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Sehnsuchtsort re:publica

re:publica-Programmhefte unterschiedlicher Jahre. Foto: Vera Lisakowski
re:publica-Programmhefte unterschiedlicher Jahre. Foto: Vera Lisakowski
re:publica-Programmhefte unterschiedlicher Jahre. Foto: Vera Lisakowski

„Nutzen Sie jetzt den Komfort Check-in.“ Meine re:publica-Wehmut beginnt bereits am Dienstagvormittag, als mich die Bahn-App rüde daran erinnert, dass ich jetzt eigentlich in einem ICE nach Berlin sitzen sollte. Natürlich sitze ich an meinem Schreibtisch, weit davon entfernt in den nächsten Tagen nach Berlin aufzubrechen. Warum auch? Re:publica coronabedingt abgesagt, keine Oper, das Theatertreffen läuft im Stream und selbst die Sternerestaurants haben einen Lieferdienst. Das kann ich alles auch in Köln haben.

Alles wie immer

Screenshot des Interviews von Markus Beckedahl mit Rezo auf der re:publica 2020.
Screenshot des Interviews von Markus Beckedahl mit Rezo auf der re:publica 2020.

Aber es gibt ja die auf einen Tag zusammengekürzte re:publica im digitalen Exil am 7. Mai. Sie beginnt – standesgemäß – mit zehn Minuten Verspätung und wie Twitter so schön bemerkt: „‚Die Webseite ist down‘ ist das neue ‚Das WLAN funktioniert nicht'“. Auch ich stelle fest, dass ich mir das Programm besser vorher ausgedruckt hätte – ich weiß schon, warum ich auf der real-life-re:publica immer einen Programmzettel nehme. Die Übersicht geht trotzdem verloren – gleiches geschieht zwischen den ganzen YouTube-Livestreams im Stil von Billig-Nachrichtensendern. Ein Design, das die Zuschauerschaft sofort polarisiert. Ich mag den re:publica-Humor und bin ja für die Inhalte da. Die zu finden fällt mir zunächst etwas schwer, irgendwie lande ich bei meiner hektischen Suche immer auf den Deep-Dive-Kanälen für die Nachfragen nach den Sessions und wundere mich, dass da gerade nichts läuft. Aber bis das Interview mit dem in diesem Jahr in der Kategorie Spezial nominierten Rezo läuft, bin ich sortiert und aufnahmefähig. Rezo gibt Auskunft zu seiner Motivation, ein Video wie „Die Zerstörung der CDU“ zu produzieren. Vor allem aber dazu, wie er sich selbst sieht, nämlich als Künstler, der „Billo-Shit-Unterhaltung“ auf YouTube macht. Und warum äußern sich seiner Meinung nach nicht mehr Internetmenschen, die eigentlich Unterhaltung machen, zu politischen Themen? Das sei schon immer so gewesen, er könne sich jedenfalls nicht erinnern, dass Thomas Gottschalk sich groß zu Politik geäußert hätte – und außerdem hätten die meisten Leute in seiner Bubble gar nicht die Zeit, sich in einen Sachverhalt so intensiv einzuarbeiten. Das hat Rezo auf jeden Fall getan – und damit einen ziemlichen Sturm ausgelöst im vergangenen Jahr.

Realer vs. virtueller Hof

Screenshot des Vortrags von Katharina Nocun zu Verschwörungserzählungen auf der re:publica 2020.
Screenshot des Vortrags von Katharina Nocun zu Verschwörungserzählungen auf der re:publica 2020.

Noch mehr recherchiert definitiv Katharina Nocun für ihren in der Kategorie Information nominierten „Denkangebot Podcast“. Auf der #rpRemote hält sie aber gemeinsam mit Pia Lamberty einen Vortrag zum Thema ihres jüngsten Buches. Es geht um Verschwörungserzählungen – in diesem Fall rund um Corona. Und da gibt es viele Beispiele. Beim eingespielten Video einer Verschwörer-Demo in Berlin bin ich ehrlich gesagt froh, sonst im Prinzip nicht damit in Kontakt zu kommen. Dummerweise ist mein Spontanurteil „alles Irre“ nicht der richtige Umgang damit. Aber dafür gibt es ja genau solche Vorträge.
Nach weiteren Vorträgen zu Hass und Gewalt im Netz und Rechtsextremen, die die Corona-Pandemie für ihre Zwecke nutzen, bin ich froh, auch mal auf den Hof zu können. Nein, nicht den Hof hinter meiner Wohnung, sondern natürlich den re:publica-Hof – dieses Mal auf Zoom. Dort sehe ich Henning Grote, der dieses Jahr in der Jury ist, aber ihn so einfach ansprechen geht natürlich nicht – es wäre wie quer über den realen Innenhof brüllen. Auf dem Hof werden ein paar Anekdoten ausgetauscht, aber eine echte Interaktion will nicht zustande kommen. Anders als zum Beispiel 2012, wo ich über ein spontanes, sehr langes und intensives Gespräch mit einer mir vorher unbekannten Person ein Jurymitglied rekrutiert habe. Nur wenige Tage nach der re:publica sagte mir nämlich jemand für die Jury ab. Und bei der Suche nach Ersatz, der sich schnell – genau genommen über ein Wochenende – in die Nominierten einarbeiten konnte, fiel mir diese kluge Person wieder ein. Angerufen und sofort berufen. Perfekt! Das wird auf dem virtuellen Hof wahrscheinlich nicht passieren.

