„Der größte Anschlag Deutschlands“ – Was steckt dahinter?

Angst, Schrecken, Terror – das empfanden die Opfer Anschlags am Berliner Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016. Der radikal-salafistische Tunesier Anis Amri lenkt kurz vor 20 Uhr einen gestohlenen LKW in die Menschenmasse auf dem Weihnachtsmarkt. Er tötet 13 Leute, dutzende Personen werden schwer verletzt. Die Hintergründe des größten islamistischen Anschlags in Deutschland sind bis heute nicht vollständig aufgeklärt. SWR und rbb beleuchten in einem Podcast den Tathergang und das Versagen der ermittelnden Behörden. Der Podcast „BREITSCHEIDPLATZ“ ist für den Grimme Online Award 2022 in der Kategorie Information nominiert. Im Interview berichtet der Podcast-Redakteur Jakob Baumer vom SWR über den Ablauf der Recherche und Produktion sowie die damit verknüpften Herausforderungen während des ganzen Podcast-Prozesses.

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Screenshot „BREITSCHEIDPLATZ“

In Ihrem Podcast arbeiten Sie die Ereignisse rund um den Anschlag am Breitscheidplatz im Dezember 2016 auf. Warum ist ein Podcast Ihrer Meinung nach das richtige Format, um diese Recherche darzustellen?

Grundsätzlich ist ein Podcast für sehr, sehr viele Themen das richtige Format. In dem Fall ist es so, dass Kolleginnen und Kollegen vom rbb schon seit vielen Jahren, im Prinzip seit dem Anschlag selbst, recherchierten und „ermitteln“, was eigentlich dahintersteckt. So lange hat es auch gedauert, bis sie einen Dokumentationsfilm darüber erstellt haben. Als wir erfahren haben, dass sich die Recherche dem Ende zuneigt, dachten wir, dass es eigentlich viel mehr zu erzählen gibt.

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Screenshot „BREITSCHEIDPLATZ“

Im Fernsehen ist es in der Regel so, dass es um die Geschichte selbst geht. Ein Podcast ist dagegen eine wunderbare Gelegenheit, um auch die Geschichte dahinter zu erzählen, also die journalistische Reise mitzubegleiten, weil man im Podcast viel mehr Zeit hat. Und das war unser Ziel. Gerade in der heutigen Zeit wollten wir zeigen, was Journalistinnen und Journalisten leisten und wie wichtig das ist. Denn sie finden andere Dinge heraus als die Polizei und sind häufig unvoreingenommener. Und dementsprechend war uns das ein großes Anliegen, diese Recherche als Podcast zu erzählen.

Was waren die besonderen Herausforderungen bei diesem Projekt?

Die besonderen Herausforderungen waren im Prinzip gleichzeitig Segen und Fluch, da wir den Podcast über drei Ecken produziert haben. Der Auftraggeber war der SWR in Kooperation mit einer Produktionsfirma. Aber die eigentliche Geschichte, also die Ursprungsgeschichte, hat der rbb recherchiert. Das heißt, die Produktion lief immer über mehrere Ecken. Wir haben dann unsere Kräfte gebündelt. So konnte jeder seine Stärken ausspielen. Es war natürlich eine Menge Kommunikation nötig, aber diese Aufgabe haben wir gut bewältigt.

Und ich finde, das ist auch ein schönes Beispiel, wie man in Zukunft sender- und firmenübergreifend arbeiten kann. Ein anderes schwieriges Thema ist diese gewaltige Aktenflut, die vor allem die beiden Autorinnen Birgit Tanner und Simone Schillinger bearbeitet haben. Dies ist eine immense Herausforderung, da sie wochenlang die Akten durchgearbeitet haben. Sie mussten erstmal alle Zusammenhänge verstehen und dann haben wir das Ganze zusammen in eine Geschichte verpackt. An diesem Prozess ist die Polizei, wie wir im Podcast zeigen, häufig gescheitert.

Was möchten Sie mit diesem Podcast bewirken? Ging es Ihnen darum, das Publikum für Anzeichen von Radikalisierung zu sensibilisieren oder was war Ihre hauptsächliche Intention damit?

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Screenshot „BREITSCHEIDPLATZ“

Unser Ansatz war weniger, auf das Problem des Islamismus an sich hinzuweisen. Es geht auch primär nicht unbedingt um die Frage: Wie hat sich Anis Amri radikalisiert? Es geht uns speziell darum, wie man mit dem Geschehen im Nachhinein umgegangen ist. Zwar gibt es viele Dokus dazu, wie so etwas passieren kann: Radikalisierung, und wie Terroristen zu Terroristen werden. Das spielt auch eine Rolle. Aber unser Hauptziel war es zu fragen: Was ist nach diesem Anschlag passiert? Wie konnte es überhaupt dazu kommen? Wie kann es sein, dass ein Mann, der überwacht wurde, der bei etlichen Behörden auf dem Zettel stand, der straffällig geworden und der sogar kurz vor dem Anschlag in Haft war – dass dieser Mann einen Anschlag begehen kann, den schlimmsten islamistischen Anschlag, den es jemals in Deutschland gab? Darüber ist noch nicht so viel berichtet worden, denke ich. Aber die Bevölkerung muss erfahren, wer die Leute sind, die sie beschützen, und wie sie arbeiten. Wie kann man das vielleicht verbessern? Und nur, wenn man das aufdeckt, kann sich auch etwas verändern.

