„Sowas hinterlässt Traumata“
Im Herbst 2019 ruft der Autor und Journalist Christian Bangel auf Twitter den Hashtag #baseballschlägerjahre ins Leben. Der Begriff soll die Zeit der Nachwendejahre in Deutschland beschreiben, die vor allem im Osten von vielen mit rechter Gewalt, Hass und Brutalität verbunden werden. Tatsächlich scheint der Begriff so bezeichnend, dass er mittlerweile für zahlreiche Betroffene als Sprachrohr gilt und eine Aufarbeitung der vielen unterschiedlichen Erfahrungen erst ermöglicht. Unter anderem entstand eine Website und eine sechsteilige Videodokumentation in Zusammenarbeit mit dem Rundfunk Berlin Brandenburg (rbb) und ZEIT ONLINE.
„Baseballschlägerjahre“ ist für den Grimme Online Award in der Kategorie „Spezial“ nominiert. Im Interview spricht Christian Bangel über seine eigenen Erfahrungen in den Baseballschlägerjahren, Gefahren von rechts und die Sorglosigkeit der Mittelschicht.
Herr Bangel, hunderte Menschen haben bisher unter dem Hashtag #baseballschlägerjahre ihre Erfahrungen mit rechter Gewalt in den Wendejahren in Deutschland geteilt und es werden immer mehr. Mittlerweile hat sich der Begriff regelrecht etabliert und wird sogar von anderen Medienschaffenden reproduziert. Wie kamen Sie auf den Begriff?
Ich habe vor ein paar Jahren ein Buch geschrieben. Es ging um Frankfurt (Oder) in den 90ern, und es ging in einem großen Teil des Buchs genau darum, worum es bei dem Begriff „Baseballschlägerjahre“ geht. Mir ist der Begriff irgendwie in den Kopf gekommen und ich hatte auch mal mit dem Gedanken gespielt, mein Buch so zu nennen. Der Gedanke ist dann aber verschwunden und erst später wiedergekommen, und zwar als ich diesen Text von Hendrik Bolz, dem Rapper Testo, gelesen habe. Das war so drastisch, was der da über seine Jugend in Stralsund schrieb, so eingängig, so klar. Dass die Faschos an der Supermarktkasse saßen und der große Bruder vom besten Freund waren und dieses super Präsente im öffentlichen und privaten Raum… Das war das, was diese Jahre so ausmachte und da fiel mir dieser Begriff ein.
Jonas Schaible, der heute beim Spiegel arbeitet, hat das damals bei Twitter begleitet und meinte dann auch: Eigentlich ist dieser Begriff viel zu lang für einen Hashtag. Man kann damit nicht gut twittern. Es ist nicht eingängig genug, nicht kurz genug. Das hat sich aber als falsch herausgestellt. Dieser Begriff ist offensichtlich so sprechend, dass er sich verselbstständigt hat. Das ist für mich eine große Ehre. Da bin ich unfassbar stolz drauf und kann nur sagen, es ist politisch betrachtet gut, dass es dafür einen eingängigen Begriff gibt, der das sofort klar macht und der, auch das gehört zum Thema dazu, Vergleichsmöglichkeiten offenbart. Dass ich den jetzt kreiert habe, ist reiner Zufall.
Sie haben es gerade selbst schon angesprochen: Der Begriff hat sich verselbstständigt. Hätten Sie damals, als Sie den Hashtag ins Leben gerufen haben, mit dieser Welle an Beiträgen und Interaktionen unter dem Hashtag gerechnet?
Nein, natürlich nicht. Was hatte ich damals? 2.000 Follower oder sowas. Also, nicht so viele. Natürlich wusste ich, dass es Leute gibt, die das Thema kennen, aber nicht, dass es so eine Welle wird. Es gibt noch unerforschte Räume und Gesetze von Social Media. Dazu gehört, warum manche Sachen fliegen und manche nicht. Hier kann ich es mir inhaltlich ganz gut erklären, aber es ist natürlich auch eine gehörige Portion Glück dabei. Ich glaube, es gibt viele Initiativen und Hashtags, die haben dieses Glück nicht und die versanden unglücklicherweise.
Jetzt ist es ja nicht nur so, dass der Hashtag viel genutzt wurde, er war auch für viele Betroffene, die ihre Geschichte bisher nur im Privaten oder auch gar nicht erzählt haben, ein Sprachrohr. Was glauben Sie, woran das liegt?