Vortrags-Momente

Also wieder rein. Die Session mit unserem Spezial-Preisträger 2018 Raul Krauthausen finde ich nicht – womöglich gibt es bereits eine Verspätung auf ASAP 2. Also lande ich – ganz wie im realen Leben, wenn man wieder zu spät vom Hof kommt und der eigentliche Saal schon voll ist – bei Ansgar Oberholz und seinen Ideen zu neuen Formen der Arbeit. Ebenso wie im realen Leben weiß ich noch, dass ich es ziemlich interessant fand, kann aber nichts mehr davon wiedergeben. Tatsächlich sind es mehr Begegnungen und Ereignisse und weniger die Inhalte der Vorträge, die mir im Gedächtnis bleiben – mal abgesehen vielleicht von so abseitigen Momenten, wie dem Chatroulette-Experiment von Melissa Gira Grant am Ende ihres Vortrags „Sex and the Internet“ 2010. Für diejenigen, die nicht dabei gewesen sind: Die These war, dass sich bei dem Zufalls-Chat-Dienst nur Männer mit eindeutig sexuellen Absichten rumtreiben. Eine Erkenntnis war, dass es sich negativ auf die Manneskraft auswirkt, wenn Mann merkt, dass 500 Leute in einem Saal beim Masturbieren zusehen. Zumindest so viel war noch zu erkennen, bevor der Chat sehr schnell beendet wurde.

Gespräche, ganz in echt

Sonst doppeln sich die Vortrags-Inhalte oft mit dem, was ich ohnehin lese und höre – und meine Aufmerksamkeit bei der re:publica ist doch stark in Anspruch genommen von den persönlichen Begegnungen, meist mit Nominierten. Manchmal aber auch mit Nicht-Nominierten, wie letztes Jahr. Bestimmt anderthalb Stunden habe ich mich mit jemandem aus einer größeren Organisation unterhalten. Das Projekt war vorgeschlagen, wurde intensiv von der Nominierungskommission diskutiert, aber nicht nominiert. Wir sprachen nicht nur über die Gründe der Nicht-Nominierung, sondern auch darüber, welche Auswirkungen es für zukünftige Projekte haben kann, wenn ein innovatives Angebot, das neue Wege geht, nicht nominiert wird. Die nämlich, dass so etwas unter Umständen nie wieder probiert wird. Bis zu diesem Moment war mir nicht bewusst, dass so ein Preis wie der Grimme Online Award auch negative Auswirkungen haben kann, wenn zu sehr darauf spekuliert wird.

Die Macht der Sprache

Screenshot des Gesprächs zwischen Kübra Gümüsay und Louis Klamroth zur Macht von Sprache auf der #rpRemote.
Screenshot des Gesprächs zwischen Kübra Gümüsay und Louis Klamroth zur Macht von Sprache auf der #rpRemote.

Persönlich begegnet wäre ich auf der diesjährigen re:publica sicher auch unserem Jurymitglied Kübra Gümüsay. So muss ich mich mit einem Gespräch zwischen ihr und dem Journalisten Louis Klamroth begnügen, das zugegebenermaßen aber sehr anregend ist – auch wenn es eigentlich mal ein performatives Bühnenevent werden sollte. Es geht um das Thema von Kübras neuem Buch „Sprache und Sein“. Es geht also um die Macht von Sprache und die Kategorisierung durch Begriffe. Ganz besonders geht es aber auch darum, die eigene Meinung mal zu hinterfragen, zurückzutreten, andere Perspektiven wertzuschätzen und gemeinsam mit anderen nachzudenken für eine andere, verbesserte Gesellschaft.

Coronavirus-Update

Screenshot des Interviews auf der #rpRemote von Markus Beckedahl mit Korinna Hennig und Katharina Mahrenholtz vom "Coronavirus-Update".
Screenshot des Interviews auf der #rpRemote von Markus Beckedahl mit Korinna Hennig und Katharina Mahrenholtz vom „Coronavirus-Update“.

