Die Akte Hannes: Eine Lektion für die Jugendhilfe?
Am 26.10.2018 stirbt Hannes. Er galt als Systemsprenger: ein Jugendlicher mit massiv störendem Verhalten, der Schulen und Ämter an ihre Grenzen bringt. In dem Audible-Podcast „Hannes soll kein Russe werden“ von Baran Datlı und Anton Stanislawski, erschienen am 16.7.2021, wird Hannes’ kurzes Leben dokumentiert. Das Projekt führt Hörer*innen mit Interviews, Sprachnachrichten und Kommentaren der Hosts durch das Leben von Hannes und befasst sich mit den vielen Facetten des Jungen. Der für den Grimme Online Award 2022 in der Kategorie „Kultur und Unterhaltung“ nominierte Podcast zeigt einen Bereich unserer Gesellschaft auf, den viele nicht vor Augen haben und dessen Lücken sie nicht kennen. Die Dokumentation versammelt die Ansichten vieler Beteiligter und Expert*innen zu zwei Leitfragen: Hätte Hannes’ Tod verhindert werden können? Und was hätte Hannes gebraucht, um eine Chance im Leben zu haben? Baran Datlı im Interview.
Ihr Podcast „Hannes soll kein Russe werden“ dokumentiert die Geschichte von Hannes, einem Systemsprenger, der im Oktober 2018 verstorben ist. Bei einer solchen Recherche sind sicher jede Menge Hürden zu überwinden – welche Hürden sind Ihnen bei der Recherche begegnet?
Das Wichtigste bei so einer tiefen und privaten Geschichte ist der Bezug zu den Protagonist*innen, da ohne ein gewisses Vertrauen kein Einblick in ihre Geschichte für uns möglich wäre. Als das gegeben war, konnten wir erst anfangen zu recherchieren. Ohne, dass wir beispielsweise die Mutter im Boot gehabt hätten, wäre das gar nicht gegangen. ,Im Boot‘ heißt nicht, dass wir nur aus ihrer Perspektive erzählen, sondern dass sie uns den meisten Zugang bieten konnte. In Schulen oder Jugendhilfe-Einrichtungen wollten viele nicht mit uns sprechen. Ich erinnere mich an Anton, der sehr frustriert war, weil Leute ihn am Telefon beleidigt haben. Außerdem kommt im Podcast eine Jugendhilfe-Einrichtung vor, die Fehler gemacht hat. Da war es erst so, dass der Leiter des Trägers nicht mit uns sprechen wollte, bis wir die Faktenlage durch Dokumente geklärt hatten. Zwangsläufig musste er schließlich doch mit uns sprechen, da er auch Interesse hatte, seine eigene Perspektive aufzuzeigen.
Dass Hannes‘ Geschichte unglücklich in seinem Tod endet, stand bereits fest, als Sie Ihre Recherche begonnen haben. Mit welchen neuen Fakten hat die Recherche Sie dann überrascht?
Was uns überrascht hat, ist, wie überfordert diese Systeme teilweise sind, wenn ein Kind nicht ins Raster passt, und wie viele Kinder eben durch dieses Raster fallen. Aber auch, wie unflexibel die ganzen Systeme sind, sei es Schule oder Jugendhilfe. Es geht im Podcast auch um intensivpädagogische Auslandsmaßnahmen. Das ist eine Sache, die relativ selten gemacht wird. Pro Jahr sind es etwa 800 Kinder, die als schwer erreichbar gelten, welche ins Ausland geschickt werden. Wir dachten immer, das wäre wie eine Resterampe, wo die Kinder abgeschoben werden, damit man sich in Deutschland nicht mehr um sie kümmern muss. Wir haben mit vielen Expert*innen gesprochen, die meinten: Nein, im Gegenteil, es ist wesentlich mehr Arbeit für die Jugendämter und für die ganzen Sachbearbeiter und andere, die Kinder weiterhin zu betreuen – sowohl bürokratisch als auch persönlich für die Familie.