Der Begriff ist relativ eingängig, so bildlich, dass er sofort schmerzhafte Assoziationen auslöst und genau darum geht es: Den Schmerz dieser Zeit zu übermitteln; den Schmerz der Schläge und den Schmerz der Angst, die es damals gab. Man muss sich das wirklich vor Augen führen: Eine hilflose, eine wehrlose und eine ideenlose Polizei, zum Teil auch eine Polizei, bei der es nicht nur Faulheit oder nicht nur Unfähigkeit, sondern auch Feigheit war. Eine entfesselte Jugendbewegung, die weit in den Mainstream reinreichte, mit unfassbarer Brutalität und auch der Bereitschaft zu töten. Wer jemanden mit Eisenstangen oder Baseballschlägern auf den Kopf geht, der möchte töten oder der nimmt es in Kauf zu töten. Es reichte damals, lange Haare zu haben, damit einfach zehn Leute auf der Straße auf einen losrannten, mit dem Ziel, einen windelweich zu prügeln. Sowas hinterlässt Traumata. Offensichtlich war das nicht nur bei mir so. Dieses Sprachrohr-Ding kommt, glaube ich, erstmal aus dem Begriff heraus und dann aber auch aus dem unglaublichen Erfahrungsschatz, der dahintersteckt. Das ist eine üble Welt, die für zehn, zwanzig Jahre Lebenswelt von vielen war, besonders im Osten, aber nicht nur da.
Aus dem Hashtag ging die Videoserie „Die Baseballschlägerjahre“ hervor. Eine Zusammenarbeit mit dem rbb, ZEIT ONLINE und der Produktionsfirma Berlin Producers, bei der in sechs Folgen verschiedene Geschichten aus den Baseballschlägerjahren erzählt werden. In der ersten Folge besuchen Sie selbst Ihre Heimatstadt Frankfurt (Oder). Was war das für ein Gefühl, sich nicht nur mental, sondern auch physisch zurück in diese Zeit zu versetzen?
Frankfurt (Oder) ist ja nicht so weit entfernt von Berlin. Das ist eine Stunde mit dem Regionalexpress. Ich bin da zum Glück immer mal wieder und habe auch während der Arbeit an meinem Buch 2016 und 2017 wieder viel stärkeren Kontakt zur Stadt aufgenommen. Es ist toll, seine Heimatstadt direkt vor der Nase zu haben und dort hin und wieder hin zu können. Frankfurt (Oder) ist auch unglaublich schön. Etwas Anderes war die Recherche an dem Film, also an meinem Teil des Films, weil ich ein paar Monate vorher so richtig in das Archivmaterial aus den 90ern und den 2000ern reingegangen bin und da medial aufbereitete Berichte über damals aktive Neonazis nachverfolgt habe. Auch über die Szene, über Gegenkulturen. Das war noch mal ein Flashback und ging sehr tief. Unter anderem habe ich im Zuge der Recherchen herausgefunden, dass eine der Kameradschaften, die in den frühen 2000ern in Frankfurt (Oder) aktiv waren, keine fünfzig Meter von meiner Wohnung, in der ich aufgewachsen war, lebte. Da gab es so eine Nazi-WG. Die war in Sichtweite meines Kinderzimmerfensters. Das ist mir erst klar geworden, dass es noch viel näher war, als ich dachte. Und auch welche Konstruktion diese Nachwendezeit im Osten insgesamt war. Dieses Zusammen von zerrütteten sozialen Strukturen, ökonomischem Niedergang, Weggang und Verlust von Autoritäten und einem aufstrebenden Neonazi-Milieu. Das ist einfach so bitter, dass man sich danach natürlich schon noch mal fragt: Was hat das eigentlich mit mir gemacht? Was ist davon übriggeblieben? Ich merke bis heute, dass da Formen von Angst in mir sitzen und Furcht vor Gewalt, die mich prägt. Ich glaube, das ist bei jedem so, der das damals miterlebt hat. Was ich wirklich unterstreichen muss und nicht zu selten betonen will: Natürlich waren wir weiße, linke – oder: nicht rechte – Kids weniger betroffen als BIPoC-Menschen und auch Obdachlose. Wir hatten einfach unsere Fluchträume, wir hatten Safe Spaces. Wir hatten einen anderen Status, wenn wir uns mal an die Polizei oder an die Lehrer oder an die Eltern oder an sonst wen gewandt haben. Das ging einfach noch viel schlimmer als bei uns. Deswegen ist es so gut, dass Menschen wie Katharina Warda, die eine ostdeutsche und eine schwarze Person ist, sich jetzt melden und auch diese Perspektive einbringen. Der Osten tendiert bis heute manchmal dazu, sich für was Homogenes zu halten, für irgendeine Art von arbeiterlicher Hauptkultur und es ist wichtig, dass sich mit den Jahren immer mehr herausschält, dass diese Gesellschaft auch vielfältig war und, dass es vor allem eben auch eine Nachwendegeneration gibt, die sich jetzt meldet.
