Einbiszwei: Ein Podcast, der zeigt, dass sexuelle Gewalt kein Tabuthema sein darf
Einbiszwei? Klingt wenig und ist doch in Bezug auf das Thema des gleichnamigen Podcast der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) ganz klar ein bis zwei zu viel: Der Name ist von einer Statistik abgeleitet, wonach es in jeder Schulklasse in Deutschland ein bis zwei Kinder gibt, die sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Im Podcast „einbiszwei – Der Podcast über sexuelle Gewalt“ bespricht Nadia Kailouli mit ihren Gästen nicht nur Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche aus verschiedenen Perspektiven, sondern versucht auch, deutlich zu machen, dass solche Fälle verhindert werden können.
Der Podcast „einbiszwei – Der Podcast über sexuelle Gewalt“ ist für den Grimme Online Award 2022 in der Kategorie „Wissen und Bildung“ nominiert. Im Interview erzählt Stefan Frohloff, Pressesprecher der UBSKM, wie die Resonanz der Betroffenen auf den Podcast war und was die UBSKM dazu bewegt hat, den Podcast zu initiieren.
Der Name Einsbiszwei bezieht sich darauf, dass statistisch gesehen ein bis zwei Kinder in jeder Schulklasse in Deutschland sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), die Initiatorin dieses Podcast ist, hat in der Vergangenheit schon zahlreiche Angebote und Projekte zu sexuellem Missbrauch ins Leben gerufen. Wie entstand die Idee zu diesem Podcast?
Der Podcast ist durch die Grundproblematik, dass ein bis zwei Kinder pro Schulklasse sexueller Gewalt ausgesetzt sind, entstanden. Leider weiß dies aber so gut wie niemand. Das erkennt man schon, wenn man im Freundes- und Bekanntenkreis dieses Thema anschneidet. Wir wollten unterschiedliche Herangehensweise ausprobieren, wie man mehr Menschen zu dem Thema erreichen kann. Wir haben bereits verschiedene Kampagnen gestartet und wir versuchen, Kontakt zu Fachkräften und Schulen aufzunehmen. Das Ziel ist, dass man sich mehr Gedanken über Schutzkonzepte macht. Letztes Jahr ist uns die Idee gekommen, dass wir uns ein Medium suchen müssen, mit dem man auf einfachem Wege mehr Menschen erreichen kann. Der Zugang zum Thema sollte hierbei möglichst einfach und verständlich sein. Dadurch ist die Idee des Podcasts entstanden. Uns war es wichtig, einen Podcast zu kreieren, der trotz des schweren Themas gerne gehört wird. Die Moderatorin sollte dabei sowohl professionell als auch empathisch sein. Die Wahl fiel auf Nadia Kailouli. Vor allem die Auswahl der Podcast-Gäste muss stets gut durchdacht werden. Es gibt zwar einige Fachleute, allerdings können die wenigsten auch gut über solche Themen sprechen.
Spielte auch die Corona-Krise eine Rolle für die Idee zu diesem Podcast – und wenn ja, inwiefern?
Tatsächlich hatten wir zum Anfang der Coronazeit schon mal die Idee, einen Podcast zu machen. Dadurch, dass aber gerade zu dieser Zeit sehr viele Leute Podcasts veröffentlicht bzw. gestartet haben, entschieden wir uns lieber noch ein bisschen zu warten. Was unser Podcast-Thema betrifft, ist aber gerade durch die Coronakrise viel passiert.
Der sexuelle Missbrauch hat durchaus zugenommen, dadurch dass die Menschen einfach viel zu Hause und Kinder im Lockdown mit ihren Familien ,,eingesperrt‘‘ waren. Darum haben wir zunächst die Aktion ,,Kein Kind alleine lassen‘‘ gestartet. Flyer mit Hilfsangeboten für Betroffene wurden verteilt und generell wurde mehr Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt. Eher in einer späteren Phase der Pandemie haben wir die Idee des Podcast wieder ausgegraben.
In den Podcast-Folgen spricht Nadia Kailouli sowohl mit Betroffenen als auch mit Expertinnen und Experten aus ganz unterschiedlichen Berufsgruppen. Wer entscheidet, mit welchen Gästen Gespräche geführt werden?
Wir hatten uns am Anfang die Frage gestellt, wie breit gefächert der Podcast eigentlich sein soll. Wir haben gesagt, dass wir sowohl Menschen, die sexueller Gewalt ausgesetzt waren, als auch Kinderschutzexpert*innen, Ermittler*innen oder Aktivist*innen einladen wollen. Sexuelle Gewalt gibt es schließlich in den unterschiedlichsten Formen. Beispielsweise beim „Catcalling“ von Frauen oder wenn Männer alberne „Dickpics“ verschicken. Letztendlich haben wir uns dazu entschieden, die gesamte Bandbreite abzubilden. Somit werden nicht nur die aktuellen Probleme thematisiert, sondern auch deren Ursachen aufgezeigt. Beim Thema häusliche Gewalt zum Beispiel hatten wir die Anwältin Christina Clemm als Expertin im Podcast. Und immer wieder sind bei uns natürlich Betroffene zu Gast, die sich heute dafür einsetzen, dass anderen geholfen wird und ihre eigene Geschichte nutzen, um anderen Mut zu machen. Die Bandbreite ist in jedem Fall sehr groß.
