Landshut77: Stimmen und Erinnerungen von Zeitzeugen
Am 13.10.1977 wurde die „Landshut“ auf dem Weg von Palma de Mallorca nach Frankfurt am Main mit über 80 Insassen entführt. Die Bilder der entführten Maschine auf dem Rollfeld vom Flughafen in Mogadischu gingen rasch um die Welt. Fünf Tage mussten die Geiseln in der Maschine verweilen, bis sie befreit werden konnten. Ihre Stimmen spielten im kollektiven Gedächtnis jedoch eine weniger große Rolle. Das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland möchte dies mit dem multimedialen Webangebot Projekt „Landshut77. Eine interaktive Dokumentation“ ändern: Den Betroffenen wurde die Möglichkeit gegeben, über die Erlebnisse aus ihrer Perspektive zu berichten.
“Landshut77. Eine interaktive Dokumentation” ist für den Grimme Online Award 2022 in der Kategorie „Wissen und Bildung“ nominiert. Im Interview erzählt Dr. Ruth Rosenberger, die Direktorin für Digitale Dienste bei der Stiftung Haus der Geschichte von der Entstehung der Idee, der Gestaltung der Website, den Interviews mit den Zeitzeug*innen sowie von deren Erlebnissen.
Die Flugzeugentführung der Lufthansa-Maschine Boeing 737-200 “Landshut” liegt nun fast 45 Jahre zurück. Wie kam es dazu, dass Sie die Ereignisse rund um die Landshut nun multimedial für das Web aufbereitet haben? Welche Zielgruppen möchten Sie damit erreichen?
Der Anlass für die Beschäftigung mit der Entführung und Befreiung des Passagierflugzeugs Landshut war, dass das Thema durch die Überführung des Flugzeuges aus Brasilien zurück nach Deutschland erneut aufgegriffen wurde. Außerdem gab es eine öffentliche Diskussion darüber, wie dieses Flugzeug ein Erinnerungsort werden könnte, um an die Opfer dieses Terroranschlages sowie an das erfolgreiche Verteidigen unserer Demokratie zu erinnern. Bisher ist in der Geschichte des Linksterrorismus und der Rote-Armee-Fraktion hauptsächlich auf die Täter*innen geschaut worden. Jedoch weder auf die Opfer und Geiseln, die in der entführten Passagiermaschine gesessen oder gearbeitet haben, noch auf diejenigen, die professionell an der Befreiung beteiligt waren. Außerdem sollen die vielschichtigen Erinnerungen dieser Menschen für die gesamte Öffentlichkeit sichtbar gemacht werden.
Die Geschichte der Landshut sowie das Erleben der Passagiere und Passagierinnen und der überlebenden Besatzung werden auf sehr kreative Art und Weise nähergebracht. Was war Ihnen bei der Gestaltung des Webangebots besonders wichtig?
Am allerwichtigsten war es, dass ein breites Publikum angesprochen wird. Wir sind davon ausgegangen, dass es kaum Vorwissen über die Geschichte des Linksterrorismus und der Bundesrepublik in den 70er Jahren gibt. Deshalb haben wir versucht, dieses Thema so aufzubereiten, dass ein Einstieg auch für diejenigen ermöglicht wird, die noch nie zuvor davon gehört haben, aber sich davon begeistern lassen könnten, ihr Wissen zu Geschichte zu erweitern. Aus diesem Grund haben wir uns für das Format einer „Scroll-Dokumentation“ entschieden, um damit diejenigen zu erreichen, die möglicherweise die Landshut-Entführung nicht mitverfolgt haben. Also jüngere Menschen oder Menschen, die zufälligerweise über historische Inhalte stolpern. Die „Scroll-Dokumentation“ verstehen wir dabei als interaktiven Dokumentarfilm, der online verfügbar ist und in dem man eigenständig navigieren kann, um auf unterschiedliche Weisen den Weg zu der Geschichte zu finden.
Während der Interviews mit den verschiedenen Zeitzeugen werden hin und wieder Zeichnungen von den beschriebenen Ereignissen eingeblendet. Wie kam es zu der Entscheidung, die geschilderten Situationen anhand von Illustrationen zu veranschaulichen?
