Endstation Balkanroute: „Man fällt von jeglichem Glauben ab“

In Hoffnung auf ein besseres Leben versuchen jedes Jahr tausende Menschen, vor allem aus Afrika und Asien, nach Europa zu gelangen. Oftmals illegal einreisend, leben sie zum Teil unter menschenunwürdigen Bedingungen. Zum Beispiel in der Bauruine Kandvala im bosnischen Bihać. Die jungen Fotojournalist*innen Sitara Thalia Ambrosio und Iván Furlo Cano haben dort eine Multimediareportage über die Bewohner*innen gedreht, um ihren Schicksalen, stellvertretend für viele Geflüchtete, eine Stimme zu geben und auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Das Angebot Kandvala ist für den Grimme Online Award 2022 in der Kategorie Kultur und Unterhaltung nominiert. Im Interview sprechen die beiden Journalist*innen unter anderem über ihre Arbeit vor Ort und Möglichkeiten, wie man Flüchtende in Bosnien unterstützen kann.

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Screenshot „Kandvala“

Über die Situation der Flüchtenden an den EU-Außengrenzen wird in den deutschen Medien selten detailliert berichtet. Wie wurdet ihr auf dieses Thema aufmerksam und warum fiel eure Wahl gerade auf das bosnische Bihać bzw. die dortige Bauruine Kandvala, die zum Zeitpunkt der Dreharbeiten etwa 200 Geflüchteten ein Dach über dem Kopf bot?

Sitara Thalia Ambrosio und Ivan Furlán Cano (Kandvala).

Sitara Thalia Ambrosio und Ivan Furlán Cano (Kandvala).
Foto: Rainer Keuenhof / Grimme-Institut

Iván Furlan Cano: Weil die Situation der Flüchtenden bei uns privat immer wieder Thema war, war klar, dass wir etwas dazu machen wollten. Einige Wochen vor Drehbeginn ist in Lipa, das ca. 20 km von Bihać entfernt liegt, ein Geflüchtetenlager abgebrannt. Darüber wurde medial viel berichtet, aber nur für kurze Zeit. Zudem beschränkte es sich auf reine Nachrichten. Dann stand für uns fest: Jetzt ist der passende Zeitpunkt, vor Ort zu arbeiten. Wie ist die Situation nach diesem Brand, mitten im bosnischen Winter? Wo sind die Menschen neu untergebracht worden? Wie leben sie außerhalb dieser Camps? Während unserer Recherche, bei der wir viel im Austausch mit anderen standen, sind wir schnell auf Bihać gestoßen. Sobald man in der Stadt ist, ist der Ort Kandvala, den es damals noch gab, omnipräsent. Als wir dort Menschen kennengelernt haben, war sehr schnell klar, dass wir dort viel Zeit verbringen müssen, um die Geschichten und Einzelschicksale erzählen zu können.

Wie habt ihr euch, von den Gesprächen abgesehen, ansonsten auf die Zeit in Bosnien vorbereitet?

Sitara Thalia Ambrosio: Wir haben vor allem sehr viel Vorrecherche betrieben, Fakten gesammelt und uns über die Situation vor Ort informiert. Zudem haben wir uns mit Journalist*innen, Filmenden und Schreiber*innen vernetzt, die zum Thema Migration und bereits auf der Balkanroute, vor allem in Bihać und Kandvala, gearbeitet haben.

Wie lange wart ihr in Bihać? Wie schnell seid ihr in Kontakt zu euren Protagonist*innen gekommen?

Iván Furlan Cano: Ursprünglich wollten wir dort nur eine Woche verbringen, am Ende sind es jedoch etwa dreieinhalb geworden. Wir haben immer Woche um Woche verlängert, weil die Zeit sonst nicht gereicht hätte. Die ersten Bilder, Videos und Interviews habe ich auch erst am fünften Tag aufgenommen. Vorher wollten wir die Leute erst einmal kennenlernen, ihnen zuhören und das Gefühl vermitteln, dass uns wirklich interessiert, was in Kandvala vor sich geht. Wir wollten ihre Geschichten hören und Einzelschicksale hervorheben, um der Anonymität in der Masse, in der Geflüchtete sehr oft dargestellt werden, entgegenzuwirken. Dafür brauchte es eben Zeit.

