Geschichtsunterricht bei Instagram
„Wenn man an Widerstandskämpfer*innen denkt, dann fallen einem direkt Sophie Scholl oder Graf von Stauffenberg ein – aber welche Personen waren da noch involviert, und wie ging es mit denen weiter?“ Solche Fragen beschäftigten die studierte Historikerin Charlotte Jahnz, als sie 2021 ihren ersten Instagram-Post verfasste. Auf ihrem Account @nichtsophiescholl, den sie in Zusammenarbeit mit der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Heike Gumz und der Verwaltungsbeamtin Katharina Helling führt, erzählen sie von genau diesen Menschen und deren Biografien, liefern Hintergründe und Zusatzinformationen. Mit farbigen Postings zur dunklen Geschichte des NS-Regimes werden die historischen Ereignisse rund um die Geschwister Scholl und weiteren Widerstandskämpfer*innen beleuchtet. In Reaktion auf das Instagram-Projekt „Ich bin Sophie Scholl“ nutzen die drei ihren Account als Informationsmedium, um Geschichte sachkundig wiederzugeben, und bieten historischen Kontext für diejenigen, die Interesse an der deutschen NS-Geschichte haben. “Ich bin nicht Sophie Scholl” ist für den Grimme Online Award 2022 in der Kategorie “Wissen und Bildung” nominiert.
Auf Ihrem Profil liest man, dass Sie Insta und Geschichte mögen. Ansonsten ist über Sie nicht allzu viel bekannt. Hatten Sie schon vorher ein privates Interesse an Sophie Scholl und an der NS-Zeit oder hat sich das erst mit der Idee des Accounts entwickelt?
Charlotte Jahnz: Ich habe als Kind das Buch „Das kurze Leben der Sophie Scholl“ von Hermann Finke gelesen und habe auch den Film, der 2003 rausgekommen ist, gesehen. In der Schule haben wir auch Theaterstücke besucht, die sich mit dem Prozess um die Weiße Rose beschäftigt haben, und auch generell habe ich mich ziemlich viel mit der NS-Geschichte beschäftigt. Mit der Person Sophie Scholl habe ich mich erst wieder richtig beschäftigt, als das Projekt @ichbinsophiescholl vom BR und SWR losging.
Heike Gumz: Das war bei mir sehr ähnlich. Ich war auf einem nach Sophie Scholl benannten Gymnasium und habe mich in der Zeit auch mit dem gleichen Buch wie Charlotte beschäftigt. Ich habe mich kontinuierlich für die NS-Zeit interessiert, aber nicht explizit für Sophie Scholl. Mein Interesse an ihr ist mit dem @ichbinsophiescholl-Kanal wieder erweckt worden und im Zuge dessen habe ich auch die neueren Biografien gelesen und mich mit der Weißen Rose beschäftigt.
Katharina Helling: Sophie Scholl und die Weiße Rose waren für mich ein relativ weißer Fleck. Die NS-Geschichte hat mich als Jugendliche auch sehr interessiert, in der Schule hatte ich Leistungskurs Geschichte-Sozialkunde. Nach der Schulzeit ist mein Interesse ein bisschen eingeschlafen. In dem Projekt habe ich eine Chance gesehen, mehr über das Thema zu erfahren, und habe letztes Jahr so viel gelernt wie seit meiner Schulzeit nicht mehr.
Generell haben Sie sich bis jetzt entschieden, Ihre Identität nicht bekannt zu machen. Gab es dafür einen bestimmten Grund?
Charlotte Jahnz: Nein, nicht so richtig. Ich habe @nichtsophiescholl als „Spielwiese“ betrachtet und gar nicht damit gerechnet, dass der Account eine solche Reichweite gewinnt. Ich hätte auch schon 200 Follower beeindruckend gefunden. Das starke Wachstum war eher ein Zufall. Die Anonymität hatte keinen Grund, jedoch dachte ich mir irgendwann, dass es vielleicht komisch wäre, wenn ich auf einmal meine Identität zeige.
