Aitutaki und Alzheimer: „Wir zeigen den Göttern den Mittelfinger!“
Als Romanautorin und Journalistin Claudia Schreiber die Diagnose Alzheimer bekommt, erfüllt ihr Sohn, Lukas Sam Schreiber ihr einen Herzenswunsch, den sie seit über 30 Jahren hegt. Die beiden begeben sich auf eine Reise auf jene Südseeinsel, die Claudia schon so lange fasziniert: Aitutaki. Auf dieser Reise entsteht der achtteilige Audible-Podcast „Aitutaki Blues“, eine herzerwärmende Mutter-Sohn-Geschichte. Die Zuhörer*innen erlangen private Einblicke in das Leben mit der Krankheit Alzheimer, in die Gefühlswelt einer Betroffenen und Gespräche über den Sinn des Lebens und den Tod.
Der Podcast „Aitutaki Blues – Die letzte Reise mit meiner Mutter und Alzheimer“ ist für den Grimme Online Award 2022 in der Kategorie „Kultur und Unterhaltung“ nominiert. Im Interview spricht Lukas Sam Schreiber über seinen Podcast, die Beziehung zu seiner Mutter, die Krankheit Alzheimer und zukünftige Projekte.
In deinem Podcast dokumentierst du die Reise mit deiner Mutter nach Aitutaki, ihren letzten großen Wunsch. Wann kam bei dir die Idee auf, eure Gespräche aufzunehmen und damit an die Öffentlichkeit zu gehen?
Lukas Sam Schreiber: Dazu muss man zunächst den Hintergrund meiner Familie kennen. Wir sind eine sehr ‚publizierende‘ Familie. Mein Vater war Auslandskorrespondent und Kriegsreporter im Tschetschenienkrieg und im Kosovokrieg. Wir sind aufgrund seiner Arbeit nach Moskau gezogen, als ich zwei Monate alt war. Meine Mutter war vorher Journalistin und fing dort an, als Schriftstellerin tätig zu werden. Sie hat in ihrem Leben mehr als zehn Bücher geschrieben, darunter Romane und Kinderbücher. Es handelt sich also um eine kleine Familientradition, dass wir publizistisch arbeiten. Als klar war, dass meine Mutter und ich nach Aitutaki fliegen, lautete der zweite Satz meiner Mutter: „Was machst du daraus?“ Wir heißen Schreiber mit Nachnamen und genau das ist auch unser Talent. Deswegen stand für uns beide sofort fest, dass ich unsere Reise auf irgendeine Art und Weise dokumentieren werde. Meine Mutter hatte zunächst die Idee, dass ich ein Buch dazu schreibe, was ich nun mache und welches ich im Herbst herausbringen werde. Mein Handwerk oder das Medium, für das ich am meisten Leidenschaft aufbringe, ist jedoch der Podcast. Somit stand fest, dass ich unsere Gespräche aufnehmen werde.
Welche Zielgruppe möchtest du mit dem Podcast ansprechen?
Lukas Sam Schreiber: Wenn man solch ein Projekt umsetzt, nimmt man verschiedene Rollen ein. In der produzierenden Rolle habe ich selbst gar nicht darüber nachgedacht, welche Zielgruppe ich genau ansprechen möchte. Unsere Podcast-Agentur, mit der wir „Aitutaki Blues“ produziert haben, besteht hauptsächlich aus ehemaligen Musikproduzenten. Es geht eigentlich in dem ganzen Prozess immer nur darum, wie wir das Narrativ so gut wie möglich ausgestalten können und wie das Projekt so wahnsinnig wie möglich klingen kann. Die Leute, die sich das schließlich anhören, kommen von selbst. Wenn es um die Verbreitung des Mediums geht, kristallisiert sich erst die konkrete Zielgruppe heraus. Während der Produktion steht das nicht im Vordergrund. Im späteren Verlauf der Produktion, und als der Podcast dann veröffentlich wurde, hat sich jedoch herausgestellt, dass jede und jeder jemanden kennt, der oder die bereits mit Alzheimer in Berührung gekommen ist. Dieses Thema ist im Leben fast aller Menschen präsent. Ich habe im Nachhinein auch von vielen Pflegekräften Mails bekommen. Eine Pflegekraft meinte, dass sie seit zehn Jahren mit Demenzerkrankten arbeitet und jetzt erst durch den Podcast verstanden hätte, wie sich diese Menschen fühlen. Das ist ein großes Kompliment für mich. Es ist etwas ganz Besonderes, wenn man diesen Nerv trifft. Im Großen und Ganzen ist die Zielgruppe demnach, wie man so schön sagt, „alle, die Podcasts hören“ – und im weiteren Sinne alle, die mit Alzheimer in Berührung gekommen sind.