Auch wenn es in diesem Gespräch nur am Rande um die Corona-Krise ging, passt der Anschluss mit unseren Nominierten vom „Coronavirus-Update“, dem NDR-Podcast mit Christian Drosten sehr gut. Markus Beckedahl spricht mit Korinna Hennig und Katharina Mahrenholtz darüber, wie der Podcast entstand, wie die Produktionsbedingungen sind und wie die Reaktionen des Publikums aussehen. Als positiven Nebeneffekt der Corona-Lage sehen die Redakteurinnen den Aufschwung für den Wissenschaftsjournalismus und die Erkenntnis, dass man den Hörer*innen durchaus lange und auch kompliziertere Inhalte zutrauen darf – und diese das schätzen. Eigentlich wäre ich zu diesem Zeitpunkt schon längst in der Oper oder im Theater – oder in meinem Berliner Lieblingsrestaurant. So koche ich selbst, stelle den Laptop auf meinen (ausgeschalteten!) Toaster und muss mich entscheiden: Pörksen oder Passig? Ich entscheide mich für die Kollaboration zwischen unserer letztjährigen Preisträgerin Kathrin Passig und unserem letztjährigen Nominierten Leonhard Dobusch, um dann festzustellen, dass das Programm auf ASAP 2 wirklich stark verspätet ist.

Vortrag im Schlafanzug

Screenshots des Vortrags von Kathrin Passig und Leonhard Dobusch auf der re:publica 2020.
Screenshots des Vortrags von Kathrin Passig und Leonhard Dobusch auf der re:publica 2020.

So stark, dass der Vortrag des Medienwissenschaftlers Bernhard Pörksen auf ASAP 1 sogar noch davor passt. Es geht um den Vergleich zwischen Corona-Krise, Klimakrise und Flüchtlingskrise und es ist nicht der erste Vortrag von Pörksen, bei dem ich feststellen muss, dass das bestimmt alles sehr klug ist, dass ich bei seinem Duktus aber immer abschweife und nur wenig davon mitnehme. Also doch sofort rüber zu Passig und Dobusch mit „Alles am Internet ist super„, auch um zu sehen, wie nun das Schlafanzug-Oberteil aussieht, das Kathrin Passig anstelle eines ihrer Vortragshemden trägt.

Spoiler: unspektakulär. Der Vortrag mit vielen Slides ist – wie erwartet – witzig und macht klar, dass im Internet früher mitnichten alles besser war. Also für diejenigen, die das dachten. Witzig ist auch die technische Entstehungsgeschichte – allerdings wohl nur für diejenigen, die nicht direkt daran beteiligt waren.

Wann wird gesungen?

Die Passig-Dobusch-Präsentation muss ich dann aber mal stoppen – kann ich ja später noch weiterschauen – um die Verabschiedung zu sehen. Hauptsächlich wegen des von Johnny Haeusler initiierten und geschnittenen „Quaraokes“ von „Bohemian Rhapsody„, das ganz großartig geworden ist. Kurz hatte ich nach seinem Aufruf überlegt mitzumachen – leider kann ich überhaupt nicht singen, das geht nur im Pulk – und mich an die Entstehungsgeschichte dieses inzwischen traditionellen Abschlussliedes der re:publica erinnert: 2010 sollte in der Abschlussveranstaltung der re:publica ein Skype-Interview mit dem Twitter-Gründer Biz Stone stattfinden. Nach mehreren erfolglosen Versuchen meinte Johnny plötzlich, er wollte schon immer mal „Bohemian Rhapsody“ mit so vielen Leuten singen. Wir hatten Spaß! Keine Ahnung mehr, ob das Gespräch mit Biz Stone jemals zustande gekommen ist.

Rituale und Neuerungen

2010 war auch das Jahr, in dem der isländische Vulkan mit dem unaussprechlichen Namen während der re:publica ausbrach. Die Abschlussveranstaltung war sehr voll, denn alle, die fliegen wollten, kamen nicht mehr weg aus Berlin. Und ich war selten so froh, für den nächsten Tag eine Bahnfahrt mit Platzreservierung gebucht zu haben. Überhaupt gehören eigentlich An- und Abreise zum Ritual. Mit welchen Massen von Tweets haben sich alle re:publica-Besucher 2012 wehmütig von Tegel verabschiedet, der kurz darauf geschlossen werden sollte? Jetzt passiert es vielleicht einfach so, ohne noch einmal kollektiv Abschied zu nehmen. Naja, inzwischen fährt man ja auch eher Bahn. Wenn man denn fährt. Zur re:publica zumindest erst nächstes Jahr wieder. Wie schade. Die #rpRemote war wirklich eine inhaltlich wie technisch hervorragend gestaltete re:publica im digitalen Exil. Trotzdem muss ich für mich sagen: Nein. Digital ist nicht das neue Analog. Aber: Noch nie habe ich während einer re:publica meine Abstellkammer aufgeräumt. Bluetooth-Kopfhörern sei Dank.

PS: Was ist eigentlich mit der Tasche? Mein innerer Monk wird nervös, wenn in der Sammlung ein Jahrgang fehlt.

Taschen der re:publicas der vergangenen Jahre. Foto: Vera Lisakowski
Taschen der re:publicas der vergangenen Jahre. Foto: Vera Lisakowski
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