Politik, Bildung und Unterhaltung auf TikTok
Neben lustigen Tanzvideos auch aktuelle Nachrichten aufschnappen? Seit 2019 bietet die Tagesschau genau das auf TikTok an. In einem maximal 60-Sekunden-Videoformat werden die Nutzer*innen über aktuelle Themen informiert und erhalten interessante Behind-the-Scenes-Einblicke. „tagesschau auf TikTok“ ist für den Grimme Online Award 2021 in der Kategorie „Information“ nominiert. Im Interview sprechen Redaktionsleiter Patrick Weinhold und Presenterin Anna Metzentin über die Besonderheiten der Nachrichtenvermittlung auf TikTok und wie die Social-Media-Plattform frischen Wind in das gesamte Redaktionsteam bringt.
Die 20 Uhr-Tagesschau gilt als die älteste und meistgesehene Nachrichtensendung Deutschlands. Wie unterscheiden sich Ihre Tagesschau-Nachrichten auf dem sozialen Netzwerk TikTok davon?
Patrick Weinhold: Das ist eine Grundsatzentscheidung, die wir ganz früh gefällt haben. Tagesschau bleibt Tagesschau auf jedem sozialen Netzwerk, ob über Instagram, YouTube oder TikTok. Damit einher geht auch unser Markenversprechen als eine seriöse und vertrauenswürdige Nachrichtenmarke. Natürlich unterscheidet sich ein klassischer Nachrichtenbeitrag in der 20 Uhr-Tagesschau von dem, was wir auf TikTok machen. Wir sind dort im vertikalen Format, um nah an die Menschen heranzukommen und nah auf den Smartphones zu sein. Denn TikTok ist eine App, die vor allem von jungen Menschen hauptsächlich über das Smartphone konsumiert wird. Da unsere Zielgruppe im Fernsehen im Durchschnitt 63 Jahre alt ist und auf TikTok die größte Nutzergruppe zwischen 13 und 17 Jahren alt ist, unterscheiden sich die Nachrichten selbstverständlich auch in ihrer Machart und werden nicht täglich, sondern mehrfach wöchentlich produziert.
Aber auch auf TikTok stehen die Nachrichten im Fokus unserer redaktionellen Strategie, allerdings erweitert durch einen zweiten Bereich. Indem wir beispielsweise an Challenges teilnehmen, zeigen wir uns ein bisschen von der anderen Seite. Die Zuschauer sehen also nicht nur diese klinisch reine Studioatmosphäre, sondern auch, was hinter den Kulissen passiert und wie Nachrichten gemacht werden.
Anna Metzentin: In der Praxis hat sich gezeigt, dass wir zu jedem Thema, das wir aufbereiten, einen Alltagsbezug herstellen wollen. Die Nutzer sollen merken: „Okay, mit dieser Information kann ich im Alltag etwas anfangen.“ Wir greifen uns auch Videos, die bereits auf der Plattform existieren, und überprüfen sie auf die Fakten. Im Internet existieren super viele Videos, die einfach nicht so richtig stimmen. Wir wollen ein Bewusstsein für Medienkompetenz schaffen und der Frage nachgehen: Was macht gute Nachrichten und Videos aus?
In einem Interview von Dezember 2020 mit der Tagesschau erklärt Jan Hofer, dass Meinungsäußerungen durch Gestik und Mimik für die 20 Uhr-Sendung fatal für seine Glaubwürdigkeit und die der Sendung seien. Inwiefern gilt das nicht für das Format auf TikTok?
