiederum ganz schön. Es ist immer sehr eindeutig, was wir meinen. TikTok ist natürlich ein beliebtes Format für Kinder und Jugendliche. Da muss man als Erwachsener erstmal gucken, wie man dieses Format bedient. Ich bin jetzt schon etwas älter und finde es schön, wenn ein Format ein bisschen länger ist. Das ist natürlich auch eine Typfrage und hängt davon ab, was man gewohnt ist. Was wir für uns lernen mussten, ist das Schärfen einer Aussage. Das fand ich sehr spannend für uns bei unserem Lernprozess. Alle anderen Erklärvideos, die wir sonst machen, sind mindestens vier bis fünf Minuten lang.

Auch wenn Ihre Videos auf TikTok meist unter einer Minute liegen, ist der Zeitaufwand dahinter bestimmt wesentlich höher. Wie gestaltet sich in etwa der Prozess der Videoerstellung bis hin zur letztendlichen Veröffentlichung? Wie groß ist in etwa der Zeitaufwand für ein Video?

Wir haben pro Themengebiet jeweils acht Fragen bearbeitet und pro Frage waren es oftmals mehrere Videos. Wir haben zum Beispiel die Lieder eingespielt und gebärdet. Da gab es dann ein Lied und mehrere Videos. Ich glaube, für das gesamte Lied waren es vier bis fünf Videos. Es war ganz unterschiedlich. Manchmal ging es schnell, manchmal ging es langsam. Was wir gemacht haben, und das ist ein bisschen untypisch für TikTok, ist, dass wir sehr viel designmäßig gestaltet haben: Wir haben Hintergründe ausgetauscht, mit Grafiken gearbeitet, untertitelt, Tonspur und Melodie visualisiert, sodass man die Höhen und Tiefen sowie die Schnelligkeit sieht. Wir haben sehr viel im visuellen Bereich gemacht. Normalerweise würde ich bei TikTok das Handy nehmen und ein Video erstellen. Wir haben im Studio gedreht, Mikrofone genutzt und all so was. Es war schon viel Aufwand. Ich glaube, viele sind bei uns hängen geblieben, weil wir so untypisch sind. Wir haben manchmal wenig Reichweite, manchmal viel Reichweite. Der Aufwand war aber schon groß. Ich kann das gar nicht in Stunden oder Tagen beziffern, aber eher viele Tage.

Das Projekt Sign & Sing ist eines von inzwischen vielen Projekten, die Ihr Unternehmen KOPF, HAND und FUSS realisiert hat, um Teilhabe von Menschen jeder Voraussetzung voranzubringen. Sie haben das Unternehmen ursprünglich parallel zu ihrer Tätigkeit als Microsoft-Managerin aufgebaut. Was hat Sie dazu bewegt, KOPF, HAND UND FUSS zu ihrer Haupttätigkeit zu machen?

Ich habe KOPF, HAND UND FUSS im Jahr 2010 gegründet. In 2013 habe ich entschieden, bei Microsoft aufzuhören und nur noch KOPF, HAND UND FUSS zu betreiben. Ich habe sehr gerne bei Microsoft gearbeitet, hatte aber in 2013 ein perfektes Jahr. Mein Team brauchte mich also nicht mehr und ich war überflüssig. Ich hatte meine Ziele erreicht und alles war gut. Solche Punkte, wo man wirklich keine Baustellen mehr hat, sondern alles gut läuft, gibt es selten. Mir hat die Arbeit für KOPF, HAND UND FUSS immer sehr viel Spaß gemacht, doch für größere Projekte hätte ich damals keine Zeit gehabt. Die Zeit und der Raum im Kopf haben mir gefehlt, um neue Ideen zu entwickeln. Ich habe mir sieben Jahre Zeit gegeben, um zu sehen, ob es wirklich funktioniert. Hätte es nicht funktioniert, hätte ich KOPF, HAND UND FUSS aufgelöst und etwas Anderes gemacht. Ich wollte aber versuchen, meine Leidenschaft zur Arbeit zu machen und meine eigene Utopie aufzubauen.