Sitara Thalia Ambrosio: Dazu kam, zurück in Deutschland, die Nachproduktion. In unserer Reportage kann man zum Beispiel die Flucht von Hassan, einem unserer Protagonisten, nachvollziehen. Er hat seine verschiedenen Stationen in unterschiedlichen Ländern mit Handyvideos dokumentiert, die man jetzt wie in einem Loop anschauen kann. Dafür und für Ähnliches mussten wir viele Telefonate führen, um das Einverständnis für die Verwendung vom gesammelten Bild- und Tonmaterial von den Leuten zu bekommen. Als wir daheim waren, hatte ich manchmal das Gefühl, dass wir immer noch vor Ort sind. Anfangs haben wir täglich Anrufe erhalten und sehr engen Kontakt zu den Protagonist*innen gehalten, der bis heute, wenn auch in schwächerer Form, immer noch besteht.

Wie gestalteten sich die Arbeiten vor Ort? Gab es unvorhergesehene Schwierigkeiten oder Veränderungen im geplanten Ablauf?

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Screenshot „Kandvala“

Sitara Thalia Ambrosio: Kandvala ist ein Ort, wo immer sehr viel los ist und man sich beispielsweise darauf einlassen muss, dass Menschen auch mal später als zur verabredeten Zeit erscheinen. Dann steht jedoch die Sonne bereits in einem anderen Winkel, was das Filmen erschwert, und es ist alles sehr zeitintensiv. Komplikationen hatten wir allerdings nicht.

Iván Furlan Cano: Es kommt natürlich auch darauf an, wie man den Menschen und Protagonist*innen letztlich begegnet. Geht man hin, hält die Kamera drauf und geht wieder oder nimmt man sich wirklich die Zeit, sie kennenzulernen? Uns wurde unglaublich viel Zugang zu ihren sehr persönlichen, schmerzhaften Geschichten gegeben, was am Schluss die Reportage in dieser Form überhaupt ermöglicht hat. Mit der Arbeit hatten wir also keine Probleme. Natürlich gab es auch Situationen, in denen man gedacht hat: Wo sind wir denn jetzt gelandet? Einmal beispielsweise hatte es nachts gefroren und morgens um sieben hat die Polizei in voller Montur und Schutzausrüstung Menschen aus dem Gebäude geräumt, die dann bei knapp null Grad draußen in Jogginghose und T-Shirt sitzen mussten. Von solchen Situationen hat man vorher bereits gehört oder Bilder gesehen, aber man rechnet damit einfach nicht. Wenn man dann direkt dabei ist, ist das noch mal was Anderes. Man fällt von jeglichem Glauben ab.

Sitara Thalia Ambrosio: Komplikationen mit den Protagonist*innen gab es nicht. Ich glaube, das kann es auch nicht geben, wenn man Grenzen wahrt und ihre Entscheidungen, ob sie mit uns reden möchten oder nicht, respektiert. Das größte Problem waren tatsächlich behördliche Hürden und Institutionen wie die Sondereinheit der bosnischen Polizei, die Kandvala geräumt hat. Da wurden wir einfach weggeschickt und haben keinen Zugang bekommen.

Iván Furlan Cano: Man wollte auch nicht, dass diese Aktion dokumentiert wird.

Während der Arbeiten konntet ihr hautnah an dem Leben der Geflüchteten teilnehmen. Wie verarbeitet ihr das Erlebte?