Die Geschichte von Hannes ist traurig, sie ist mitreißend, und wer sie hört, braucht emotionale Stabilität so sehr, dass Sie sogar eine Triggerwarnung am Anfang jeder Folge abgespielt haben. Wie haben Sie sich selbst darauf vorbereitet, in der Recherche mit diesen schwierigen Themen konfrontiert zu werden?
Im Laufe meiner Journalist*innen-Ausbildung hatte ich ein Seminar zum Sprechen mit traumatisierten Protagonist*innen. Das hat sehr geholfen. Und bezogen auf unsere eigene Psyche: Ich glaube, wir waren da überhaupt nicht drauf vorbereitet. Oft stürzt man sich in die Recherche rein und weiß gar nicht, was einen erwartet. Genauso war das bei uns, weshalb wir im Nachhinein sagen würden, dass wir eine Art Anleitung gebraucht hätten. Da es auch um sexuelle Gewalt, um Gewalt als solches und den Tod geht, sollte man immer eine Möglichkeit haben, mit jemandem über die Recherche zu sprechen.
Der Podcast ist so aufgebaut, dass man im Laufe der Folgen immer mehr über Hannes’ Leben erfährt, dass man gemeinsam mit Ihnen bzw. den Podcast-Hosts immer mehr Details seiner Geschichte aufdeckt. Wie kamen Sie auf die Idee, Hannes’ Geschichte so zu erzählen und warum denken Sie, dass es das geeignete Format ist?
Weil Podcast uns die Möglichkeit gibt, tief in die Geschichte hineinzugehen, was viele andere Medien gar nicht haben. Podcast ist da anders und Podcast wird auch ganz anders konsumiert. Im Nachhinein kann man sagen, dass wir zumindest stellenweise Überlänge haben. Mir hat der Chefredakteur eines Magazins gesagt, dass der Podcast viel zu lang sei. Aber er hört sonst auch keine Podcasts, daher kennt er das nicht. Warum wir das auf diese Weise dennoch produziert haben? Wir hatten Tina Ebelt, eine fantastische Dramaturgin. Sie ist Filmregisseurin; ohne ihre Begleitung hätten wir das nicht geschafft. Ohne Dramaturg*innen verliert man als Producer, Produzent*in und Journalist*in den Blick für die Geschichte.
Sie gehen im Podcast auch auf kritische Stimmen ein, die den Umgang mit Hannes – zum Beispiel das Verhalten von Hannes Mutter oder auch des zuständigen Jugendamtes – anprangern. War es für Sie während der langen Recherche eine Herausforderung, eine neutrale Haltung zu bewahren?
Es ist bei sehr persönlichen Geschichten fast immer der Fall, dass die Journalist*in sich das fragen muss: Wie tief darf ich rein? Welche Position habe ich? Wir hatten auch im Laufe der Recherche zum Beispiel sehr engen Kontakt mit der Mutter. Da musste ich auch manchmal deutlich machen: Ich bin Journalist und nicht ihr Seelsorger. Es gab auch Situationen, in denen wir nicht direkt alles ansprechen wollten, weil wir es mit einer traumatisierten Mutter zu tun hatten. Dennoch hat die Mutter von Hannes darauf bestanden, dass jede Art von Frage gestellt wird. Bei den Institutionen und dem Jugendamt hatten wir eigentlich gar keine Bedenken. Die haben eine Aufgabe und diese müssen sie erfüllen. Überall da, wo Menschen Macht besitzen, müssen Journalist*innen härter nachfragen.
Was war denn beim Podcast für Sie journalistisch und persönlich die größte Herausforderung?
Am Anfang haben wir die Dokumente bekommen, und es war schwierig den Überblick zu behalten: Es waren fünf Aktenordner voller ungeordneter Dokumente, die man teilweise nicht lesen konnte, weil das handschriftliche Zettel waren. Diese ganzen Dokumente mussten wir erst mal ordnen, in eine Chronologie bringen und verstehen, was auf der Faktenbasis passiert ist. Dazu kommt noch wahnsinnig viel Material durch die teilweise stundenlangen Interviews. Wir waren zum Beispiel zwei Wochen in Kirgistan. Da haben wir teilweise drei, vier Interviews pro Tag gemacht, jeweils drei Stunden. Aber das war nötig, denn wir wollten ein großes Bild haben.
