Kein Einzelfall
„NSU-Watch“ ist ein bundesweites Bündnis aus antifaschistischen Einzelpersonen, Archiven und Gruppen, das den Prozess gegen die Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund begleitet und Protokolle der Prozesstage online gestellt hat. Doch „NSU-Watch“ sieht im Ende des NSU-Prozesses kein Ende von rechtem Terror. Sie erstellen weiterhin Analysen, informieren in einem eigenen Podcast, berichten über Untersuchungsausschüsse und andere Prozesse oder über die rechte Szene insgesamt.
Das Online-Angebot der „NSU-Watch“ ist nominiert für den Grimme Online Award 2020 in der Kategorie „Information“. Im Interview erklärt Caro Keller, warum „NSU-Watch“ auch nach Ende des NSU-Prozesses weitermacht und warum jeder in der Verantwortung steht rechten Terror zu verhindern.
Wie kam es zur Gründung von „NSU-Watch“?
„NSU-Watch“ hat sich nach der Selbstenttarnung des nationalsozialistischen Untergrundes gegründet. Als sich im November 2011 gezeigt hat, dass von Neonazis eine Mordserie an neun Menschen mit migrantischem Hintergrund und einer Polizistin begangen wurde, haben sich antifaschistische Gruppen, Archive und Einzelpersonen zusammengefunden, um ihr eigenes Wissen zu den Personen, also Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe und dem ganzen Netzwerk, das sich dort schon in Ansätzen gezeigt hat, zusammenzutragen. Diese Arbeit wurde dann verstetigt, als klar war, dass es einen Prozess geben wird, aber keine offiziellen Protokolle. Daher haben wir uns zu „NSU-Watch“ zusammengeschlossen, um den Prozess und auch die Aufklärung des NSU-Komplexes kritisch zu begleiten, das heißt, wir beobachten die Untersuchungsausschüsse und den Prozess und wollen gleichzeitig unser eigenes Wissen dazu tun und kritisch intervenieren. Anfang 2013 war „NSU-Watch“ dann offiziell gegründet.
Welche Zielgruppe und welches Ziel hat „NSU-Watch“?
Unsere Zielgruppe ist die gesamte Gesellschaft. Wir wollen für das Thema „rechter Terror, Rassismus, rechte Ideologien“ sensibilisieren. Wir wollen, dass dieses Problem bekannt wird und wir wollen, dass die Gesellschaft anfängt, dagegen anzukämpfen. Unser Ziel ist aber gleichzeitig die Stimmen der Angehörigen und Betroffenen in den Vordergrund zu rücken, so dass deren Anliegen und Wünsche und Ziele erreicht werden können. Oft steht da der Wunsch nach Aufklärung ganz vorn.
Wie organisieren Sie eine so umfangreiche Recherche und Berichterstattung?
Wir sind ein antifaschistisches, bundesweites Bündnis, das heißt, wir sind einfach bundesweit relativ viele Personen und wir werfen unser Wissen zusammen. Unser Wissen ist auch in antifaschistischen Archiven vorhanden, wie dem apabiz in Berlin oder dem a.i.d.a. Archiv in München. Dort werden Primärtexte von der extrem Rechten und Fotos, beispielsweise von Aufmärschen, gesammelt. Das ist der Wissensspeicher, auf den wir zurückgreifen können und dann sprechen wir immer wieder miteinander über aktuelle Entwicklungen, aktuelle Terroranschläge, wie den Mord an Walter Lübcke im letzten Jahr, den rassistischen und antisemitischen Anschlag in Halle, den rassistischen Anschlag von Hanau. Wir tauschen uns aus, analysieren das und versuchen mehr über Akteure und Akteurinnen herauszufinden. Als Bündnis funktioniert das ganz gut.
Welche Reaktionen erhalten Sie auf Ihre Arbeit?
Die sind relativ positiv. Was besonders wahrgenommen wird, ist, dass wir kontinuierlich an dem Thema dranbleiben, obwohl wir auch nicht absehen konnten, dass der NSU-Prozess 438 Verhandlungstage dauern würde. Wir waren jeden Tag dort vor Ort, haben jeden Tag Protokolle geschrieben und diese auch veröffentlicht. Das wird wahrgenommen. Und dass wir auch nach Ende des NSU-Prozesses nicht mit dem Themenkomplex abgeschlossen haben, sondern auch rechten Terror etwas allgemeiner und kontinuierlich betrachten, wird ebenfalls wahrgenommen.
Wie gehen Sie damit um, dass viele denken, die NSU-Sache sei abgeschlossen?