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Screenshot „Kandvala“

Sitara Thalia Ambrosio: Ich glaube, einer der krassesten Momente, die ich hatte, war das Nach-Hause-Fahren. Dabei wurde mir richtig bewusst, dass ich einen deutschen Pass habe und es egal ist, was ich tue; ich kann am Ende diese zehn Kilometer mit dem Auto fahren und ich kann meinen Pass an der Grenze vorzeigen. Die Menschen, die wir dort getroffen haben, kämpfen teilweise jahrelang darum, in die Europäische Union zu kommen. Und ich? Für mich ist das überhaupt kein Problem. Diese Tatsache nagt sehr an mir. Aber das tut es schon immer, seit ich zu dem Thema Migration arbeite. Ich muss mich als weiße Person damit auseinandersetzen, dass die Einreise in die Europäische Union, die Pushbacks und illegalen Rückführungen ganz viel mit Rassismus zu tun haben, und was das für mich bedeutet. Was bedeutet das für mich, als deutsche Journalistin dorthin zu fahren? Welche Perspektive kann ich einnehmen? Ich glaube, darüber müssen wir unglaublich viel reden und versuchen, das zu reflektieren und einen Umgang damit finden.

Iván Furlan Cano: Ich glaube, ein ganz großer Teil der Verarbeitung ist das Gespräch. Wir haben am Schluss und im Nachhinein sehr viel über das Erlebte und die gehörten Geschichten gesprochen. Ich weiß nicht, wie oft wir uns dieses Material angeguckt haben und darüber geredet und nachgedacht haben. Warum ist die Situation so? An was liegt das? Außerdem hilft es, dass wir weiterhin Kontakt zu den Menschen haben. Zum Beispiel Danny, den wir in der Schweiz besucht haben, als er es endlich da raus geschafft bzw. es in die EU gepackt hat und dann anschließend in die Schweiz. Das ist natürlich sehr schön, wenn man in die Schweiz fährt und da steht dann plötzlich Danny und man erkennt ihn fast nicht wieder. Dieser Moment war wirklich schön, denn man sieht, dass es ihm besser geht. Was dann kommt, ist die andere Sache, aber zumindest dieser erste Moment: er muss nicht mehr in diesem Gebäude leben.

Sitara Thalia Ambrosio: Na ja, ich glaube, an humanitären Geschichten zu arbeiten ist sehr emotional. Wie geht es dir damit? Wie geht es den Menschen, mit denen du arbeitest? Auch wenn ich Journalistin bin, empfinde ich viel Wut. Mich lässt das nicht kalt und ich glaube, es ist auch Quatsch, an humanitären Geschichten zu arbeiten und es würde mich nicht berühren. Das wäre, glaube ich, sehr ungesund. Dann könnte ich auch nicht so nah an den Menschen sein. Dann fährst du natürlich mit Emotionen nach Hause oder wirst schon vor Ort wütend oder traurig. Oder du denkst, das kann jetzt einfach nicht sein und das ist einfach unfair. Damit musst du arbeiten und einen Umgang finden.

Gab es dort eine Begegnung, ein Erlebnis, das euch besonders berührt hat?

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Screenshot „Kandvala“

Iván Furlan Cano: Einige. Die erste Person, an die ich immer denken muss, ist Elena. Sie kommt auch in der Multimedia vor. Sie ist eine Person, die nach über 20 Jahren ohne Papiere abgeschoben wurde und versucht hat, wieder in die EU zu kommen. Durch verschiedene Umstände ist sie in Serbien gelandet, anschließend in Bosnien. Sie hat keine Papiere mehr und trotzdem war sie jeden Tag in Kandvala und hat die Menschen vor Ort, obwohl sie in einer ähnlichen Situation war, versorgt und Essen oder Schlafsäcke organisiert. Wenn es viel zu kalt war und Menschen gefroren haben oder wenn kein Platz mehr im Gebäude war, hat sie geschaut, wo die Menschen unterkommen können. Bei dieser ganzen hoffnungslos erscheinenden und katastrophalen Situation gibt es dann doch immer wieder die Momente, in denen der Glauben an das Richtige in dieser schlechten, falschen Situation gezeigt wird. Das sind zwar nicht die Institutionen, die das eigentlich sein sollten, aber Privatpersonen, die ganz viel Hoffnung spüren lassen.

