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„dekoder Specials“: Russland entschlüsseln

Screenshot "dekoder specials"
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Screenshot „dekoder specials“

Warum kam es eigentlich zu den Protesten in Belarus? Welche Staatsoberhäupter saßen schon mal gemeinsam im russischen Dampfbad Banja? Wie oft hat Russlands Präsident Putin in seinen Reden der letzten 20 Jahre die Begriffe „Korruption“, „Krim“ oder „Demokratie“ verwendet? Vielseitig und illustrativ bereiten die „dekoder Specials“ spannende Themen zu Russland, Belarus und der Ukraine auf. Um die komplexe Geschichte und die politischen Zusammenhänge anschaulich und nachvollziehbar zu machen, arbeiten Journalist*innen, Wissenschaftler*innen und Medienschaffende eng zusammen.

Dekoder Specials ist für den Grimme Online Award 2021 in der Kategorie Spezial nominiert. Wieso die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Journalismus für das Projekt so wichtig ist und wie das neueste Special aussehen wird, hat uns Leonid A. Klimov, Redakteur bei dekoder.org, im Interview verraten.

Mit dem Internetportal dekoder leisten Sie bereits seit Jahren einen Beitrag, Russland zu „entschlüsseln“ und wurden dafür 2016 mit den Grimme Online Award im Bereich Information ausgezeichnet. Was ist neu und besonders am Angebot dekoder Special?

Dekoder war von Anfang an als zweiseitige Plattform gedacht: Einerseits bringen wir die Stimmen aus der russischen Zivilgesellschaft ins Deutsche, indem wir russische Medien übersetzen. Andererseits rücken wir die Stimmen der deutschen Wissenschaft in die Öffentlichkeit. Für uns war direkt klar, dass wir zweigleisig fahren mussten, da es sehr viele Dinge gibt, die man nicht auf Anhieb versteht, wenn man über verschiedene Kulturen spricht. Dinge, für die gewisses Hintergrundwissen benötigt wird. Die Wissenschaft hortet einen großen Schatz an Kompetenz, der nicht ohne Weiteres konvertierbar ist. Aus diesem Grund gibt es auf unserer Seite die „Gnosen“, die in Form kurzer Texte wissenschaftsbasierte Hintergrundinformationen zu bestimmten russischen Themen liefern – sei es zu Personen, Organisationen, historischen Ereignissen oder spezifischen Realien.  Mit diesen kurzen Texten kann man jedoch nur einzelne, in sich weitgehend geschlossene Themen und Aspekte angehen. Geht es aber um komplexere Geschichten, müssen diese ausführlicher aufbereitet werden. Der erste Themenkomplex, den wir auf diese Weise bearbeitet haben, war die Annexion der Krim: Wieso spielt dieses Ereignis eine zentrale Rolle in der Zeitgeschichte? Wieso ist die Krim so wichtig für die Ukraine und viele weitere Ethnien, die sich mit ihr verbunden fühlen? Wie war der genaue Ablauf der Annexion und was geschah im Anschluss? All diese komplexen Fragen haben uns dazu veranlasst, ein größeres Format für dekoder zu entwickeln.

Screenshot "dekoder specials"
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Dies war allerdings nur einer der Gründe, der zur Entwicklung eines komplexeren Formats geführt hat. Wir haben nämlich auch festgestellt, dass sich bei vielen aktuell relevanten Themen eine Kluft zwischen den gesellschaftlichen und den wissenschaftlichen Diskursen bildet. Wenn es einmal Überschneidungen zwischen diesen Diskursen gibt, dann sind diese oft mit Spannungen belegt: Die Wissenschaftler*innen verstehen sich als zu „flach“ und verkürzt wiedergegeben, während die Journalist*innen vorhalten, Wissenschaftler*innen seien dazu nicht in der Lage, sich gekonnt und Interesse weckend auszudrücken. Die Differenzen zwischen den wissenschaftlichen und journalistischen Diskursen sind groß, in Hinblick auf Fragestellung, Thematik sowie Art und Weise der Bearbeitung von Themen. Im Journalismus und in der Wissenschaft gibt es auch sehr unterschiedliche Zeithorizonte: Wenn ein journalistischer Text innerhalb kurzer Zeit entsteht, sind wissenschaftliche Medien hingegen auf Dauer, ja „auf ewig“ angelegt.