Patrick Weinhold: Wir sind die seriöse Nachrichtenmarke, der die Menschen in Deutschland am meisten vertrauen. Und dann gibt es eine Plattform wie TikTok, auf der vor allem Tanzvideos und Unterhaltung im Fokus stehen. Das trieb auch einigen Redakteurinnen und Redakteuren bei uns ein bisschen den Angstschweiß auf die Stirn, als wir 2019 gesagt haben, dass wir damit starten wollen. TikTok ist so ein relevantes Netzwerk für junge Menschen. Wir haben uns als erste Nachrichtenmarke auf dem deutschen Markt an TikTok herangetraut und herausgefunden, was Menschen dort von uns wollen und wie sie es von uns wollen. Mit einem Zweiklang aus Nachrichten und zum Schmunzeln anregenden Elementen haben wir eine Strategie gefunden, die uns ermöglicht, mit jungen Menschen auf Augenhöhe zu sein und mit ihnen in Kontakt zu kommen. Nachdem uns die Nutzerinnen und Nutzer aufgefordert haben, an einem Contest teilzunehmen, hat Anna sogar im Studio getanzt. Wir sehen, dass diese unterhaltenden Videos häufig geteilt werden und hohe Aufrufzahlen erreichen. Die gleichen Menschen, die unsere Videos konsumieren, sehen am Ende auch unsere Nachrichten auf TikTok.
Anna Metzentin: Der Unterschied liegt auch in der Rezeption. In den 20 Uhr-Nachrichten sitzt jemand in einem Anzug, der wenig mit den Händen macht. Das ist eine sehr erfolgreiche Darstellungsform. Aber unsere TikTok-User*innen haben andere Anforderungen an uns. Wir sollen nahbarer sein, nicht wie der beste Freund, aber auch nicht wie der Lehrer. Dazu gehört es für uns als Presenter*innen, auch viel mehr mit den Händen zu gestikulieren und alltäglichere Kleidung zu tragen.
Unter den Social-Media-Kanälen gilt TikTok als das Portal für kreative Videobeiträge. Welche Rolle spielt Kreativität bei der Gestaltung und Auswahl Ihres Contents?
Anna Metzentin: Wir arbeiten nach denselben journalistischen Kriterien wie bei allen anderen Tagesschau-Formaten auch. Die Nachrichten, die wir aufbereiten, sind sachlich genauso wichtig und haben einen ähnlichen Aufbau. Aber in der Gestaltung des Beitrags sind wir etwas kreativer. Wir haben zum Beispiel kreativere Eingänge, in denen wir einen ganz klaren Alltagsbezug herstellen und andere Musik verwenden. Ich halte es für einen großen Vorteil von TikTok, dass so viel möglich gemacht wird und wir unsere Inhalte mit einer so medienaffinen Zielgruppe teilen können. Diese würde uns auch inhaltlich oder handwerklich kritisieren, wenn wir etwas grundlegend falsch machen würden.
Patrick Weinhold: Die Zusammenarbeit mit der Community bringt auch frischen Wind in die Redaktion. Wir haben festgestellt, dass das Grundlagenwissen von politischen Nachrichten bei Schüler*innen sehr weit von dem Wissensstand der Nutzer in den 20 Uhr-Nachrichten entfernt ist. In der Social-Media-Redaktion hat Kreativität einen sehr hohen Stellenwert im Vergleich zur Tagesschau im linearen Fernsehen. Das tut der Marke und den jungen Journalist*innen gut. Es verleiht eine unglaublich hohe Motivation, kreativ sein zu dürfen, sich heranzutasten an Neues. Das Schöne an diesem TikTok-Journalismus ist, dass das Team rund um Anna in ganz vielen Punkten für die Redaktion Pionierarbeit leistet.
Wie stellen Sie in dieser schnelllebigen Welt der Medien sicher, dass sich Ihre Zielgruppe auch weiterhin mit Ihrem Format identifiziert?
Anna Metzentin: Im Endeffekt bedeutet das für uns, dass die Format-Entwicklung abgeschlossen ist. Jetzt aber, auf der anderen Seite, wird unser TikTok im laufenden Betrieb ständig aktualisiert und erneuert. Niemand ist böse, wenn es heißt, dass der Content nicht mehr zu uns passt. Dann fangen wir am selben Tag an, den Content zu verändern und neu zu gestalten.