Wie war denn die Resonanz Ihrer Interviewpartnerinnen und Interviewpartner auf die Zusammenarbeit und auf das Ergebnis, was dann zu hören war?
Im Podcast lassen wir Expert*innen aus Psychologie, Erziehungswissenschaft und Pädagogik die Geschichte einordnen. Die wollen natürlich richtig dargestellt werden. Im Gespräch mit uns haben sie uns gesagt, dass sie damit sehr zufrieden sind. Vom ehemaligen Amtsleiter des Jugendamtes haben wir eine E-Mail bekommen und kurz die Möglichkeit gehabt, mit ihm zu reden. Er meinte, dass das Endergebnis nicht ganz in seinem Sinne sei, aber er fühle sich fair behandelt. Obwohl die Mutter anfangs aus Angst vor ihrem Trauma darauf verzichtet hat sich den Podcast anzuhören, hat sie ihn dann trotzdem gehört. Ein paar Kleinigkeiten haben ihr nicht gefallen. Und damit konnten wir leben, es war in Ordnung.
Welche Rückmeldungen haben Sie von den Hörerinnen und Hörer bekommen?
Bevor der Podcast veröffentlicht wurde, hatte wir am meisten Angst davor, wie andere Praktiker*innen aus der Jugendhilfe oder dem Schulsystem den Podcast finden würden: Ob sie unseren Argumenten zustimmen und vor allem, ob unsere Darstellung der Wahrheit aus der Praxis nahe kommt oder sogar damit übereinstimmt. Ich habe deswegen viele Menschen gefragt, die als Lehrer*in, Sozialarbeiter*in oder Fallbearbeiter*in arbeiten. Eigentlich alle, mit denen ich gesprochen habe, haben uns zugestimmt. Das hat mich sehr erleichtert. Und die Rezensionen der Hörer*innen sind durchweg sehr gut.
Was wünschen Sie sich, was der Podcast bewirkt?
Es sind Kinder, die durch das Raster fallen und die oft einfach vergessen werden. Das passiert auf einer Metaebene, auf die mehr geguckt werden muss, die stärker gefördert werden muss. Auf der persönlichen Ebene ist uns wichtig, dass allgemein schwer erreichbare Kinder länger betreut werden müssen, mindestens fünf Jahre, dass es Bezugspersonen gibt, die sich verpflichten. Auf der politischen Ebene würde ich sagen, muss sich da noch Einiges ändern. Die Auslandsmaßnahmen sind nicht richtig geregelt, die werden nicht richtig kontrolliert. Da geht es jetzt auch ein bisschen um die Fachperspektive. Wir möchten, dass man sich das mehr aus der Sicht der Kinder anschaut und weniger aus der der Erwachsenen. Dass würde dann auch bedeuten, dass man sich Fehler eingesteht, wenn man Fehler macht. Da geht es um Menschenleben, da geht es um Kinderleben. Sachbearbeiter*innen im Jugendamt müssen besser kontrolliert werden können, zum Beispiel durch unabhängige Kontrollinstanzen, wie Ombudsstellen. Diese müssen natürlich unabhängig sein, genügend Ressourcen und Befugnisse haben. Sollten Sachbearbeiter*innen in den Ämtern vorsätzlich Fehler begehen oder ihre Macht ausnutzen, müssen die Verantwortlichen die Konsequenzen tragen. Gleichzeitig muss es aber zu einer gesunden Fehlerkultur dazugehören, dass Fehler gemacht werden können, sie aber dann evaluiert werden und dass sich dann etwas ändert.
Das Interview führten Jeiyan Erten und Esther Giller. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang “Mehrsprachige Kommunikation” an der TH Köln.
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