Gegen das Vergessen

Screenshot "WDR AR 1933-1945"
Screenshot „WDR AR 1933-1945“

„WDR AR 1933-1945“, ein gemeinsames Projekt des Westdeutschen Rundfunks und der Hochschule Düsseldorf, will Zeitzeugenberichte aus dem Zweiten Weltkrieg hautnah erfahrbar machen – auch rund 75 Jahre nach Kriegsende. Mittels Augmented Reality können nicht nur Schulkinder fünf Zeitzeuginnen bei ihren Berichten im eigenen Klassen- oder Wohnzimmer zuhören und erfahren auf besonders nahe Weise, was ein Kind im Kölner Bunker fühlt, wie sehr die Geräusche der Angriffe auf London bis heute nachwirken und was im Hungerwinter in Leningrad mit den Toten passierte.

Das Angebot „WDR AR 1933-1945“ ist für den Grimme Online Award in der Kategorie „Wissen und Bildung“ nominiert. Im Interview erzählt Maik Bialk von dem großen Eindruck, den die Zeitzeuginnen bei ihm hinterlassen haben und wie wichtig die Zusammenarbeit mit Schulen für das Ergebnis war.

Was war der Anstoß für „WDR AR 1933-1945“?

Eigentlich gab es zwei Anstöße für das Projekt. Zum einen arbeiten wir in der Redaktion schon relativ lange an der Zeitzeugen-Thematik. Das heißt, wir beschäftigen uns mit der Frage, wie man das Erinnern an die Zeit des Nationalsozialismus erhalten kann. Wir haben dazu klassische Dokus, aber auch schon ein Virtual-Reality-Projekt gemacht und sind immer wieder auf der Suche nach neuen Formen, wie man das Erinnern an den Nationalsozialismus ins „Heute“ oder „Morgen“ transformieren kann.

Neben diesem inhaltlichen Interesse treibt uns seit längerem auch die digitale, beziehungsweise die nicht-digitale Situation der Schulen um. Wir waren auf der Suche nach Möglichkeiten des digitalen Unterrichts und der digitalen Wissensvermittlung, die wir Schulen, Lehrer*innen und Schüler*innen bieten können.

Diese beiden Elemente, digitaler Schulunterricht und das Erinnern an den Nationalsozialismus, kamen zusammen, sodass wir vor drei Jahren mit dem Projekt gestartet sind.

Sie haben das Projekt mit Schulklassen zusammen durchgeführt. Wie kam das Projekt bei den Schülern an?

Screenshot "WDR AR 1933-1945"
Screenshot „WDR AR 1933-1945“

Wichtig war uns, dass wir bei dem Projekt nicht erst am Ende mit Schüler*innen und Lehrer*innen zu tun haben, sondern sie schon relativ früh miteinbeziehen. Wir haben früh mit Jugendlichen und auch mit einzelnen Lehrer*innen gearbeitet und richtige Usability-Studien mit ihnen durchgeführt, weil wir nicht so schräg an ihnen vorbei entwickeln wollten.

Von den Lehrer*innen wollten wir genau wissen, was sie wirklich brauchen und was gegeben sein muss, damit es in der Schule auch wirklich funktioniert. Da kam zum Beispiel raus, dass das WLAN in den Schulen häufig nicht funktioniert, weshalb wir uns eine Downloadstruktur überlegt haben. Bei den Schüler*innen muss man natürlich klären, was sie spannend finden, welche Wissensvermittlung sie wirklich haben wollen. Vielleicht kennen sie Dinge, die wir ganz toll finden, schon aus Games und finden sie deshalb jetzt total langweilig. Das heißt, wir haben das iterativ entwickelt und immer Stück für Stück das Feedback einfließen lassen. Mit den Prototypen sind wir wieder in die Schulen gegangen, um die letzten Feinheiten zu klären.

Screenshot "WDR AR 1933-1945"
Screenshot „WDR AR 1933-1945“

Die Rückmeldungen waren noch viel besser, als wir dachten, vor allen Dingen von den Lehrer*innen, weil die etwas gesucht haben, was sie selbst auch gut bedienen können. Auch das ist wichtig, denn wenn sie überfordert sind, bringt es nichts. Für die Schüler*innen war der Vergleichsmaßstab das Schulbuch und der normale Schulunterricht. Die fanden das Projekt super hilfreich. Es ersetzt ganz klar kein Schulbuch, aber als emotionaler Einstieg in ein Gespräch wird die App als ganz toll betrachtet. Die Rückmeldungen der Schüler*innen haben wir richtig als Studie versucht zu fassen, damit wir auch davon lernen können. Sie haben uns Schulnoten gegeben, Einsen und Zweien, aber vor allen Dingen ein relativ ehrliches, konkretes Feedback, dass sie das Angebot wichtig fanden für den Unterricht.