Bei der Arbeit an den Specials versuchen wir eine Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Journalismus aufzubauen: Wissenschaftler*innen verschiedenster Fachrichtungen arbeiten mit Journalist*innen und Medienschaffenden im weitesten Sinne zusammen, also auch mit Programmierer*innen, Gestalter*innen und Designer*innen. Und dadurch, dass alle zusammenarbeiten, muss man sich auf eine bestimmte Fragestellung einigen und sich gegenseitig in seiner jeweiligen Disziplin kennenlernen, verstehen und akzeptieren. Das ist es, was die Arbeit an den Specials für mich so besonders macht.

Mit den Specials vermitteln Sie viel Wissen über Russland, die Ukraine und Belarus. Wie sieht es Ihrer Einschätzung nach mit dem Wissen der Menschen in Deutschland über Politik, Gesellschaft und Kultur in osteuropäischen Staaten aus? Haben Sie dazu wissenschaftliche Daten?

Das ist in der Tat eine Frage, die schwer zu beantworten ist. Also es gibt eine Studie aus dem Jahr 2020 vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin, in der ein großer Teil der Deutschen behauptet, einen gewissen Bezug zu Russland zu haben. Sei es durch Freund*innen, Bekannte, Verwandte oder Eltern, die damals in der DDR die Möglichkeit ergriffen haben, in Moskau oder Leningrad zu studieren. Daher kann man davon ausgehen, dass es zwar keine flächendeckende, aber durchaus eine breite Verbindung in der Gesellschaft zu Russland gibt. Andererseits ist das Wissen dieser Menschen über Russland und andere osteuropäische Staaten in bestimmten Modellen verhaftet. Wenn diese Leute etwas Neues erfahren, versuchen sie, es in das bei ihnen vorherrschende Modell einzubinden. Grob kann man sagen, es gibt die “Russland-Kritiker” und die “Russland-Versteher”. Dies macht die Arbeit für uns zwar schwieriger, jedoch gleichzeitig auch wichtiger und interessanter, da wir eine überparteiliche Rolle einnehmen und Tatsachen wissenschaftlich und dadurch verifizierbar darstellen wollen.

Wir stellen uns in diesem Kontext auch die Frage, was Wissen überhaupt bedeutet. Wissen wird oft als eine Art Koffer verstanden, der von einer Person zur anderen übergeben werden kann. Ich weiß etwas, was du nicht weißt, ich erzähle dir etwas, dann weißt du es auch. Leider funktioniert es nicht so einfach, da der Mensch solch einen Koffer mit Wissen letztendlich in einer Ecke stehen lässt, wenn er ihn als nicht relevant einstuft. Der Grund, wieso wir für die Specials so aufwendige Formen verwenden, in die auch sehr viel Zeit einfließt, ist, dass wir davon ausgehen, dass das Wissen über die osteuropäischen Länder und vor allem über Russland somit leichter als Wert akzeptiert werden kann. Das ist meiner Meinung nach auch der visionäre Gedanke an diesem Projekt: Die Welt im Allgemeinen und gerade die Realität von Russland, Belarus und allen anderen osteuropäischen Ländern ist wahnsinnig komplex. Solange man diese Realität als einfach wahrnimmt, hat man immer sehr einfache Antworten auf alle Fragen. Es ist jedoch wichtig, dass die Komplexität als Wert akzeptiert wird.

Wir haben uns auch die Frage gestellt, welche Faktoren darauf Einfluss haben, dass man die Komplexität der Welt an sich als Wert akzeptiert. Die Beantwortung dieser Frage habe ich versucht anhand eines anderen Begriffes zu erklären, zum Beipiel mit dem Begriff der Demokratie:  Demokratie an sich ist eine wahnsinnig anstrengende und auf den ersten Blick nicht unbedingt schöne Sache: Man muss mit anderen Menschen bzw. Parteien gemeinsam etwas vereinbaren, dann gibt es noch Minderheiten, denen Beachtung geschenkt werden muss. Einfacher wäre es also mit einer Partei und einem Anführer. Dennoch wird die Demokratie von den meisten Menschen wertgeschätzt und wir fragen uns: Was hat dazu geführt? Zu dieser Frage gibt es interessante Studien, die darauf hindeuten, dass die Entwicklung der sozialen und demokratischen Institutionen der BRD mit der Periode des Wirtschaftswunders zeitlich zusammenfällt. Und das zeigt, dass die Akzeptanz der Demokratie in ihrer komplexen und anstrengenden Form mit einer positiven Erfahrung verbunden ist. In Russland zum Beispiel fällt die Entwicklung der demokratischen Institutionen in den 90er-Jahren mit der Zerstörung der wirtschaftlichen und sozialen Einrichtungen zusammen, bzw. gar mit der Zerstörung des Staates an sich. Ähnliche Prozesse gab es auch damals zur Zeit der Weimarer Republik, als es keine positive Korrelation mit der Entstehung der Demokratie gab. 