Jetzt machen wir vieles über KOPF, HAND UND FUSS. Unter anderem haben wir in 2017 in Berlin ein Coworking Space eröffnet, wo Menschen mit und ohne Behinderung arbeiten. Das Thema Behinderung ist nicht das Oberthema, sondern man kommt dorthin zum Arbeiten. Es ist ein Miteinander von unterschiedlichsten Personen mit den unterschiedlichsten Perspektiven. Das ist schön, weil ich denke, dass die Gesellschaft eigentlich so sein sollte, ohne geteilte Gruppen, sondern alle miteinander. All unsere Tätigkeiten zielen auf ein Miteinander ab. Ich lebe in meiner kleinen Utopie, wie ich mir eigentlich die Gesellschaft wünsche.

Auf Ihrer Website sind weitere zahlreiche Projekte aufgelistet. Was unterscheidet
Sign & Sing von Ihren anderen Projekten?

Wir haben viele Bereiche, in denen wir tätig sind. Wir machen viel für taube Personen. Hauptsächlich machen wir digitale Projekte und dazu zählt auch Sign & Sing. “Gebärden Grips” geht in die gleiche Richtung. Das ist eine Wissensplattform für taube Kinder, auf der alles in Gebärdensprache übersetzt ist. Sie war in 2017 auch für den Grimme Online Award nominiert. “DGS Ahoi” ist auch ein digitales Projekt, wo ein Gebärdensprachkurs für hörende Kinder angeboten wird, um das Miteinander zu verbessern. Wir machen in dem Bereich für taube Personen relativ viel, weil das meine eigene Biografie widerspiegelt. Das Thema war immer in meinem Leben präsent, weil ich selbst aus einer hörgeschädigten Familie stamme und selbst Schwerhörigen-Pädagogin bin. Wir merken auch, dass wir mithilfe der Digitalisierung bestimmte Zugänge verbessern können. Zum Beispiel mit unserer App “Irmgard”, die sich mit dem Thema Alphabetisierung von Erwachsenen auseinandersetzt. Wir entwickeln gerade auch eine inklusive E-Learning-Plattform, was spannend ist, weil es so etwas noch nicht gibt. Dabei haben wir uns gefragt, ob und wie lebenslanges Lernen für Menschen jeglicher Ausgangslage ermöglicht werden kann. Das war die große Fragestellung. Zusätzlich geben wir Workshops zum Thema “Umgang miteinander” in verschiedensten Bereichen. Wir beraten Institutionen und Firmen, wie sie selbst inklusiver werden können. Inklusion ist mehr als Barrierefreiheit. Wir wollen ein Miteinander auf Augenhöhe umsetzen: Produktentwicklung, Unternehmensstrukturen und Webseiten sind unsere Sparten, die alle zusammenlaufen, um ein besseres Miteinander zu erreichen. Sign & Sing tut genau das, indem es Musik als verbindendes Medium zwischen der Welt der Hörenden und der Welt der Tauben benutzt.

Wie ist das Feedback Ihrer User*innen? Gibt es ein Video, das besonders gut angekommen ist? Gibt es bei den User*innen einen Lieblingssong?

Rolf Zuckowski übertrifft alle. Mit 84.000 Views bei “Ich schaff das schon” auf TikTok, ist er eine Legende. Ich bin ein großer Rolf Zuckowski-Fan. Er hat eine große Gruppe von Followern, weshalb das Video besonders gut ankam. Wir bekommen bei allen sehr gute Rückmeldungen, weil das Thema Musik für hörende und taube Personen ein neuer Ansatz ist, mit dem wir umgehen. Für manche ist Rock ‘n‘ Roll eher ihre Musikrichtung, und für andere Folk mit Rolf Zuckowski. Rolf Zuckowski hat aufgrund seiner Bekanntheit das, was wir vorhatten, auf eine andere Ebene gehoben.

Verraten Sie uns, zu welchen Musikrichtungen wir die nächsten Videos erwarten dürfen?

Als nächstes kommt alles rund um die Oper. Wir sind jetzt auf der Suche nach weiteren Geldgebern, damit wir Videos zu weiteren Musikrichtungen entwickeln können. Was wir dann vorhaben, ist Soul, Pop, Reggae und Operette.

Das Interview führten Sarah-Ann Vivien Meleniak und Shannon Ann Ziesing. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang „Mehrsprachige Kommunikation“ an der TH Köln.

Sign & Sing

Stefanie Trzecinski (Sign & Sing).
Foto: Rainer Keuenhof / Grimme-Institut