Patrick Weinhold: Man sieht, dass die Konkurrenzsituation um die Nachricht größer geworden ist. Es gibt keine Generation, die sich per se nicht für Nachrichten interessiert. Viele machen jetzt Nachrichten, auch Influencer*innen. Da es diese größere Konkurrenz gibt und somit auch mehr Desinformation auf der Plattform, müssen wir die Marke weiterentwickeln, indem wir den Schwerpunkt auf den Bereich Medienkompetenz und Faktencheck legen. Es gibt Videos, jetzt auch im Umfeld von Corona, die in den Bereich Verschwörungstheorien passen, bei denen wir unserer Rolle als Faktenaufklärer nachkommen müssen. Mit diesem Faktencheck und politischem Grundlagenwissen versuchen wir, der Entwicklung auf der Plattform einen Schritt voraus zu sein. Wir bringen auch mal Nerdwissen, das Menschen interessiert, die sich auf einer höheren Ebene mit Politik befassen wollen. Es geht nicht mehr nur darum, Nachrichten an sich frontal zu kommunizieren, sondern auch darum, Nachrichten einzuordnen und sie zu verifizieren. All das sind inhaltliche Strategien, die wir auf TikTok vermehrt einsetzen.
In Ihrem Video vom 7. April 2021 zum Thema Abschlussprüfungen wird Ihre Nachfrage in Kommentaren bestätigt, dass sich Ihre Follower ein weiteres Video zu den Abschlussprüfungen wünschen. Nur zwei Tage später erscheint das Video auf Ihrem Kanal. Welche Rolle spielt diese schnelle Interaktion mit dem Publikum für Ihren Erfolg?
Anna Metzentin: Wir sind gerade noch ein sehr kleines Team, d.h. eine*r unserer Redakteur*innen lädt das fertige Video hoch und im besten Fall sitzen wir dann in derselben Woche noch zusammen und sagen: „Hey, guck mal, darauf reagieren wir am besten sofort.“ Ich glaube, das macht den Kern von TikTok aus, dass man nah an der Community ist. Es gab Interesse an unseren Inhalten, das ist doch megageil; dann haben wir auch Interesse, das weiter zu fördern. Ich glaube, diese Motivation hilft auch für den Erfolg und spiegelt sich in der Qualität der Videos wieder.
Patrick Weinhold: Das ist der Kern unseres TikTok-Auftritts: auf Augenhöhe nicht nur strategisch sein zu wollen, sondern auf Augenhöhe anzukommen. Sie glauben gar nicht, wie toll Menschen es finden, wenn Marken wie die Tagesschau sie ernst nehmen und mit ihnen kommunizieren. Wenn man als der Nachrichten-Ansprechpartner, als der Freund für Nachrichten in einem TikTok-Netzwerk gilt, dann ist das etwas wahnsinnig Motivierendes.
Wo sehen Sie die Vorteile in der Nutzung von TikTok im Vergleich zu anderen Social-Media-Plattformen?
Patrick Weinhold: TikTok ist ein faszinierendes Netzwerk, wenn es um Storytelling geht. Es bietet Journalist*innen bei der Tagesschau vollkommen neue Möglichkeiten von Storytelling. und es bietet uns die Möglichkeit, ganz nah in Interaktion mit den jungen Zielgruppen zu treten.
Anna Metzentin: Auf TikTok bin ich Menschen in der Community begegnet, die sehr humorvoll sind, die nicht immer auf Perfektion achten. Zumindest, was das Äußere angeht, und die aus einem nicht akademisierten Milieu kommen, sondern eine Ausbildung machen oder auf der Realschule sind. Das ist doch unser Grundauftrag als öffentlich-rechtliches Medium, alle Menschen zu erreichen. Es gab schon so viele Versuche, das irgendwie anzustoßen. Ich habe das erste Mal das Gefühl, das hier kann auch etwas sein, womit man andere gesellschaftliche Schichten aufbricht und sie mit einer Augenhöhe erreicht, die sie verdient haben. Das macht irre viel Spaß.
Das Interview führten Louisa Müller und Laura Closmann. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang „Mehrsprachige Kommunikation“ an der TH Köln.
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