Überträgt man diese Gedanken nun wieder auf das Wissen in seiner komplexen Form, dann stellt sich die Frage, wie man dem Leser helfen kann, ein komplexes Thema mit einer positiven Erfahrung zu verbinden. Deshalb haben wir uns für eine komplexe Form der Specials entschieden, die ansprechend gestaltet sind, sodass man sich gerne damit beschäftigt. Um das zu erreichen, können dann zum Beispiel eine Graphic Novel, interaktive Karten oder ansprechende Infografiken zum Einsatz kommen. Angefangen mit einer Oberfläche, die schnell konsumiert werden kann, können die Leser*innen Schritt für Schritt in ein Thema eintauchen, um im letzten Schritt idealerweise bei wissenschaftlicher Literatur anzukommen. Ich glaube, dass dies eine große Leistung ist, wenn ein Medium das tatsächlich erreicht.

Vielleicht könnten Sie noch einmal erläutern, wieso es so wichtig ist, dass die Angebote von dekoder einen wissenschaftlichen Ansatz haben – mit Ihnen arbeiten inzwischen viele Wissenschaftler:innen zusammen, beispielsweise die Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen.

Für das Projekt ist es deshalb wichtig mit Wissenschaftler*innen zusammenzuarbeiten, da sie verifizierbares Wissen über die besprochenen Länder bereitstellen. Das bedeutet, dass das gelieferte Wissen überprüfbar ist, da es mit gewissen wissenschaftlichen Werkzeugen und Instrumenten erarbeitet wurde, die seit vielen Jahren verwendet werden und nachvollziehbare Ergebnisse liefern. Daher ist für uns die Zusammenarbeit mit Wissenschaftler*innen enorm wichtig, gerade bei heiklen Themen. Sie hilft uns auch dabei, die passende Form zu finden, mit der wir unsere Specials gestalten, damit wir die verschiedenen Diskurse ineinanderfließen lassen kann.

Glauben Sie, dass Wissenschaft mehr Öffentlichkeit braucht, und öffentliche Debatten mehr wissenschaftliches Hintergrundwissen?

Screenshot "dekoder specials"
Screenshot „dekoder specials“

Wir haben uns viele Gedanken dazu gemacht, denn es muss irgendeinen Punkt geben, der die Journalist*innen, Wissenschaftler*innen und Medienschaffenden verbindet. Wissenschaft ist nicht etwas, womit man viel Geld verdient, das ist es also nicht. Aber warum beschäftigen sich Wissenschaftler*innen mit der Wissenschaft? Und die Antwort ist einfach: Wir sind neugierig. Wir haben Spaß daran. Wir haben Freude daran, diese komplexe Welt zu erforschen. Und das ist genau der Punkt, der sowohl für Journalist*innen gilt, als auch für Redakteur*innen. Wir wollen die Welt in ihrer Komplexität besser verstehen, und wir haben Freude daran. Und dann ist der nächste Schritt: Wie erzeugt man diese Freude, die auch mit der Relevanz der komplexen Welt zu tun hat, bei den Leser*innen? Das ist ein Punkt, der die engagierten Wissenschaftler*innen mit engagierten Journalist*innen verbindet. Es gibt Wissenschaftler*innen, die engagiert sind, ihr eigenes Wissen weiterzugeben und die mit dekoder zusammenarbeiten wollen, weil dekoder in der Fachcommunity und in der wissenschaftlichen Community schon als das Medium etabliert ist. Und ob die Wissenschaft für die Öffentlichkeit so wichtig ist, kann man auch nicht pauschal beantworten. Also theoretisch: Definitiv, da gibt es keinen Zweifel. Die Wissenschaft bereichert die Berichterstattung und die gesellschaftlichen Diskurse mit verifizierbarem Wissen. Ob das für alle gilt, für alle Leserinnen und Leser, für alle Journalistinnen und Journalisten, das ist immer die Frage. Denn es liegt in der Natur des Menschen, auf komplexe Fragen einfache Antworten zu finden.