Ist die App nur für Schüler*innen interessant?

Die App ist erst mal für jeden konzipiert. Es kann sich auch jeder runterladen. Und jeder wird auch etwas anderes darin sehen. Wir haben das mit älteren Menschen, mit Menschen, deren Eltern im Nationalsozialismus gelebt haben und natürlich mit Schüler*innen angeguckt. Jeder und jede schaut da ein bisschen anders auf das Gegenüber. Am Ende haben wir uns entschieden, es vor allen Dingen in den Schulen zu platzieren, weil da der Bedarf einfach am größten ist und weil die Schüler*innen die Generation sind, die aufwachsen und im Prinzip gar kein persönliches Erleben, keine persönliche Konfrontation mit Menschen aus dem Nationalsozialismus mehr haben werden. Diejenigen, die jetzt in der sechsten bis neunten Klasse sind, wachsen zu politischen Menschen auf, zu Wähler*innen und Bürger*innen. Und die haben dieses Erleben nur noch abstrakt, da ist der persönliche Bedarf der Auseinandersetzung am größten. Deshalb stehen sie bei uns einfach im Mittelpunkt und wir begleiten das mit Unterrichtsmaterialien und Schulungen der Lehrer*innen.

Aber im Prinzip funktioniert es für jeden und man kann sich die Zeitzeuginnen auch im eigenen Wohnzimmer platzieren. Das Thema spielt ja in jeder Familie in Deutschland mehr oder weniger eine Rolle.

Warum haben Sie sich für AR entschieden?

Wir haben uns für Augmented Reality und die Arbeit mit Hologrammen entschieden, weil wir dem persönlichen Erleben möglichst nahekommen wollten. Unser Leitbild, unser Vorbild, war eigentlich unser eigenes Erleben aus unserer eigenen Schulzeit: eine Zeitzeugin, ein Zeitzeuge besucht uns in der Schulklasse und erzählt aus seinen Erlebnissen im Nationalsozialismus. Wir haben nach Möglichkeiten gesucht, dem möglichst nahe zu kommen. Wir hatten davor ein Virtual-Reality-Projekt gemacht, wo es darum ging, sich dem Erleben von Zeitzeug*innen im Konzentrationslager Auschwitz anzunähern. Aber uns fehlte tatsächlich immer die Einbindung in den echten Raum, in dem man sich bewegt. Das heißt, wir wollten der konkreten Situation, in der eine User*in sitzt, möglichst plastisch nahekommen. Das war der Anstoß, mit dieser Technik zu arbeiten.

Screenshot "WDR AR 1933-1945"
Screenshot „WDR AR 1933-1945“

Als wir mit dem Projekt angefangen haben, gab es gerade eine neue App-Funktion, mit der man den Raum gut tracken und Gegenstände oder Menschen konkret darin platzieren konnte. Diese Technik haben wir genutzt, um damit Geschichten zu erzählen. Es sollte dabei möglichst einfach sein und ohne VR- Brille auf den verbreitetsten Geräten, also Handys und Tablets, funktionieren.

Wie sind Sie auf die fünf Zeitzeuginnen gestoßen?

Der Weg zu den Zeitzeuginnen war ziemlich lang. Wir haben relativ lange recherchiert, auch viel mehr Personen getroffen, uns Interviews angehört und sind am Ende bei den ausgewählten Zeitzeuginnen stehen geblieben, weil sie zum einen sehr gut und sehr plastisch erzählen konnten und zum anderen beispielhaft für viel mehr standen. Bei den Kriegskindern beispielsweise haben wir den Zweiten Weltkrieg anhand von drei Mädchen, beziehungsweise jetzt älteren Damen erzählt, die in London, in Leningrad und hier in Köln leben. Natürlich gibt es viel, viel mehr und auch andere Geschichten. Aber uns war es wichtig, dass da wirklich noch ein plastisches Erleben vorhanden ist. Das ist, ehrlicherweise, bei vielen älteren Menschen nicht mehr da. Wir sind jetzt 75 Jahre nach Kriegsende, sprich, wir reden von Kinder- und Jugenderinnerungen. Das können nicht viele und es sind vor allem die Frauen, die es eher können als die Männer. Das war auch eine Erkenntnis.

Wir haben tatsächlich einfach ganz lange klassisch gesucht. Da war ein Team von Dokumentarfilmern, deren Aufgabe es war, die passenden Geschichten zu finden. Und die sind durch die Gegend gereist und haben klassische Recherche gemacht.