Wir haben mit der Künstlerin Agnes Lammert zusammengearbeitet, die die Erzählungen der Zeitzeug*innen, wie ich finde, behutsam und künstlerisch ansprechend umgesetzt hat. So werden zusätzliche Zugänge zu den Erzählungen und Erinnerungen der beteiligten Menschen ermöglicht. Außerdem haben wir mit zahlreichen Visualisierungen gearbeitet, um das Thema visuell zu erfassen und es dadurch interessant zu gestalten. Unter anderem ist auf der Einstiegsseite eine Bild-Ikone zu sehen, an das sich zumindest einige noch erinnern können, da es den Zeitgenoss*innen medial übertragen wurde: ein Bild von der entführten Landshut, wie sie auf dem Rollfeld in der Hitze in Mogadischu steht. Anhand dieses Bildes konnte jedoch niemand sehen, was in dem Flugzeug eigentlich passierte. Denn das, was dort geschah, können nur diejenigen erzählen, die das Ganze miterlebt haben.
Ihr Team hat sich mit verschiedenen Zeitzeug*innen über die Flugzeugentführung unterhalten. Hatten Sie den Eindruck, dass es den Betroffenen noch immer schwerfiel, über das Erlebte zu sprechen?
Das kann man pauschal nicht sagen. Es ist sehr unterschiedlich, wie Menschen mit solchen Erlebnissen umgehen. Schaut man sich die einzelnen Interviews an, sieht bzw. hört und fühlt man das meiner Meinung nach manchmal auch. Für manche derer, die wir interviewt haben, ist das Erzählen heute noch Teil ihres Umgangs mit dem Erlebten. Teilweise merkt man, welche Bedeutung diese Erlebnisse für sie immer noch haben. Bezüglich der Interviews mit den Zeitzeugen bedarf es aus professioneller Sicht einer gewissen Vorbereitung, da es durchaus sein kann, bei einem solchen Thema auf Interviewpartner zu treffen, die durch das Erlebte traumatisiert sind. Allerdings haben wir auch ein Interview mit einer Person geführt, die als Geisel in der Maschine war und zum ersten Mal diesbezüglich ein öffentliches Interview gegeben hat. Wir waren sowohl vor als auch nach dem Interview mit diesem Zeitzeugen in Kontakt. Ihm war es sehr wichtig und er hat sich auch darüber gefreut, dass sein Beitrag Teil der Dokumentation ist. Uns hat das auch gefreut, weil es viel mehr war als ein Interview.
Wie liefen die Gespräche ab – gab es bestimmte Fragen, die die Betroffenen beantworten sollten oder waren es eher offene und freie Gespräche?
Es war eine Mischung aus beidem. Jedes der Interviews wurde individuell vorbereitet. Dabei gab es eine Art Frageleitfaden, da es natürlich bestimmte Themen gab, die uns interessiert haben. Allerdings waren einige Teile der Gespräche auch frei. Es wurde nicht dazu aufgefordert, bestimmte Dinge zu erzählen, sondern es wurde mit offenen Fragen wie „Woran erinnern Sie sich?“ oder „Wie ist es aus Ihrer Sicht verlaufen?“ gearbeitet. Außerdem gibt es einen Teil, der die individuelle biografische und lebensgeschichtliche Kontextualisierung der Interviewpartner umfasst. So kann man mehr über die Zeitzeugen vor und nach der Flugzeugsentführung erfahren. Denn bei Landshut77 geht es nicht nur um die fünf Tage während der Entführung und Befreiung, sondern es gibt zusätzlich einen großen redaktionellen dritten Bereich. In diesem wurden sechs Filme zusammengeschnitten, die sich aus unserer Sicht als „Zeitzeugen-Themen“ herauskristallisiert haben und in denen Erinnerungsräumen dieser Menschen nochmal besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird.
Schaut man sich weitere Videos mit den Zeitzeugen an, die auf Ihrer Seite nicht direkt gezeigt, sondern nur verlinkt werden, erhält man einige Informationen über den von den Entführern erschossenen Jürgen Schumann, die aus den Interviews auf Ihrer Seite nicht hervorgehen. Gibt es einen Grund, wieso Sie über die Rolle Jürgen Schumanns vergleichsweise wenig berichten?