Über Alzheimer gibt es noch sehr wenig Aufklärung, vor allem, da die Krankheit selbst noch nicht ausreichend erforscht ist und die Gründe für ihre Entstehung nicht ganz klar sind. Uns hat der Podcast sehr geholfen, einen neuen Einblick in die Krankheit zu bekommen und die Situation von Betroffenen besser einzuschätzen. War es dein Ziel, mit dem Podcast darüber aufzuklären und Angehörigen von Betroffenen zu helfen?
Lukas Sam Schreiber: Ich hatte die ganze Story vorher nicht im Kopf und wusste gar nicht, wie die Gespräche verlaufen werden. Der Podcast beinhaltet unterschiedliche Ebenen. Es ist unter anderem eine Mutter-Sohn-Geschichte, in der diese ganz besondere Bindung thematisiert wird. Es ist oft so, dass Männer sich in so einer Beziehung am weichsten und verletzlichsten darstellen. Dann wird man plötzlich in eine Rolle reingedrückt, wo man mutig sein muss, auch wenn man das eigentlich gar nicht möchte. Diese Rolle macht die Geschichte sehr besonders. In dem Podcast stelle ich mich nicht in einer Position dar, in der ich vollkommen verstanden habe, wie mit Alzheimer umzugehen ist. Ich möchte auch nicht explizit mit Fakten darüber aufklären. Das Ziel ist es eher, zu vermitteln, wie sich Alzheimer für Betroffene wirklich anfühlt. Das können wenige Leute besser beschreiben als meine Mutter Claudia. Sie schafft es, wirklich zu beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn man des eigenen Instruments beraubt wird, und wie es ist, wenn man sich zuvor immer so sehr auf seinen eigenen Kopf verlassen hat. Wir sind keine Experten, aber wir möchten die Zuhörerinnen und Zuhörer insofern bewegen, wie sie mit betroffenen Menschen umgehen.
Deine Mutter sprach davon, dass sie durch unser Gesundheitssystem viel Hilfe erhält. Wo siehst du noch Schwachstellen in der Gesellschaft, was den Umgang mit der Krankheit betrifft?
Lukas Sam Schreiber: Wir haben, was den Umgang mit der Krankheit in der Gesellschaft betrifft, sehr viel Glück in Deutschland. Meine Mutter wird in jeder möglichen Maßnahme, die sie sich wünschen kann, unterstützt. Die Krankenversicherung deckt alles ab: Ergotherapie, Physiotherapie oder Neuropsychologie… das ist sehr toll und freut mich wirklich sehr. Die Schwachstelle liegt jedoch in der Forschung. Ich war im Anschluss an die Produktion mit vielen Forschungsinstituten im Kontakt. Unter anderem habe ich beim Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen nachgefragt, an welchem Punkt sich die Forschung bezüglich Alzheimer befindet und welche Fortschritte es gibt. Darauf habe ich die Antwort erhalten, dass es bisher kaum Fortschritte gibt, die Entstehungsgründe der Krankheit noch nicht herausgearbeitet werden konnten und es auch kein Medikament gibt, das wirklich gegen Alzheimer hilft und den Prozess nicht nur verlangsamt oder große Nebenwirkungen hervorruft. Was sich nun wirklich verändern muss, ist der Umgang mit betroffenen und kranken Menschen und wie man sie unterstützen kann. Es handelt sich bei Alzheimer-Patienten zudem nicht um die Zielgruppe, an denen die Pharmaindustrie oder die Krankenhäuser gut verdienen könnten. Deswegen sind die Incentives auch nicht richtig gesetzt. Da kann dementsprechend noch richtig viel passieren.
Wir haben beim Zuhören ein Wechselbad der Emotionen durchlebt, öfters geschmunzelt, auch mal gelacht, aber oft kamen uns auch ein paar Tränen. Das Thema ist sehr emotional. Wie war das für euch, so offen über die Krankheit Alzheimer und auch über den Tod zu sprechen?