Welche Resonanz erhalten Sie in Deutschland von den Leser*innen?

Dekoder ist ein Nischen-Medium und manchmal empfinden wir uns sogar als Nische in der Nische. Es geht also nicht um Dimensionen von Spiegel Online oder so und die Resonanz ist entsprechend kleiner. Doch wir haben für uns gewisse Indikatoren entwickelt, die mit Leserzahlen und Verweildauer nur zum Teil verbunden sind. Diese sind von Special zu Special unterschiedlich, denn da spielen die medialen Faktoren eine Rolle. Zum Beispiel haben wir das Protest-Special den ganzen Sommer 2019 vorbereitet und während die Proteste stattfanden, war das Interesse an diesem Thema groß. Doch das Special war so gewaltig groß, so komplex, dass wir es erst im September veröffentlicht haben, als die Proteste in Moskau vorbei waren. Das Interesse war einfach weg, weil alle satt waren mit diesem Thema, sowohl in Russland als auch in Deutschland. Es ist ein richtig cooles Special, ich mag dieses am liebsten, aber es hat weniger Aufmerksamkeit, weniger Resonanz bekommen, als man sonst haben würde. Andere Specials, wie zum Beispiel das über Putin oder den Archipel Krim, sind genau zu den richtigen Zeitpunkten gekommen und haben auf der Metaebene oder auf der wissenschaftlichen Ebene deutlich mehr Interesse geweckt als das Thema Protest. Aber was uns richtig freut, ist, dass diese Projekte anders sind als viele andere mediale Projekte. Sie haben kein absehbares Verfallsdatum und sind über eine längere Zeit hinweg relevant und aktuell. Für uns ist wichtig, dass wir nicht ein Medienprodukt entwickeln, das nur einen Monat aktuell bleibt, sondern auch weiterhin aktuell bleiben soll. Das merken wir auch an unseren Besucherzahlen. Die Specials werden kontinuierlich gelesen, anders als Texte, in denen es um tagesaktuelle Themen geht.

Wir wissen, wer uns liest und wer uns lobt: Die Leute, die uns schreiben und sagen, welch tolle Arbeit wir machen. Das sind Journalist*innen und Leute, die sich mit Wirtschaft oder Politik beschäftigen. Für uns als Nischen-Medium ist die multiplikatorische Funktion wichtig. Diese Specials sind nicht nur für die breite Öffentlichkeit gedacht, sondern auch für Leute, die sich mit diesen Themen beschäftigen und die dadurch ein Instrument haben, differenziertes Wissen in rezipierbarem Umfang zu erhalten. Ein Indikator für mich ist oft, dass die Leute, die ich persönlich kenne, mir schreiben. Als wir zum Beispiel das Banja-Special veröffentlicht haben, haben mir viele Bekannte geschrieben: „Was für ein tolles Ding. Ich will unbedingt gleich in die Banja gehen“. Dieses Gefühl, dass man etwas erzeugt und dass man diese Resonanz gefunden hat, dass man einen bewegt, eine Mail zu schreiben, das kostet viel.

Bekommen Sie auch Rückmeldungen aus Russland, Belarus, der Ukraine?

Viele Specials sind tatsächlich in mehreren Sprachen gemacht, das Archipel-Krim-Special zum Beispiel gibt es sogar in vier Sprachen. Die Rückmeldungen von der Fachcommunity, sprich von Journalisten aus unserem Netzwerk, sind sehr positiv. Wir hatten auch eine kleine Kooperation mit Meduza, dem russischen Exil-Medium, das unser Putin-Special auch in sein Programm aufgenommen hat. Wir haben in diesem Special ein Tool gemacht, so ähnlich wie Zeit Online mit der Auswertung der Reden im Bundestag. Und dieses Tool mit Auswertungen von Putin-Reden kann nicht nur auf unserer Website genutzt werden, sondern auch in andere Webseiten eingebettet werden; das hat Meduza gemacht. Die Redakteur*innen haben selbst ein bisschen mit diesem Tool gespielt und eigene Vorschläge für ihre Leser*innen geschrieben. Es war sehr nett und erfreulich, dass es aufgegriffen wurde und dass wir positive Rückmeldungen aus Russland bekommen haben.

