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„Jeder Vierte“ – 20 Millionen zu viel

Screenshot "Jeder Vierte"
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Screenshot „Jeder Vierte“

Antisemitismus in Deutschland? Das gibt es doch nur noch ganz vereinzelt, oder? Irrtum! Viele Studien beweisen das Gegenteil. „Jeder Vierte“, ein Projekt gegen das Wegschauen bei Judenfeindlichkeit, zeigt alltäglichen Antisemitismus und wie unscheinbar, aber verletzend dieser sein kann.

„Jeder Vierte“ ist für den Grimme Online Award 2021 in der Kategorie Wissen und Bildung nominiert. Im Interview spricht Laura Block über den Grund und die Entstehung des Projektes, Aufklärungsarbeit und Möglichkeiten zum Helfen.

Jeder vierte Deutsche hegt antisemitische Gedanken und viele schweigen zu alltäglichem Antisemitismus. Grund genug für euer Projekt. Aber gab es auch ein konkretes Ereignis, das dieses Projekt auslöste?

Screenshot "Jeder Vierte"
Screenshot „Jeder Vierte“

Als wir auf die Studie des World Jewish Congress gestoßen sind, dachten wir, die Aussage, dass jede*r vierte Deutsche antisemitisches Gedankengut hegt, sei ein Fehler. Dass heutzutage noch so viele Deutsche antisemitische Gedanken denken, hat uns geschockt. Daraufhin haben wir uns weitere Studien angeschaut und mit vielen jüdischen Gemeinden in Deutschland telefoniert, die uns das Ausmaß des Antisemitismus bestätigten. Viele denken, dass es zu dieser Thematik bereits genug Projekte gäbe, aber wäre dem so, wäre Antisemitismus nicht so ein großes, immer noch präsentes Problem.

Ihr habt für das Projekt mit Jüdinnen und Juden über deren Erfahrungen mit alltäglichem Antisemitismus gesprochen und sechs Geschichten szenisch umgesetzt. Gab es einen Aufruf, um in Kontakt mit den Menschen und ihren Erfahrungen und Geschichten zu kommen?

Bei den Telefonaten mit den jüdischen Gemeinden haben viele ihre Geschichte mit uns geteilt. Zusätzlich haben wir auf mehreren Social-Media-Kanälen insbesondere nach jüngeren Betroffenen gesucht. Dadurch hatten wir die Möglichkeit, mit vielen Jüdinnen und Juden in ganz Deutschland über ihre Erfahrungen und Geschichten zu sprechen.

Nach welchen Kriterien wurden die Geschichten ausgewählt?

Uns war es wichtig, nicht die krassesten Geschichten zu erzählen, da diese oftmals als Ausnahme bezeichnet werden, sondern jene, die repräsentativ viele Betroffene erlebt haben. Natürlich passieren viele gewaltsame Dinge, aber es gibt auch viele Menschen, die Diskriminierung auf andere Art und Weise erfahren.Wir wollten eine Bandbreite erfassen und alltägliche Situationen aufzeigen, in denen sich möglichst viele Personen wieder erkennen können.

Bei anderen Formen der Diskriminierung wird meist über sehr gewaltsame Taten berichtet. Aus welchem Grund habt ihr euch dafür entschieden, Antisemitismus von einer eher subtileren Seite anzugehen?

Screenshot "Jeder Vierte"
Screenshot „Jeder Vierte“

Medien arbeiten meist mit Extremen: Ein Problem wird anhand eines extremen Beispiels dargestellt, wobei alltägliche Probleme außer Acht gelassen werden. Aber was macht das mit uns? Wir distanzieren uns oftmals von dem Problem, weil wir uns sagen „Ich bin ja kein Mörder“ oder „Ich bin ja nicht gewalttätig“. Aber sowohl Rassismus als auch Antisemitismus sind nicht immer physische Gewalt, sondern oft oder sogar viel öfter verbale Gewalt. Das wird häufig unterschätzt und vor allem auch von den Medien ignoriert. Wenn man sich als Betroffener immer wieder Kommentare anhören muss, nimmt das einen mit. Auch viele kleine Kommentare können zu einem großen Problem werden. Wir wollten also ein eher niedrigschwelliges Projekt schaffen, mit dem sich möglichst viele Leute identifizieren können und durch das wir möglichst viele Menschen erreichen. Wir konzentrieren uns auf alltägliche Situationen – im Büro, in der Schule, auf der Straße, in der Bar – die im Freundes- und Familienkreis stattfinden. Außerdem war es uns wichtig, nicht mit erhobenem Zeigefinger auf Leute zu zeigen. Daher haben wir die Szenen, in denen die Betroffenen Antisemitismus erfahren, so sachlich und neutral wie möglich gestaltet, sodass die Zuschauer*innen eigenständig die Problematik erkennen können.