Sie haben Ihr Profil ein paar Wochen nach Start des @ichbinsophiescholl-Projekts eröffnet. Gab es irgendeinen Punkt oder irgendeinen Post, der Sie angeregt hat, mit Ihrem Account anzufangen?
Charlotte Jahnz: Ich habe den Account von Anfang an mitverfolgt und es gab keinen bestimmten Post, der mich dazu angeregt hat, den @nichtsophiescholl-Account zu erstellen. Mir persönlich fehlte wiederholt der Kontext. Das hat sich hinterher durch #TeamSoffer[1] verbessert, mit dem das Produktionsteam in den Kommentaren Hintergrundinformationen gegeben haben. Unser Account startete mit einer Diskussion über den Völkischen Beobachter, über den ich 2011 teilweise meine Bachelorarbeit geschrieben habe. Infolgedessen habe ich den ersten Post erstellt und wollte schauen, was ich an zusätzlichen Informationen geben konnte, um Kontext zu schaffen.
Ist mit den Posts auf Ihrem Account vielleicht sogar Kritik am zunächst sehr viel gelobten @ichbinsophiescholl-Projekt verbunden?
Heike Gumz: Der Kern-Kritikpunkt ist, dass wir uns alle gewünscht haben, dass an diesem eigentlich interessanten Projekt einige Aspekte differenzierter dargestellt werden. Es ging uns weniger darum, explizit Kritik auszuüben. Auf dem Account wurden sehr interessante Diskussionen losgestoßen und uns gefiel die Idee eines Zusatzangebotes für die zahlreich interessierten Follower*innen. Ich fand die Nachfragen der Follower*innen sehr spannend und habe auf dem Account @ichbinsophiescholl in den Kommentaren konstruktive Diskussionen geführt und Fragen beantwortet. Allerdings hatten diese Informationen in den Kommentarspalten keine besonders große Reichweite, man konnte es nicht schön bebildern oder die Informationen in ihrem ganzen Umfang darstellen. Wir wollten daran anknüpfen, dass man Menschen, die vielleicht nicht jeden Tag ein Geschichtsbuch durchlesen, auf diese Art und Weise erreichen kann. Mit unserem Account wollten wir eine Möglichkeit geben, sich weiter über ein Thema zu informieren.
Wie kam es, dass Sie sich dann mit den anderen beiden zusammengesetzt haben. Kannten Sie sich schon vorher oder ist die Zusammenarbeit über Instagram entstanden?
Charlotte Jahnz: Heike habe ich bei der Nominierung tatsächlich das erste Mal gesehen und Katharina habe ich sogar noch nie persönlich getroffen. Ich habe letztes Jahr im Sommer eine kurze Pause auf dem @nichtsophiescholl-Account gemacht, weil es sehr viel Zeit in Anspruch genommen hat. Im Oktober wollte ich wieder anfangen und habe gesehen, dass Katharina und Heike in den Kommentaren und auf ihren eigenen Accounts sehr viele Informationen und Input geliefert haben. Da es allein sehr aufwendig war, den Account zu führen, habe ich die beiden angefragt, ob sie das Projekt gemeinsam mit mir weiterführen wollen.
Was war Ihnen besonders wichtig bei der Gestaltung Ihres Accounts? Sie haben eben schon die Bebilderung der Posts eine Rolle angesprochen. Wie sind Sie da vorgegangen?
Charlotte Jahnz: Ich wollte den Account möglichst niedrigschwellig gestalten, weil wir manchmal Forschungsliteratur zitiert haben, die etwas komplizierter ist. Zusätzlich wollte ich über Erinnerungskultur sprechen. Das Ziel war nicht nur eine NS-Aufklärung, stattdessen wollten wir einen Anreiz geben, sich zu fragen, wem wir gedenken und weshalb. Mir war ein besonderes Anliegen, in dem @nichtsophiescholl-Account zu zeigen, welche Personen noch involviert waren und wie es mit ihnen und ihren Familien weiterging. Ich fand auch wichtig zu beleuchten, wie die Gesellschaft nach 1945 aussah.