Wir haben uns auf das konzentriert, was die Zeitzeugen*innen in den Interviews erzählt haben. Die Ermordung des Piloten Jürgen Schumanns spielte in der Erzählung eines Zeitzeugen – der von dieser Situation in der „Scroll-Dokumentation“ auch stellvertretend berichtet – eine sehr große Rolle. Unsere Dokumentation spiegelt die Ereignisse somit aus der Perspektive der Menschen wider, die Zeugen dieser Situation werden mussten.
Wie lange haben Sie ungefähr an dem Projekt gearbeitet?
Bei dem Projekt Landshut77 waren wir wirklich schnell. Nachdem die Interviews mit den Zeitzeugen bereits ein Jahr zuvor geführt wurden, haben wir dann von der Idee bis zur Fertigstellung ein Jahr gebraucht. Es war ein Projekt, was auch davon profitiert hat, dass wir in Corona-Zeiten Kapazitäten frei hatten und uns deshalb darauf konzentrieren konnten. Wir konnten einen „intensiven Sprint“ hinlegen, denn es ist eigentlich nicht üblich, das in einem Jahr auf die Beine zu stellen.
Welche Rückmeldungen haben Sie bekommen zu dieser Art, ein historisches Ereignis und das Erleben der betroffenen Menschen zu präsentieren?
Bis jetzt nur gute. Das Projekt haben wir im September letzten Jahres vor Ort – unter 2G-Bedingungen – präsentiert und haben dazu alle Interviewpartner*innen und Personen, die möglicherweise persönlich mit dem Ereignis verbunden sind, eingeladen. Das war so ähnlich wie die Erfahrung, die wir mit dem Interviewpartner gemacht haben, der zum ersten Mal öffentlich über die Erlebnisse gesprochen hat. Interviews mit Zeitzeugen finden nicht rein wissenschaftlich statt. Es geht nicht darum, wie professionell die Geschichte präsentiert wird. Es ist eine menschliche Begegnung mit den Erinnerungen und auch mit den Rahmenbedingungen, die das Leben von Menschen geprägt haben. Das ist sehr bereichernd und gleichzeitig sehr emotional für uns, aber auch für die, die wir damit angesprochen und erreicht haben. Ich glaube, so können wir die Menschen, die auf unsere Website stoßen, erreichen, weil diese Emotionalität in den Videos vorhanden ist und sich hoffentlich auch überträgt.
Möchten Sie zukünftig weitere Themen oder Ereignisse aus der deutschen Geschichte auf diese interaktive Art und Weise aufbereiten? Und falls ja, haben Sie schon eine Idee, was für Themen das sein könnten?
Eine weitere „Scroll-Dokumentation“ haben wir noch nicht vorgesehen. Das ist nun erst einmal das Format zu diesem Thema. Wir arbeiten aber an einem weiteren Online-Projekt, bei dem es um die Geschichte der Einheit – sprich die Revolution der Einheit und die Transformation in Berlin – gehen soll. Dieses Projekt wird hauptsächlich über Audio funktionieren, weil man vor allem unterwegs darauf zugreifen können soll. Hierbei werden wieder Zeitzeugen zu Wort kommen und wir werden auch hier über die Nutzung der Zeitzeugenstimmen hinausgehen, indem wir versuchen, stärker atmosphärisch zu arbeiten, das Emotionale mehr in den Vordergrund zu rücken und damit Zugänge zu schaffen.
Ein weiteres Projekt, mit dem wir uns befassen, ist ein künstlerischer Ansatz, wo es um die Frage nach der Kreativität geht. Warum sind Menschen kreativ? Warum sind sie es nicht? Dieses Projekt könnte für uns neue Türen öffnen, denn wir versuchen dabei hinsichtlich des Formates, auch unserer Kreativität freien Lauf zu lassen.
Das Interview führten Lyn Annika Stickelmann und Nele Sophia Welcher. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang “Mehrsprachige Kommunikation” an der TH Köln.
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