Früher waren sie auf den Straßen anzutreffen: Rechtsextreme, gewaltbereite Jugendliche in Bomberjacken und Springerstiefeln. Auch wenn sie diese Erkennungszeichen nicht mehr offen tragen, haben nicht alle die Ideologie abgelegt und sind heute unter anderem in der Politik, in öffentlichen Ämtern oder sogar bei der Polizei tätig. Was für Gefahren birgt das?
Ich kann nicht anders, als den Begriff und die Zeit der Baseballschlägerjahre im Kontext des Heute zu sehen. Es beginnt damit, dass bestimmte Strukturen damals entstanden sind, aus einem Zusammengehen von ost- und westdeutschen Gegebenheiten. Also im Klartext: Es kamen damals einfach eine ganze Menge Neonazis aus dem Westen in den Osten. Leute wie Christian Worch oder Michael Kühnen förderten bestehende Neonazi-Strukturen im Osten und da wurden dann auch Ost-Nazis groß, zum Beispiel Ingo Hasselbach, der dann ausgestiegen ist oder bei uns in Frankfurt (Oder) Jörg Hähnel. Dazu gab es einen Zuzug einer ganzen Reihe westdeutscher Rechtskonservativer. Von der Beamtenebene über die Ministerialbürokratie, in den Polizeien, in den Gerichten, aber eben auch auf Privatunternehmer-Ebene. Alexander Gauland ist ein gutes Beispiel, oder jetzt auch Björn Höcke. Das heißt, da ist eine ganze Menge zusammengekommen, damals in dieser Zeit, was bis heute wirkt. Insbesondere in manchen ländlichen Regionen. Ich habe mit jemandem gesprochen, der in Sachsen-Anhalt die Szene beobachtet und der berichtete von einer Demo in Köthen 2018, nachdem dort angeblich ein Geflüchteter kriminell geworden sei. Dort stand dann gleich eine Riesen-Neonazi-Demo an. Der hat die beobachtet und meinte, das war wie ein Klassentreffen der 90er-Jahre. Keiner von der damaligen Zeit war da nicht dabei. Die Leute sind jetzt 40, 50, manche 60 Jahre. Es ist Zeit vergangen, aber bei dieser Demo, sagte er, waren alle dabei. Was noch dazu kommt ist, dass die zum Teil ihre Kinder mitbringen. So kann man es ganz polemisch zusammenfassen. Gleichzeitig gibt es jetzt im Osten auf der politischen Ebene die AfD, die versucht von dem demographischen Ungleichgewicht im Osten zu zehren. Der Osten hat seit der Wende drei bis vier Millionen Menschen verloren. Oft sind die Jungen gegangen, oft sind die Gebildeten gegangen und natürlich verbleibt eine Restwählerschaft, aus der die AfD einen demographischen Vorteil zieht. Das ist einer von vielen Gründen. Die Neue Rechte, die Querdenker, die Rechtsextremen, die Neonazis Deutschlands versuchen nicht umsonst jetzt in den Osten zu gehen, also verstärkt dort Immobilien zu kaufen, die zu beziehen, weil sie spüren, dass im Osten ihre Chancen am größten sind und weil sie dort auch auf eine teilweise 20, 30 Jahre lange Basisarbeit zurückgreifen können, die Neonazis dort gemacht haben und die, das muss man sagen, von konservativen politischen Kräften auch immer wieder aufs Neue ignoriert wurde. Dass in einer Region, wie Süd-Thüringen, wo mehrere bekannte Neonazis seit langem aktiv sind, unter anderem Tommy French in Hildburghausen, dass ein CDU-Verband in einer solchen Region sich genötigt sieht, rechter zu werden, um die AfD zu schwächen, statt anzusprechen, was das Problem in dieser Region sein könnte. Das zeigt, dass die Baseballschlägerjahre ganz tiefe Auswirkungen auf die Gegenwart haben. Ich hoffe, das geht gut aus. Wir müssen insbesondere im Osten, aber nicht nur dort, versuchen diesem Vormarsch Einhalt zu gebieten, und zwar auch insbesondere auf der Seite der Konservativen. Dort, wo neoautoritäres oder autoritäres, trumpistisches, staats- und elitenfeindliches Gerede laut wird, da sollte man skeptisch werden. Auch, wenn es in angeblich demokratischen Parteien stattfindet.