Heike Gumz: Mir war wichtig die Kontinuitäten darzustellen. Welche gesellschaftlichen Hintergründe, aber auch ideologisches Gedankengut haben dazu beigetragen, dass sehr viele Menschen dem Nationalsozialismus sehr positiv und unterstützend entgegengetreten sind? Es muss es einen Kontext geben, welcher die damaligen Überzeugungen oder Menschenbilder darstellt und zeigt, weshalb sich ein solches Gedankengut entwickelt. Das soll zum Nachdenken über immer noch aktuelle Diskurse anregen. Unser @nichtsophiescholl-Account hat dafür das Medium geboten, kleinere Geschichten oder Biografien zu erzählen. Aus den beiden Projekten habe ich gelernt, dass Leute sich auch mit unangenehmen Themen auseinandersetzen, wenn sie Anknüpfungspunkte zu ihrer eigenen Geschichte finden.
Wie stehen Sie generell zur Dramatisierung oder Inszenierung von Inhalten bei historischen Projekten? Die Redaktionsleiterin des @ichbinsophiescholl-Projektes hat das in einem Interview mit künstlerischer Freiheit verglichen.
Charlotte Jahnz: Ich persönlich finde es schwierig, dass im Namen von Sophie Scholl geantwortet worden ist. Natürlich geht man davon aus, dass den Menschen bewusst ist, dass nicht die echte Sophie Scholl antwortet. Gleichzeitig würde ich behaupten, dass unterbewusst trotzdem etwas ausgelöst wird und man sich dadurch ein Bild über die Person macht. Diesen Aspekt fand ich schwierig, da er in ähnlichen Projekten wie „Eva Stories“ oder „Das Tagebuch-Projekt“ auf YouTube anders gehandhabt wurde. Ungünstig war auch, wie teils Menschen in ihren Kommentaren bestärkt wurden, besonders wenn es um die Viktimisierung der Mehrheitsbevölkerung ging, da auf diese Art und Weise versucht wird viel zu entschuldigen. Der Nationalsozialismus wird als etwas gesehen, dass über die Menschheit hereingebrochen ist, jedoch hat die Bevölkerung auch bewusst Entscheidungen getroffen. Die Person Sophie Scholl hat gezeigt, dass es die Möglichkeit gab, sich dagegenzustellen.
Heike Gumz: Ich stimme dem zu. Grundsätzlich habe ich kein Problem damit, dass man sich zwischendurch etwas ausdenken musste, um den Tag zu füllen, oder man sich überlegt hat, wer wann welchen Brief verfasst hat. Meiner Meinung sollte man kennzeichnen, an welcher Stelle es sich um Fiktion handelt. Daraus ergibt sich eine historisch eingeschränkte Sichtweise, da über die Fiktionalisierung bestimmte Schwerpunkte gesetzt wurden und bestimmte Themen, die in der Person Sophie Scholl möglich gewesen, aber nicht prominent waren, ausgeblendet wurden. Diese Frage der Verbindung zwischen Kunst und Fiktion lässt sich natürlich jedem künstlerischen Projekt stellen.
Katharina Helling: Für mich lässt sich auch eine zu stark fokussierte emotionale Bindung beobachten. Als private Nutzerin von Instagram habe ich damit gerechnet, jedoch war es sehr darauf begrenzt. Ein emotionaler Zugang ist nichts Negatives, aber die Frage, was man damit erreichen möchte, hätte präsenter sein müssen.
Welche Kriterien muss die Darstellung von geschichtlichen Ereignissen auf Social-Media-Plattformen erfüllen, damit sie zur politischen Bildung von Jugendlichen beitragen kann?
Charlotte Jahnz: Wünschenswert wäre, wenn mehr Community-Management in den Kommentarspalten betrieben wird. Auf Fragen sollte fundiert geantwortet, eingegangen und reagiert werden. Diese Formate haben extrem viel Potenzial, deshalb ist es wichtig, das Narrativ zu schärfen, damit man als Konsument auch etwas lernt. Kontextualisieren und auf Fragen eingehen sind in meinen Augen sehr wichtig.