Durch das Projekt wird klar: Antisemitismus im Alltag ist gar nicht immer so leicht zu erkennen. Was sind Aspekte, die du selbst neu dazu gelernt hast?

Vor dem Start des Projekts war ich bereits gut informiert, da ich mich auch privat viel mit dem Thema auseinandergesetzt habe und demnach dachte, dass ich mich gut mit der Thematik auskennen würde. Doch während der Recherche und den Interviews mit den Protagonisten gab es für mich viele Aha-Momente.  Ein Aha-Moment entstand für mich persönlich während der Arbeiten, z.B. beim Video „Der WhatsApp-Konflikt“. Viele Jüdinnen und Juden werden häufig mit der israelischen Politik konfrontiert, obwohl sie selbst noch nie in Israel gelebt haben oder gar nicht aus Israel kommen. Warum steht eine jüdische Person stellvertretend für eine Politik in einem Land, aus dem sie gar nicht kommt? Nicht jeder Jude ist Israeli und nicht jeder Israeli ist Jude. Unfassbar, dass dies viele Menschen anscheinend immer noch nicht verstanden haben.

Hast du noch Tipps wie jede*r Einzelne Antisemitismus im Alltag entgegentreten kann?

Screenshot "Jeder Vierte"
Screenshot „Jeder Vierte“

Meiner Meinung nach sollte man sich konkret gegen antisemitische Bemerkungen aussprechen, an Betroffene herantreten und deutlich machen, dass man so ein Verhalten nicht toleriert. Es ist wichtig, dass wir – auch bei den vermeintlich kleinsten alltäglichen Äußerungen – nicht weghören, sondern einschreiten, wenn wir Zeugen von antisemitischem Verhalten werden. Auch gegen Vorurteile müssen wir uns aussprechen – dafür muss im Übrigen keine jüdische Person anwesend sein. Wenn wir eine antisemitische Äußerung mitbekommen und uns nicht dazu äußern, ist das eine indirekte Bestätigung dafür, dass diese Aussage ok ist, obwohl sie das nicht ist. Nur wenn das Schweigen gebrochen wird, kann Antisemitismus bekämpft werden. Natürlich ist nicht jede Person, die sich in so einer Art äußert, Antisemit oder Antisemitin – wir können und müssen alle noch viel dazu lernen. Aber es ist wichtig, dass Menschen auf ihr Fehlverhalten hingewiesen werden, sie für das Thema sensibilisiert werden und ein Bewusstsein dafür geschaffen wird, damit Jüdinnen und Juden weniger Diskriminierung erfahren.

Würdest du dir wünschen, das Projekt noch fortzusetzen?

Wir sind gerade dabei, mit einigen Schulen in Berlin in Kontakt zu treten, um die Inhalte unseres Projekts für Lehrende zur Verfügung zu stellen. Denn viele Kinder hören immer noch judenfeindliche Bemerkungen. Um dem entgegenzuwirken, haben wir ein Konzept erstellt. Mit Hilfe unserer Filme soll innerhalb von 90 Minuten Unterricht das Thema Antisemitismus im Alltag vermittelt werden. Wir haben bereits sehr gute Resonanzen dazu bekommen und würden uns wünschen, dass die Inhalte unseres Projekts deutschlandweit in den Schulen zur Gestaltung des Unterrichts etabliert werden. Wichtig war uns bei der Realisation des Projekts vor allem, dass wir nachhaltig etwas verändern und nicht nur eine Momentaufnahme schaffen. Das Material und besonders die Kurzfilme sind sehr ansprechend für Kinder und Jugendliche und wir hoffen, ihnen somit die Inhalte näher bringen zu können.

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Screenshot Laura-Block aus Interview

Das Interview führten Elena Torres und Ronja Hoffmann.
Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang “Mehrsprachige Kommunikation” an der TH Köln.

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