Lukas Sam Schreiber: Zum einen handelt es sich bei dem Podcast tatsächlich nur um eine Vertonung der Verbindung, die meine Mutter und ich schon vorher hatten. Wir sind sehr kommunikativ und haben auch vorher schon immer über alles geredet. Die Gesprächsthemen gingen stets sehr in die Tiefe und wir sind sehr offen zueinander gewesen. Ich habe es genossen, so aufzuwachsen. Deswegen hat es mich nicht überrascht, dass wir Tacheles über alles sprechen konnten – besonders darüber, wie sich die Krankheit für meine Mutter anfühlt. Wie sich das anfühlt, wenn man feststellt, dass man nie wieder knutschen wird, weil – so wie Claudia selbst sagt – sich niemand in demente Frauen verliebt. Das ist ein richtig, richtig großer Frust, den meine Mutter verspürt. Mir tut das unglaublich leid, solche Worte von ihr zu hören. Aber ich verstehe auch, wenn sie sagt, sie möchte den Albtraum dieser Krankheit nicht erleben und dass sie mit dem Gedanken spielt, sich das Leben zu nehmen. Das ist nicht lebensmüde, es tut meiner Mutter einfach weh, so zu existieren. Ich habe im Nachhinein den Begriff der Sublimierung gelernt, das ist die kreative Auseinandersetzung mit noch nicht bestehenden Traumata. All die Gespräche mit Claudia waren für uns beide eine kreative Auseinandersetzung mit ihrer Krankheit. Ich kenne jeden Satz von ihr in- und auswendig, sie haben einen langen Mietvertrag in meinem Gehirn. Dafür bin ich sehr dankbar, denn jetzt gehe ich mit einer neuen Festigkeit mit dieser Situation um und ich weiß, wie ich für Claudia am allerbesten da sein kann. Ich bin mir auch der Fehler, die ich vorher in der Kommunikation gemacht habe, bewusst und werde diese nie wieder machen. Das wäre alles nicht passiert, wenn wir diesen Podcast nicht gemacht und so klar über alles gesprochen hätten.
Die Veröffentlichung des Podcasts ist jetzt ein Jahr her. Welches Feedback hast du seitdem von nahestehenden oder auch fremden Personen erhalten?
Lukas Sam Schreiber: Ich habe ausschließlich tolles Feedback bekommen. Das ging runter wie Öl. Die Leute lieben meine Mutter und das auch zurecht, denn sie ist wirklich wundervoll. Ich bekomme also eigentlich nur mit, was für eine großartige Mutter ich habe. Was aber tatsächlich sehr interessant ist, ist, dass viele junge Männer mir sagen, dass sie noch nie so offen mit ihrer Mutter gesprochen haben und dass ihnen diese Art von Kommunikation – die Claudia und ich in unserem Podcast zeigen – völlig fremd ist. Einige haben mir erzählt, dass sie sich nach unserem Podcast mit ihrer Mutter hingesetzt haben und Fragen gestellt haben, die sie zuvor noch nie gestellt hatten. Das finde ich richtig klasse und freut mich wahnsinnig!
Der Podcast und die tiefgründigen Gespräche mit deiner Mutter haben sicherlich deine Sichtweise auf das Leben geprägt. Welche Aussagen deiner Mutter haben dich am meisten berührt und was konntest du selber aus dem Projekt lernen?