Wie sollte Deutschland Ihrer Meinung nach zukünftig mit Rechtsextremismus umgehen?
Das ist recht komplex. Das sind mehrere Stränge und auch ich sehe nicht alle davon. Ich sehe auch nur ein paar und wie ich die akzentuiere, ist nur meine Meinung. Nach meiner Beobachtung gibt es in Teilen der Gesellschaft, und insbesondere im konservativen Lager, aber auch insgesamt im Bereich der deutschen Mittelschicht, eine große Sorglosigkeit, was den Aufstieg der neuen Rechten angeht, oder was diese neurechten Welt- und Gesellschaftskonzepte angeht. Das beginnt damit, dass man lange Zeit glaubte: „Das sind ja nur die Bomberjackenheinis und die sieht man ja nicht mehr auf der Straße, also gibt es das Problem nicht.“ Man hält sich für immun, wegen des Holocausts und Auschwitz und des Nationalsozialismus, aber diese Immunität ist eine Chimäre. Das ist auch nicht nur eine Bewegung der Doofen, wie man es früher oft geglaubt hat, sondern es gibt inzwischen eine internationale Bewegung. Selbst der Trumpismus aus den USA ist davon nur ein Teil. Wir haben den – ich möchte fast sagen – neuen Faschismus als politische Bewegung in weiten Teilen des Westens. Er nimmt manchmal Formen an wie die von Viktor Orbán: Es gibt einen Orbánismus, es gibt einen Trumpismus, es gibt davon regional spezifische Formen und nichts schützt uns Deutsche davor, dass wir nicht auch irgendwann autoritär regiert werden. Dass die gesellschaftlichen Mehrheiten sich so verändern, dass die ihre 40 Prozent haben, die sie brauchen. Faschisten brauchen selten Mehrheiten, die brauchen bloß relative Mehrheiten. Dieser Kampf gegen Cancel Culture und Identitätspolitik beweist auch, dass man in Teilen der Mittelschicht offensichtlich die Bedrohung seitens der Linken für viel relevanter und größer hält als die durch die Rechten. Da muss man auch sehen, dass im Osten ein Raum besteht, in dem Neonazis uneingeschränkt agieren können. Ich weiß gar nicht, ob man das so bemerkt im Westen, aber es geschieht immer häufiger, dass bei Querdenker-Demos Polizisten niedergeknüppelt werden, dass Festnahmen unmöglich gemacht werden, dass die Polizei sich richtig zurückziehen muss, dass die überrannt wird. Wir haben in vielen Kleinstädten Kampfsportvereine, wir haben etablierte Neonazi-Strukturen, wir haben manchmal ein Vermischen aus Ex-Neonazi und CDU, wie wir es letztes Jahr in Sachsen-Anhalt gesehen haben und das wird nicht ernst genug genommen. Wenn wir nicht genau aufpassen, schauen wir uns in fünf bis zehn Jahren im Osten um und müssen feststellen: Da gibt es nicht nur eine starke politisch rechte Kultur und eine starke AfD, dort gibt es auch Straßentruppen, die aktiv sind und verhindern, dass da überhaupt irgendjemand außer den Linken demonstriert. Ich möchte erinnern, dass es in den 90er-Jahren das Konzept der sogenannten „national befreiten Zone“ gab. Das war ein explizites Neonazi-Konzept und das sah vor, dass in den Regionen, wo die Nazis regieren, niemand, der links ist, demonstrieren kann. Dass wir zu solchen Zuständen kommen, das ist nicht mehr so weit entfernt, wenn man sich manche ländlichen Räume des Ostens anschaut. Obwohl sich übergroße Mehrheiten jedes Jahr aufs Neue bei den Landtagswahlen dagegen aussprechen, sehen wir, dass die relative Kraft der AfD wirklich zunimmt. Da muss man aufpassen, denn das ist nur das Ergebnis eines größeren gesellschaftlichen Prozesses, der einfach nicht gestoppt wird.
Wir haben jetzt über die Vergangenheit gesprochen, wir haben auch über die Gegenwart geredet. Wagen wir einen Blick in die Zukunft: Was meinen Sie, wie wir in 30 Jahren auf den Rechtsextremismus der 2020er zurückblicken?