Dem etwas entgegenzusetzen, dass so viele Menschen glauben, der NSU sei abgeschlossen, ist Teil unserer Arbeit. Wir weisen darauf hin. Wir wissen leider, dass mit der Selbstenttarnung des NSU rechter Terror nicht aus der Welt geschafft wurde. Es wäre jederzeit mit dem Wissen und der Erfahrung der letzten Jahre, mit dem Wissen über bewaffnete Netzwerke in der Neonazi-Szene, möglich gewesen, rechtem Terror etwas entgegenzusetzen. Das ist nicht passiert. Und dadurch, dass der NSU so weggeschoben wird, bleibt die Gefahr weiteren rechten Terrors.
Daher haben wir uns auch zum Ende des Prozesses der Forderung „Kein Schlussstrich“ angeschlossen. Wir wollen nicht, dass mit Ende des Prozesses und des schriftlichen Urteils ein Schlussstrich gezogen wird und gesagt wird, dass die Aufklärung abgeschlossen ist. Es gibt noch sehr viele offene Fragen zum NSU-Komplex. Wir wollen beispielsweise wissen, wer dem NSU in den jeweiligen Städten die Mordopfer gezeigt hat. Wir gehen davon aus, dass die in allen Städten Helfer*innen hatten. Wir wollen dieses Netzwerk aufdecken, was auch weiterhin gefährlich bleibt. Wir wollen auch, dass die Arbeit der Polizei noch einmal durchleuchtet wird und sich dort etwas ändert. Wir wollen, dass die Arbeit des Verfassungsschutzes offengelegt wird. Warum haben die überhaupt so gehandelt? Warum haben sie die NSU-Morde nicht verhindert? Das wäre an einigen Stellen durchaus möglich gewesen. Wir wollen einfach weiter zeigen, dass der NSU-Komplex nicht abgeschlossen ist. Ganz viele andere bleiben da auch dran. Nicht zuletzt viele der Angehörigen der Ermordeten, die immer wieder die Kraft aufbringen, ihre Forderungen vorzubringen, zu erfahren, wer dafür verantwortlich ist, dass ihr Vater, ihr Ehemann ermordet wurden.
Warum ist es wichtig, ein solches Geschehen aus der isolierten Situation herauszuheben und für die Gesellschaft beobachtbar zu machen?
Wir gehen davon aus, dass rechter Terror kein Einzelphänomen beziehungsweise Einzelfall ist, sondern dass es eine Kontinuität rechten Terrors gibt, eigentlich beginnend mit 1945. Auch vor dem Nationalsozialismus gab es rechten Terror. Das heißt, wir blicken da auf Jahrzehnte von rechtem Terror zurück. Das sind Erfahrungen, die man sammeln könnte, um rechtem Terror etwas entgegensetzen zu können. Gleichzeitig verorten wir das Problem nicht nur in der Neonazi-Szene, sondern wir sehen, dass die ganze Gesellschaft eine Verantwortung trägt.
Wenn man sich den NSU ansieht, waren das eben nicht nur die drei und ihr Netzwerk, die die Morde begangen haben. Auch die Polizei hat nicht in ihre Richtung ermittelt, sondern hat gegen die Angehörigen, gegen die Überlebenden ermittelt. Die Presse hat das auch nicht hinterfragt, sondern beispielsweise Gerüchte über die Ermordeten verbreitet und die Gesellschaft hat eben auch nicht Richtung Neonazi geguckt. Der Verfassungsschutz hat ebenfalls sein eigenes Spiel mit über vierzig V-Leuten im Umfeld des NSU gespielt, das heißt, die gesamte Gesellschaft trägt eine Verantwortung für rechten Terror. Gleichzeitig kann auch die gesamte Gesellschaft die Grundlage für rechten Terror entziehen, indem man beispielsweise rechter Ideologie entgegentritt und indem man gesamtgesellschaftlichen Rassismus aufarbeitet. Dementsprechend richten wir uns an die Gesellschaft, damit sie dem auch nachkommt. Wir haben da alle sehr große Handlungsmöglichkeiten. Das wollen wir mit unserer Arbeit deutlich machen.
Das heißt, wie genau geht es mit NSU-Watch weiter? Was sind die nächsten Pläne?
Wir werden zum einen weiter zum NSU-Komplex arbeiten und zum anderen auch andere Prozesse und Untersuchungsausschüsse zum Thema rechter Terror beobachten. Den Prozess zum Mordfall Walter Lübcke, der in Frankfurt stattfinden wird, werden wir beobachten. Aber wir werden auch den Prozess zum antisemitischen und rassistischen Anschlag in Halle, der in Magdeburg stattfinden wird, beobachten. Diese ganze Arbeit wird weiterhin von dem bundesweiten Bündnis geleistet werden. Rechter Terror hat leider nicht aufgehört und daher haben wir beschlossen, unsere Arbeit fortzusetzen und das ganze Wissen und die Arbeitsweisen, die wir uns in den letzten Jahren angeeignet haben, dort auch einzusetzen.
Das Interview wurde geführt von Marie Jakob und Helen Dreyhaupt
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