Lukas Sam Schreiber: Meine Mutter ist berühmt für ihre One-Liner, die sich bei mir für immer eingeprägt haben, wie zum Beispiel: „Gut geschüttelt ist halb gebügelt.“ Daran muss ich jedes Mal denken, wenn ich meine Wäsche mache. Ganz am Ende des Podcasts sagt Claudia: „Es ist mein Leben, ich kann wählen.“ Das hat mich sehr lange beschäftigt. Bevor wir nach Aitutaki geflogen sind, hatte ich eine typisch postmoderne, nihilistische Einstellung. Ich habe mich oft gefragt: „Warum machen wir das überhaupt alles? Wir werden geboren, um dann krank zu werden und zu sterben.“ Aber nach unserer gemeinsamen Reise habe ich verstanden: „Genau dafür leben wir!“ Meine Mutter sagt immer: „Wir zeigen den Göttern den Mittelfinger und machen es dennoch.“ Etwas, was mich auch sehr geprägt hat, ist ihre große Arbeitswut. Claudia hat immer gearbeitet, egal in welcher Lebensphase und egal, wo sie war und sie hat sehr viel daraus gezogen. Auch ihre Art, wie sie ein Narrativ aufbaut, wie sie über Geschichten redet, über Geschichten nachdenkt und wie es ihr gelingt, den roten Faden des Lebens wahrzunehmen, hat mich berührt. Man wertet inkrementelle Arbeit auf, wenn man beispielsweise allein arbeitet und ein Buch schreibt, so wie es meine Mutter ihr Leben lang gemacht hat. Es ist wichtig zu wissen, dass wenn man sich jeden Morgen an den Schreibtisch setzt und nur ein paar Sätze schreibt, am Ende ein tolles Buch entsteht. Diese Einstellung habe ich von ihr übernommen. Ich kann gar nicht aufhören, Sachen aufzuzählen, die ich von ihr gelernt habe. Sie ist mit Abstand die prägendste Frau in meinem Leben.
Der Podcast schließt mit einer Geschichte deiner Mutter aus der Zeit, als du noch sehr klein warst und ihr in Moskau gelebt habt, ab. Ist mit dieser Folge das Projekt für dich abgeschlossen oder hast du eventuell vor, es fortzuführen?
Lukas Sam Schreiber: Gut, dass ihr fragt! Ein Thema, welches sich durch den ganzen Podcast zieht, ist die Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben und besonders die Art und Weise, wie man von der Welt gehen möchte. Auch als wir von Aitutaki zurückkamen, kam ständig diese sehr konkrete Frage auf. Eines der Probleme bei Alzheimer ist, dass Claudia sich oft nicht an vergangene Gespräche erinnern kann. Ich habe also angefangen, Möglichkeiten zu recherchieren, wie sie sterben könnte. Die Sterbehilfesituation in Deutschland hat sich rapide verändert, seitdem das Verfassungsgericht Anfang 2020 das Verbot über die geschäftsmäßige Sterbehilfe aufgehoben hat. Diese Möglichkeit ist für meine Mutter aber komplett ausgeschlossen. Für Demenzerkrankte spielt Sterbehilfe keine Rolle, da sie nicht die freie Willensentscheidung dafür haben. Das ist gut so, denn ich denke nicht, dass Claudia sterben möchte, sondern vielmehr, dass sie Angst davor hat, wie es für sie weitergeht. Wir haben sehr viel darüber geredet und schließlich eine Produktion mit sterbenden Menschen gestartet. Dabei handelt es sich um Menschen am Rande ihres Lebens, die mir erzählt haben, wie sie auf ihr Leben blicken. Meine Mutter ist auch ein Teil davon. Jedoch kommen wir jetzt an einen Punkt in ihrer Krankheit, wo nicht mehr so viel möglich ist. Daher handelt es sich wahrscheinlich um das letzte gemeinsame Projekt. Ansonsten schreibe ich zurzeit das Buch zu „Aitutaki Blues“, wozu ich mich zusammen mit meiner Mutter auf den Balkon gesetzt habe und ihr daraus vorgelesen habe, da sie selbst nicht mehr lesen kann. Sie hat mir sehr gute Hinweise gegeben. Als ich ihr vorlas, sagte sie plötzlich zu mir: „Lukas, ich kann jetzt noch gar nicht sterben, ich muss doch zu deiner ersten Lesung!“ Das hat mich sehr gefreut. Claudia ist also immer noch sehr involviert in alles, was ich tue und gibt mir wichtige Ratschläge. Das wird sicher noch eine ganze Weile so bleiben.
Das Interview führten Hannah Bennett und Paulina Silva Ribeiro. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang „Mehrsprachige Kommunikation“ an der TH Köln.
Sehr gelungenes Interview (Paulina Silva Ribeiro / Hannah Bennett) mit Lukas Sam Schreiber über seinen berührenden Podcast.
Aitutaki Blues ließ mich tatsächlich lachen und weinen gleichzeitig. Eine herzergreifende und gnadenlos ehrliche „Hör-Doku“ über die Reise eines Sohnes mit seiner an Alzheimer erkrankten Mutter nach Aitutaki!