In 30 Jahren… da werde ich 72 sein. Das ist ein großer Zeitraum. Vor 30 Jahren war die Wiedervereinigung. Ich möchte nicht als Kassandra gelten, aber die Gefahren, die uns drohen, liegen viel früher. Es kann sein, dass wir in 30 Jahren seit 20 Jahren ein steinernes, halbautoritäres Regime haben, das formell noch auf dem Boden des Grundgesetzes fußt, aber dessen demokratischen Prinzipien höchst theoretisch sind. Wir sehen an einigen europäischen Staaten, wie sowas gehen kann. Wir sehen, wie schnell etablierte Demokratien aushöhlen, da reicht manchmal eine politische Figur, ein alles überwölbendes politisches Thema, eine gelungene Kampagne, um sowas nachhaltig auszulösen. Ich glaube, wir bilden uns da in Deutschland viel Sicherheit ein, die wir nicht haben. Das Problem ist immer, zumindest in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, dass der Faschismus immer über den Konservatismus und den Nationalliberalismus in die Politik und die Demokratie eindringt. Das schwächste Glied der Kette ist der Konservatismus. Da bin ich mir nicht sicher, wie das überhaupt 30 Jahre lang stabil sein soll. Ich habe dieses Grundvertrauen einfach nicht. Ich sehe ein paar gesellschaftliche Prozesse, die wirken international, die werden auch auf Deutschland wirken. Die Frage ist, wie stark hier die Gegenwehr ist. Wenn ich mir dann angucke, wie die Bürgerlichen, die Konservativen, die gesellschaftliche Mitte gerade reagieren… deren größtes Problem scheint derzeit eher linke Identitätspolitik zu sein, oder dass schwarze Menschen sich mal melden, oder das Ostdeutsche gehört werden wollen. Das empfinden die alles als Riesen-Angriffe, aber dass sich in den Provinzen eine neue Rechte breitmacht und dort inzwischen stärker ist als die Polizei, das ist – wie es auch in den 90ern war – anscheinend ein nachrangiges Problem und das macht mich wahnsinnig wütend. Wenn ich dieses Land so ernst nehme, wie ich es als Schüler in den 90ern in Politischer Bildung immer gehört habe, nämlich: „Hier ist eine Demokratie. In der gilt das Grundgesetz, in der gilt Minderheitenschutz und wir sind sicher, dass sowas wie 1933-1945 nicht mehr passieren wird.“, dann bestehe ich darauf, dass die gesellschaftlichen Eliten ihre Verantwortung ernst nehmen und sehen, dass es eine faschistische Bewegung gibt, auch in Deutschland, und dass der Einhalt geboten werden muss.
Wie geht es jetzt weiter? Können wir weitere Projekte im Zusammenhang mit dem Hashtag #baseballschlägerjahre erwarten?
Es haben sich natürlich im Kielwasser dieses Hashtags eine ganze Reihe Dinge herausgebildet. Es gibt eine Menge regionale Initiativen, die jetzt mit Hilfe dieses Begriffes rauskommen. Ich habe wirklich zauberhafte Gedenkinitiativen an diese Zeit gesehen, bei denen Todesopfern der rassistischen Gewalt der 90er gedacht wird, wo lokal in die Gesellschaft hineingewirkt wird. Da ist jetzt an vielen Orten, gerade in kleineren ländlichen Orten, ein Gespräch in Gang gekommen und eben auch kleinere bis mittlere Projekte, Gesprächsrunden, kleine Filme. Der Rechtsextremismus der 90er ist nun mal eine hoch lokale Angelegenheit. In Leipzig war es anders als in Dresden. In Frankfurt (Oder) war es völlig anders als in Eisenhüttenstadt, das nur 25 Kilometer entfernt liegt, wo es aber eben keine Uni gab. Das alles differenziert sich jetzt aus. Glücklicherweise sind auch schwarze Menschen und BIPoC stärker vertreten. Ich erhoffe mir davon, dass das zur gesellschaftlichen Debatte beiträgt. Ich weiß nicht, was da jetzt noch kommt. Das wird sich zeigen. Ich will auch gar nicht zu sehr den Mastermind spielen. Ich bin einer von tausenden, zehntausenden Zeitzeugen dieser Zeit. Ich habe das einfach nur erlebt. Ich war auch kein Held oder so. Ich bin einfach hin und wieder gerannt und hatte das Glück, dieses Wort Baseballschlägerjahre im Kopf zu haben. Dass ich dann gleichzeitig als Journalist noch eine gewisse Reichweite habe, hat auch geholfen. Aber da bin ich weder ein besonderer Mensch noch besonders betroffen. Es werden sich viele Menschen weiterhin äußern, da bin ich mir ganz sicher.
Das Interview führten Julius Ude und Madita Moers.
Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang „Mehrsprachige Kommunikation“ an der TH Köln.
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