Die Reportage ist seit letztem Jahr fertig. Steht ihr weiterhin mit den Menschen vor Ort in Kontakt?

Sitara Thalia Ambrosio: Ja, aber in Chaos. Es gibt viele verschiedene Handynummern, weil die Menschen sich in verschiedenen Ländern aufgehalten haben und dann haben sich natürlich ein paar Mal die Handynummern geändert. Ich habe oft Nachrichten von fremden Nummern bekommen. Wer meldet sich denn da wieder bei mir? Wir haben natürlich nicht täglich Kontakt, aber wir telefonieren oft. Wir halten auch Vorträge zum Thema Bosnien vor Schulklassen und an Universitäten und hoffen, dass Hassan, wenn er Papiere hat und reisen darf, einen dieser Vorträge auch begleiten kann. Er wünscht sich auch sehr, dass er seine Geschichte selber erzählen darf, und wir wünschen uns das auch. Deswegen telefonieren und kommunizieren wir ganz viel mit dem Handy. Das ist so einfach. Wir fragen oft nach, wie es ihnen geht und wie der Status ihrer Papiere ist, denn das spielt in ihr Wohlbefinden mit rein.

Laut bosnischem Recht ist es illegal, Flüchtenden zu helfen. Welche Möglichkeiten gibt es trotzdem, die Menschen in Kandvala zu unterstützen?

Iván Furlan Cano: Es gibt natürlich größere NGOs, die auch vor Ort mit Behörden zusammenarbeiten und dadurch weniger Probleme haben. Dadurch sind sie aber auch oftmals nur in den Camps und nicht an diesen Orten außerhalb der Camps. Es gibt trotzdem sehr viele Gruppen, die tolle Arbeit vor Ort leisten und auch die Menschen unterstützen, die aus diesen staatlichen Strukturen rausfallen. Es gibt beispielsweise Noname Kitchen, das Frachtkollektiv, SOS Balkan Brücke und Blind Spot Support, die man finanziell immer unterstützen kann und die sehr wichtige Arbeit vor Ort leisten. Manchmal brauchen diese Gruppen Sachspenden, aber auch Geldspenden. Es ist immer gut, gerade diese kleineren Gruppen zu unterstützen, die vor Ort wirklich das ganze Jahr über, aber vor allem im Winter, essentielle Arbeit leisten und dafür sorgen, dass Menschen auch den Moment außerhalb der Camps überstehen. Ganz wichtig ist es natürlich, auch viel darüber zu reden.

Sitara Thalia Ambrosio: Ich glaube, das Wichtigste ist tatsächlich, darauf aufmerksam zu machen und es auch zu begreifen. Das entsteht nicht zufällig, sondern es ist politisch tatsächlich gewollt, dass diese Menschen da festhängen und das, was sie durchmachen und erleben, ist eine politische Entscheidung. Am Ende hängt alles damit zusammen, dass es Politik und Leute gibt, die permanent gegen Geflüchtete hetzen und kein Verständnis für sie haben. Ich glaube, einer der springenden Punkte ist Aufklärung, Begegnungen und Räume schaffen, in denen man sich austauschen kann und Türen öffnen. Ich glaube, das ist somit das Wichtigste, um tatsächlich zu unterstützen. Und vielleicht kann man nicht akut alle Menschen aus Bosnien rausholen. Aber man kann zumindest denen, die es hierher geschafft haben, das Leben erleichtern, indem man einfach Verständnis zeigt und auf Leute zugeht. Das ist, glaube ich, wichtig.

Das Interview führten Julia Müller und Marie G. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang “Mehrsprachige Kommunikation” an der TH Köln.

Screenshot aus Zoom-Interview: Iván Furlan Cano und Sitara Thalia Ambrosio

Screenshot aus Zoom-Interview: Iván Furlan Cano und Sitara Thalia Ambrosio