Wie viele Personen waren in welchen Rollen an Produktion und Recherche beteiligt?

Im Kernteam waren wir 18 Personen und zusätzlich Leute, die die Produktion ein wenig von oben begleitet haben. Sie haben geschaut, dass die Koordination und Produktion passen und dass wir alles bekommen, damit wir auch in die richtige Richtung schreiben und produzieren können. Dafür waren die Produzentinnen und Produzenten verantwortlich.

Vor allem waren Sahar Eslah von der 190p GmbH und Thomas Simon vom SWR für die Podcast-Koordination zuständig. Außerdem waren Simone Schillinger und Birgit Tanner für das Kernteam des Schreibens und der Recherche verantwortlich. Zum Schluss habe ich mich um die Dramaturgie und Geschichte gekümmert. Meine Arbeitsschritte waren an die Fragen geknüpft: Wie erzählt man die ganzen Informationen so, dass die Leute das auch gerne hören, es spannend finden und es sie auch weiterbringt?

Darüber hinaus gab es ganz viele Leute, die im Hintergrund mitgearbeitet und uns bei der Recherche unterstützt haben sowie diverse Informationen anonym im Hintergrund angefragt haben. Zusätzlich haben uns die Sounddesigner Jonas Hipper und Jonas Knopf unterstützt. Sie sind für das Schneiden und Produzieren verantwortlich gewesen. Letztlich muss man auch die Leute vom rbb erwähnen, da sie natürlich die Grundgeschichte erarbeitet haben, über die wir berichten. Gemeinsam mit dem rbb haben wir unsere Protagonistinnen und Protagonisten auf ihrer Reise begleitet. Und ohne sie wäre das Ganze natürlich nicht realisierbar gewesen. Ich finde es sehr gut, dass wir sehr viel Unterstützung von vielen Seiten bekommen haben.

Wie lange hat Ihr Team insgesamt von der Idee bis zur Veröffentlichung am BREITSCHEIDPLATZ-Podcast gearbeitet?

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Screenshot „BREITSCHEIDPLATZ“

Wir haben erst spät damit angefangen, den Podcast zu machen, weil wir selbst nicht die Kerngeschichte geliefert haben. Im Prinzip kann man sagen, das Fundament des Podcast ist von den Journalistinnen und Journalisten vom rbb geliefert worden. Eine Kollegin kam im Juni 2021 auf die Idee, dass wir die Recherche mit einem Podcast begleiten können. Dann hat jedoch Corona alles ziemlich verzögert. Besonders Interviews waren sehr schwierig, auch ins Studio konnte man nicht gehen, deswegen hat es sehr lang gedauert, bis wir mit der Arbeit richtig starten konnten. Im Prinzip besteht die Kernarbeit darin, die Skripte fertig zu machen, das Aufnehmen, Schneiden und schließlich die letzten Interviews zu führen. Das waren letztlich ca. drei Monate, aber insgesamt hat das Projekt um die neun Monate in Anspruch genommen.

Halten Sie das Thema jetzt mittlerweile für ausrecherchiert, oder hat die Geschichte noch offene Stränge, die Ihrer Meinung nach noch in weiteren Recherchen verfolgt werden können?

Ausrecherchiert ist es auf jeden Fall nicht, denn es ist immer noch niemand verurteilt oder verhaftet worden. Es ist klar, dass Anis Amri nicht komplett allein gehandelt haben kann. Ich glaube, auch bei der Polizei intern gibt es durchaus noch offene Fragen, die aufzuarbeiten wären, und vor allem Strukturen, die verbessert werden müssten, damit sowas in der Form nicht wieder passieren kann. Es gibt sicher keine hundertprozentige Sicherheit, aber man muss aus solchen Fehlern, wie sie dort gemacht worden sind, lernen. Ich glaube, auch für die Kolleginnen und Kollegen, die seit fünf Jahren da dran recherchieren, ist das Ding noch nicht vorbei. Da kann noch einiges ans Licht kommen. Dann machen wir weiter – wenn es etwas Neues gibt, geht auch unser Podcast weiter.

Das Interview führten Firat Yesilkaya und Tarik Turgut. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang “Mehrsprachige Kommunikation” an der TH Köln.

Breitscheidplatz

Sahar Esla und Jakob Baumer (Breitscheidplatz)
Foto: Rainer Keuenhof / Grimme-Institut