Screenshot "WDR AR 1933-1945"
Screenshot „WDR AR 1933-1945“

Bei Anne Frank war es ein bisschen anders. Da ist es so, dass es weltweit einfach nur noch diese beiden Freundinnen gibt, die wirklich konkret eine Erinnerung an Anne Frank haben. Da war es eher die Schwierigkeit, wie man diese Frauen in ihrem hochbetagten Alter mit Rollator, etc. in ein Green-Screen-Studio bekommt.

Welche Bedeutung hat Ihr eher geschichtliches Projekt mit Blick auf die derzeitige politische Situation?

Für uns ist das Projekt ein Projekt gegen Geschichtsvergessenheit. Als wir mit dem Projekt angefangen haben, haben wir uns in einer politischen Gesamtsituation in Deutschland und Europa befunden, in der eine Menge Menschen Europa als Friedensprojekt in Frage stellen, wo Nationalismus nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern, wieder ein starkes Thema geworden ist. Uns war es wichtig, dass man bei all dem Abstrakten, bei allen Fakten, die man möglicherweise in die Diskussion geben kann, das persönliche Erleben von echten Menschen nicht verliert, das persönliche Gegenüber. Sowas macht etwas mit einem, das ist bei jedem Schüler, jeder Schülerin anders und welche Schlussfolgerung er oder sie daraus zieht, müssen die Schüler*innen dann am Ende wissen. Beziehungsweise ist es Aufgabe der Lehrer, im Diskurs weiter darüber zu sprechen. Wir wollten ein Projekt gegen Geschichtsvergessenheit machen und das persönliche Erleben damit möglichst am Leben erhalten.

Was wird Ihnen aus der Arbeit an dem Projekt am meisten in Erinnerung bleiben?

Am eindringlichsten aus dem ganzen Projekt sind ganz klar die Zeitzeuginnen selbst. Bei allem Interesse und allen Herausforderungen der Technik und allem Stolz, das hinbekommen zu haben, ist es so, dass das persönliche Erleben der Frauen und Männer aus der Zeit an niemandem spurlos vorüber geht. Es ist auch bemerkenswert zu sehen, welch großes Interesse die Zeitzeuginnen selbst haben, ihre Geschichte noch mal loszuwerden. Es ist ja nicht so, dass wir sie überreden und sie dazu nötigen mussten ins Studio zu gehen. Das Gegenteil ist der Fall. Die haben ein ganz, ganz großes Interesse, diese Geschichte noch loszuwerden. Teilweise haben sie die Geschichten noch nie erzählt. Wenn du das dann erzählt bekommst, ist das wie ein persönliches Geschenk. Da sind ganz viele kleine Dinge passiert, da haben ganz viele kleine Erzählungen stattgefunden, die mich, aber auch andere aus dem Team ganz, ganz doll berührt haben.

Man sieht, welche Energie da entsteht bei Leuten, die eigentlich gar keine Kraft mehr haben, die kaum noch aus ihrer Wohnung rauskommen. Man sieht, wie die durch Jerusalem tappen und ihren Rollator ins Studio hieven, weil sie das unbedingt erzählen wollen. Sie wollen diesen kleinen Beitrag noch geben. Das ist so wertvoll und so berührend für einen selbst, das entschädigt für viele Mühen, die in dem Projekt tatsächlich drinstecken.

Wie geht es weiter?

Screenshot "WDR AR 1933-1945"
Screenshot „WDR AR 1933-1945“

Gerade sind wir in den allerletzten Zügen ein neues Kapitel hinzuzufügen. Dabei geht es um das Erleben von jungen Soldaten, die 16-19 Jahre alt waren, als sie noch Teil des Kriegsgeschehens im Zweiten Weltkrieg wurden und vor der Frage des Tötens und des Kämpfens standen. Und die bis jetzt im hohen Alter die Fragen von Schuld und Verantwortung mit sich tragen. Da wird häufig nicht hingeguckt, weil es nicht ganz einfach ist, auch nicht einfach im Urteil. Aber auch das ist wichtig bei der Betrachtung des Krieges. Man muss einfach sehen, Kriege werden von Soldaten, von Männern, von Jungs gefochten. Es geht uns darum zu wissen, was das wirklich konkret bedeutet, wie sich das anfühlt, im Krieg zu sein. Das ist sozusagen eine weitere Episode, die jetzt in den nächsten Wochen fertig wird. Und dann gucken wir mal weiter.

Screenshot Zoom: Maik Bialk im Interview
Screenshot Zoom: Maik Bialk im Interview

Dieses Interview führten Helen Dreyhaupt und Lisa Wolf

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