Es ist schon ein neues Special auf Ihrer Seite angekündigt: „Rund um den Kreml“. Verraten Sie uns, was Sie „rund um den Kreml“ am beeindruckendsten finden?

Wir arbeiten jetzt an zwei großen Projekten. Das erste trägt den Namen „Rund um den Kreml, wo Geschichte zur Politik wird“. Das ist ein Special über Geschichtspolitik, was gerade jetzt ein super aktuelles Thema in Russland ist. Denn über Russland wird oft gesagt, es sei ein Land mit einer unvorhersehbaren Vergangenheit, wo die Vergangenheit eine fast genauso große Rolle spielt wie die Gegenwart oder die Zukunft, oder vielleicht sogar eine noch größere Rolle. Und es ist ein Land, in dem die Geschichte tatsächlich permanent als politische Ressource genutzt wird. Dieses Projekt haben wir zusammen mit Prof. Benjamin Schenk von der Universität Basel konzipiert. Wir haben ein kleines Editorial-Board, in dem sowohl Redakteur*innen als auch Wissenschaftler*innen sind und über jeden Text, über jeden Absatz diskutieren. Das ist richtig spannende Arbeit. Für uns war die Frage: Wie gehen wir an dieses komplexe Thema der Geschichtspolitik heran? Dann haben wir beschlossen: Wir machen einen Reiseführer zum Moskauer Kreml. Einen Reiseführer mit einzelnen Objekten, die eine gewisse Anziehungskraft haben. Also der Kreml selbst, die Kreml-Türme, der große Kreml-Palast, die Christ-Erlöser-Kathedrale, das Lenin-Mausoleum, der Rote Platz etc., die als Entry-Points für übergeordnete Themen gelten. Zum Beispiel steht der große Kreml-Palast in diesem Special für das geschichtspolitische Thema Machtinszenierung und das Lenin-Mausoleum steht als Entry-Point für das Thema Umgang mit Revolutionen und mit Zeiten der Instabilität. Die Kreml-Türme stehen für den Umgang mit Staatssymbolen, denn auf den Türmen sind zum Beispiel immer noch die roten Sterne und nicht die Adler zu sehen. Da wäre noch die russische Hymne mit einem russischen neuen Text, während die Musik noch aus der Sowjetunion stammt. Es ist also ein sehr interessantes Feld und die Leserinnen und Leser sollen das tatsächlich als einen Reiseführer nutzen können, in dem man einiges über diese Objekte erfährt. Gleichzeitig geht es gar nicht nur um die Objekte selbst, sondern um die Geschichtspolitik. Die Objekte zeigen, wie man diese Geschichte zweiten Grades nutzt und instrumentalisiert, und wer welche Bilder der Vergangenheit erst formte, um letztendlich Politik zu machen.

Beim zweiten Projekt geht es um Dissidentinnen und Dissidenten in der Sowjetunion. Wir untersuchen mithilfe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Forschungsstelle Osteuropa und der Uni Basel das Anderssein in extremen Situationen des Postsozialismus, also wie man in der Situation des Autoritarismus anders sein kann. Hier ist der Fokus nicht nur auf die üblichen Dissidenten wie Andrei Sacharow gelegt, also nicht nur auf die Menschenrechtler, sondern auch auf Menschen, die sich mit der dissidentischen Bewegung nicht identifizieren konnten, wie Joseph Brodsky oder Kolya Vasin. Letzterer war ein Sammler von Schallplatten aus dem Westen und ist als Kommunikator bekannt geworden, als eine Brücke zwischen westlicher und östlicher Musik. Er war eine wichtige Persönlichkeit in der Underground-Szene in Leningrad. Wir probieren für dieses Projekt eine neue Form der Erzählung aus, denn wir werden Geschichten über Dissident*innen mit animierten Graphic Novels erzählen. Dazu gibt es Quellen, Gegenstände und Archivalien aus Archiven und Museen, die gesammelt wurden und das Thema nochmal kontextualisieren und konzeptualisieren werden.

Screenshot: Leonid A. Klimov

Das Interview führten Felix Weigelt und Sarah Reimers. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang „Mehrsprachige Kommunikation“ an der TH Köln.

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