Heike Gumz: Geschichtliche Ereignisse sollten nicht Schwarz-Weiß als Dichotomie aufgebaut werden, denn meistens gibt es viele Graustufen zwischen den beiden Extremen. Ambivalenzen und Differenzierungen sollten unbedingt abgebildet werden, damit wir auch heutzutage erkennen können, wenn bestimmte Richtungen oder Anklänge wieder auftreten. Eine solche Umsetzung ist natürlich nicht einfach, ganz im Gegenteil, es stellt sich dann auch die Frage, ob das die Menschen genauso begeistert und man sie trotzdem gleichzeitig emotional involvieren kann. Dennoch würde ich mir wünschen, dass man dies in Nachfolgeprojekten berücksichtigt.
Sie hatten auf Ihrem Account eine kleine Veröffentlichungspause eingelegt, nun haben Sie wieder begonnen zu posten. Mittlerweile haben Sie auch über 6.000 Abonnenten. Wie wollen Sie Ihren Account nun weiterführen?
Charlotte Jahnz: Im letzten Jahr haben wir uns an @ichbinsophiescholl orientiert und haben auf gewisse Posts reagiert. Logischerweise fällt dies nun weg und dies ist definitiv eine interessante Herausforderung. Ich würde unseren Account gerne weiterführen, zusätzlich wurde dieser Wunsch auch von unseren Follower*innen geäußert. Zukünftig könnte man aktuelle Debatten aufgreifen, wie bei unserem Post über die im Ukrainekrieg angegriffene Gedenkstätte Babyn Jar. Darüber hinaus gibt es weiterhin historische Lücken, die ich gerne füllen würde.
Wollen Sie das Projekt auch zu dritt weiterführen?
Heike Gumz: Ja, wir haben darüber gesprochen. Mit dem Projekt wollte ich sehen, welches Potenzial hinter Instagram steckt. Jetzt bin ich davon überzeugt, dass es ein Medium ist, das Menschen dazu anregt sich mit solchen abschreckenden, dennoch wichtigen Themen auseinanderzusetzen. Auch die Rückmeldung aus der Community war sehr motivierend und es zeigte sich, dass wir eine breite Masse an Menschen erreicht haben.
Charlotte Jahnz: Da schließe ich mich an. Anhand der Community und dem Feedback ließ sich veranschaulichen, dass es sich bei uns nicht nur um Sender und bei den Follower*innen nicht nur um Empfänger handelte. Die Kommentare haben uns öfter Anstöße oder Fragen geliefert, die sich aus der eingeschränkten Historiker-Sichtweise nicht stellen. In dem Sinne habe ich auch viel gelernt und sehr viel aus der Community zurückbekommen. Das ist einfach großartig!
Katharina Helling: Außerdem möchte ich meine wieder aktivierte Auseinandersetzung mit Geschichte nicht missen, da ich mit dem Projekt viel Spaß und Freude verbinde. Allein würde ich das Projekt nicht fortführen wollen, das fände ich sehr schade.
Haben Sie überlegt, ob Sie den Namen behalten?
Charlotte Jahnz: Bislang haben wir uns noch keine Gedanken dazu gemacht. Irgendwann erklärt sich unser Name wahrscheinlich nicht mehr von selbst, auf der anderen Seite könnte man sagen, dass er sich jetzt ein wenig etabliert hat und eine Umbenennung schwierig wäre. Aber es hat ja auch irgendwie was, Nicht Sophie Scholl zu sein.
Das Interview führten Josephine Oppong und Leonora Tekampe. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang “Mehrsprachige Kommunikation” an der TH Köln.
[1] #TeamSoffer wurde von dem Instagram Account @ichbinsophiescholl ins Leben gerufen. Unter diesem Hashtag beantwortete das Social-Media Team des Projektes in den Kommentaren unter den Posts, Fragen, die sich die Abonnenten bezüglich der Geschichte Sophie Scholls stellten.
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