In den Podcast-Folgen wird deutlich, wie breit das Spektrum sexueller Gewalt gegen Kinder ist. Hat die Bevölkerung nach Ihrer Einschätzung oder auch nach Ihnen bekannten Forschungsergebnissen ein zutreffendes Verständnis davon, wo sexueller Missbrauch von Kindern bereits beginnt?
Wir hatten zu diesem Thema tatsächlich eine Umfrage gemacht. Das Ergebnis war sehr widersprüchlich, und gerade das zeigt auch, wie wichtig Podcasts wie unserer sind. In der Umfrage wurde gefragt, wo die Menschen sexuelle Gewalt am ehesten erwarten würden. Tatsächlich konnten sich viele der Befragten vorstellen, dass sexuelle Gewalt eher im näheren Umfeld stattfindet. Gleichzeitig konnten sich aber 85 % der Befragten nicht vorstellen, dass dies auch das eigene nähere Umfeld (Freunde, Familie, Bekanntenkreis) betreffen könnte. Ich habe den Eindruck, dass die Leute dieses Thema gerne von sich wegschieben und es teilweise auch nicht wahrhaben wollen. Die Zahlen sprechen allerdings für sich: ein bis zwei Kinder pro Schulklasse. Es ist wichtig, den Leuten zu verstehen zu geben, dass es durchaus möglich ist, dass sexuelle Gewalt auch im persönlichen Umfeld auftritt. Dieses Thema geht uns alle an und es ist ein Thema, das man normal bereden kann.
Also war die Resonanz auf ein solches Tabuthema, wie es selbst im Podcast schon bezeichnet wird, eher positiv?
Definitiv eher positiv. Wir freuen uns immer über Zuschriften und Kommentare. Natürlich bekommen wir auch Widerspruch, aber das ist ja auch nicht verkehrt. Hauptsächlich finden die Leute es aber meist gut und motivieren uns, weiterzumachen. Uns ist es sehr wichtig, dass der Podcast auch einen empowernden Effekt hat und Betroffene sich verstanden fühlen.
Sie haben vorhin schon die Nutzung von sozialen Medien erwähnt, um auf den Podcast aufmerksam zu machen. Wie machen Sie sonst auf den Podcast aufmerksam?
Ja, wir würden uns freuen, wenn wir mehr Geld zur Verfügung hätten, um richtig Werbung für den Podcast zu machen. Insofern haben wir bei der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung einen Instagram-Kanal, über den auf den Podcast hingewiesen wird. Das funktioniert gut. Es gibt auch einen Twitter-Kanal, auf welchen wir hinweisen. Wir würden gerne in Zukunft jüngere Leute erreichen, zum Beispiel über TikTok und dergleichen, denn das sind schöne Maßnahmen. Wir würden gerne noch mehr Unterstützung bei Social Media bekommen, indem Nutzer den Podcast teilen und weiterverbreiten. Vielleicht ist es auch möglich, in eine tolle Sendung eingeladen zu werden, wo Podcasts empfohlen werden. Das wäre wahnsinnig schön! Wie gesagt, uns gibt es gerade erst viereinhalb Monate und wir haben vor, den Podcast weiterhin zu machen, also hoffen wir sehr, dass sich da noch was tut.
Sie decken in Ihren Episoden verschiedene Themen ab, die alle im Zusammenhang des Missbrauchs an Kindern stehen. Welches Themengebiet halten Sie persönlich für am wenigsten beachtet in unserer Gesellschaft und warum?
Schwierige Frage. Ich glaube, es ist wenigen klar, dass man schon sehr früh anfangen sollte, mit Kindern über Sex zu reden. Man sollte Strategien entwickeln, wie man dies gut umsetzt, und auch dazu gibt es fantastische Ideen von Sozialwissenschaftler*innen, Erzieher*innen und dergleichen. Dazu müssen wir auch im Podcast noch ein paar Sachen vorstellen. Man muss frühzeitig über mögliche Tabus reden, über Scham und über die Möglichkeiten, mit älteren oder anderen Leuten über das Thema zu sprechen. Meiner Meinung nach ist alles noch nicht so offen, wie es eigentlich sein sollte und das hat auch mit unserem Thema zu tun. Das ist ein wichtiges Thema, wo wir noch weiterkommen können und müssen. Wichtig im Podcast ist, dass wir oft mit Betroffenen reden, dass man diese Geschichten hört, die machen anderen Menschen Mut. Das sind teilweise unglaubliche, wirklich tapfere Leute, die da unterwegs sind und für ihr Thema kämpfen. Denen kann man gar nicht genug Öffentlichkeit geben. Es wäre auch nicht von Vorteil, keine Betroffenen einzuladen, weil diese sich durch die eigene Betroffenheit mit ihrem Thema auskennen und ein großes Wissen haben. Wenn man sich mit Matthias Katsch über Missbrauch und Kirche unterhält, dann kann man kaum einen besseren Fachmann finden, weil es mit seiner Geschichte zu tun hat. Wenn man mit Sonja Howard, über beispielsweise Erziehungsfragen redet, erfährt man, dass sie sich sehr viel Mühe gibt, mit ihren Kindern alles richtig zu machen; sie kann deswegen tolle Sachen erzählen. Ich finde, man kann gar nicht genug Leute einladen. Es gibt nach wie vor zu wenig Öffentlichkeit, da kann man deutlich mehr machen. Gerade bei Betroffenen ist es auch so, dass sie keine Zeit bekommen ihre Geschichte zu erzählen; das war ein weiterer Grund für die Gründung des Podcast. Matthias Katsch hat gesagt, dass er in vielen Beiträgen im Fernsehen oder Radio, immer derjenige ist, der für 30 Sekunden an einem Fluss steht, nachdenklich übers Wasser gucken muss und dann sagen soll, wie schlecht es ihm geht – und das war dann sein Auftritt im Fernsehen. Und da sagt er logischerweise, dass er immer nur das Opfer ist und sein Wissen nicht teilen kann. Auch dafür ist es sehr schön, eine Plattform wie den Podcast zu bieten, wo die Menschen mit ihrem ganzen Wissen und ihren spannenden Geschichten 30 bis 45 Minuten erzählen können.
Wie schätzen Sie den Aufklärungsstand zu sexuellem Missbrauch von Kindern in der Bevölkerung ein?
Ich weiß nicht, wie der Wissenstand bei den Leuten ist. Ich glaube aber, dass der Wissenstand letztendlich gar nicht entscheidend ist. Ich glaube, es geht darum, dass es für Leute vorstellbar wird, dass es sexuellen Missbrauch gibt. Es braucht einfach diesen einen Punkt, wo es für sie deutlich wird. Ich halte es für durchaus vorstellbar. Die Berichterstattung hat zugenommen, es gab früher nur Skandalberichterstattung zu diesem Thema, da tauchte dann immer der Kinderschänder auf. Das ist mittlerweile auch besser geworden: Wer sich wirklich informieren möchte, findet auch Hintergrundberichte, der findet lange Artikelserien. Es gibt mittlerweile auch Berichterstattung außerhalb von skandalösen Missbrauchsfällen. Ich weiß nicht genau, ob es ein Informationsdefizit gibt, aber was es wirklich gibt, ist diese nicht vorhandene Bereitschaft, das Thema an sich ranzulassen. Ich glaube, das ist etwas, woran man arbeiten muss; die Leute müssen es fühlen. Die Leute müssen sich vorstellen können, dass es überall passieren kann, dass es jeder und jedem passieren kann. Die Leute, die es trifft, sind nicht geächtet, sondern im Gegenteil, man muss sich um sie kümmern. Wir hoffen, dass wir mit diesem Podcast einen Baustein liefern, dass Leute sich ein bisschen besser vorstellen können, dass alles gar nicht so weit weg ist. Das ist die Idee. Ob das funktioniert, ist immer schwer zu sagen, aber zumindest die Rückmeldung, die wir bekommen, zeigt uns, dass wir nicht so falsch liegen.
Zu den Aufgaben der Unabhängigen Beauftragten gehört auch, gesetzliche Handlungsbedarfe und Forschungslücken im Themenfeld sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zu identifizieren. Wo sehen Sie solche Handlungsbedarfe oder Forschungslücken?
Schwierig. Ich bin da ehrlicherweise nicht der Fachmann. Ich weiß, dass es eine große Schwierigkeit gibt, beispielweise mit Zahlen. Es gibt zu wenig Forschung in diesem Bereich. Es gibt keine aussagekräftige Dunkelfeldforschung, das heißt, dass kaum darüber nachgedacht wird, was passiert und wie sich das hochrechnen lässt. Wenn man das wirkliche Ausmaß erfassen würde, würde vielleicht auch klarer werden, wie dringend es ist zu handeln. Ich weiß, dass die Mitarbeiter der UBSKM daran arbeiten, dass viel mehr Schutz für Kinder angeboten wird. Es gibt fantastische Pläne, was eine Schule unternehmen kann oder ein Sportverein. Da machen noch viel zu wenige mit und da müsste auch viel mehr Initiative gezeigt werden, damit es voran geht. Es gibt eine lange Liste an Dingen, die man sich wünscht und zu denen sich Fachleute viele Gedanken gemacht haben, um den Kinderschutz weiter voranzubringen. Das alles ist verbunden mit Geld und Personal. Aber ich glaube, es gibt mittlerweile auch politisch mehr Offenheit für das Thema und immer mehr auch den Willen, wirklich was zu verändern. Und ich freue mich, wenn unser Podcast dazu beiträgt, dass die Menschen das Thema nicht mehr von sich wegschieben, das wäre super.
Das Interview führten Doreen Celine Munke und Linda Elisabeth Lammert. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang „Mehrsprachige Kommunikation“ an der TH Köln.
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